Irgendwann einmal begegneten wir einem jungen Paar mit Rucksäcken, das auf Reisen war. Meine heutige Frau und ich saßen damals in einem Bordbistro, die beiden stießen dazu und setzten sich in unsere Nähe. Obgleich sie, wie gesagt, Rucksäcke dabei hatten, waren sie doch ausgesprochen keine Rucksacktouristen. Das war vor allem daran zu merken, dass sie offenbar keine Erfahrung mit Rucksäcken hatten, stets in ihnen herumkramten und ihren Gepäckstücken gegenüber desorientiert wirkten. Vermutlich hatten sie in…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
ihren Gepäckstücken gegenüber desorientiert wirkten. Vermutlich hatten sie in ihrer Unerfahrenheit nicht gewusst, wie anders eine solche Reise zu bewältigen wäre als durch Rucksäcke. Sie waren etwa achtzehn Jahre alt.
Der männliche Part sah ein bisschen geleckt aus, jogginghosengeschniegelt. Tatsächlich trug er eine solche, sicherlich eine ganz bestimmte Marke. Streifen an der Seite. Turnschuhe. Ein eher zart geratener Oberlippenbart, Ohrringe, Haare völlig unmöglich gegelt. Jemand, der sich offenbar noch nicht so ganz gefunden hatte und unterwegs war auf den ersten Schritten in eine Art Erwachsenenleben, so wie er sich das vorstellte. Sie war das Pendant dazu. Fortwährend mit ihren Haaren beschäftigt, dem Taschenspiegel, den Lippen. Er hingegen war bemüht, seine Haare möglichst überhaupt vor der Berührung mit der Umwelt, etwa der Kopflehne zu schützen.
Die letzte erste gemeinsame Reise?
Keine Ahnung, wie lange sie schon zusammen waren. Entweder würde diese offensichtlich erste gemeinsame Reise auch ihre letzte sein, oder ihre Komplettnervosität und gegenseitige Totalüberforderung würde sich auf dieser Reise so weit abschleifen, dass ein Weiterzusammenleben anschließend möglich wäre.
Die Emsigkeit des gegenseitigen Tuns begann schon beim umständlichen Hinsetzen. Sie klemmten die Rucksäcke zwischen ihre Knie, versuchten sie dann unter den Tisch zu stellen, suchten nach einer Ablage, öffneten sie, holten ein Portemonnaie heraus, schlossen und verstauten sie wieder und begannen dann, umständlich die Speisekarte zu mustern, als hätten sie noch nie eine gesehen. Wahrscheinlich verrechneten sie jeden Posten darauf mit ihrem gesamten Reisebudget. Kaum hatten sie ein Süßgetränk bestellt (bei der Bestellung blickten sie den Kellner natürlich nicht an, dazu waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt), sagte sie:
„Wo sind denn die Soundso-Riegel (sie nannte irgendeine Süßigkeit), hast du die oder hab ich die?“
„Die hast du doch eingepackt!“
„Nein, die wolltest du einpacken. Schau mal nach!“
Wieder wurde einer der Rucksäcke hervorgeholt, geöffnet, bis in die mittleren Schichten entladen, so dass Pullis, Bürsten, Deos auf den Tisch kamen. Dann tauchte die besagte Süßigkeit auf, und Pullis, Bürsten und Deos wanderten in den Rucksack zurück. So ging es in einer Tour. Dazwischen Gespräche, die eher an Kindergespräche erinnerten.
„Die Mutti hat gesagt, ich soll mir im Zug nach dem Klo immer die Hände waschen.“
„Ich mag hier gar nicht aufs Klo gehen.“
„Wo ist meine Sonnenbrille?“
„Auf deinem Kopf.“
Kinder, die Erwachsensein spielen
Sie ließen sich gegenseitig keine Sekunde in Ruhe, und man merkte: Sie brauchten das, weil es ihre innere Unsicherheit, die das große Abenteuer „Erste Reise allein“ mit sich brachte, zudeckte. Indem sie sich ganz furchtbar auf die Nerven gingen, hielten sie sich aneinander fest, immer noch wie Kinder, die ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind. Die seltsame Anhänglichkeit an die Gegenstände in den Rucksäcken, die sie dauernd hervorholten und wieder verstauten, rührte wohl daher, dass jeder Gegenstand ihnen eine Vertrautheit und Kleinheimat im ganz Fremden zu bieten schien. Ich fand das ganz rührend.
Warum aber taten sie all das? Mit der Zeit begriff ich, dass sie – weil sie gar keine andere Möglichkeit hatten – Reise spielten. Beziehungsweise sie spielten Erwachsensein. Sie taten so, wie sie glaubten, dass man sich verhält, wenn man gemeinsam auf Reisen ist. Zum Beispiel dass man sich mit irgendetwas beschäftigt. Also holte sie ein Magazin hervor, ein buntes Teen-Magazin. Er ein anderes. Offenbar hatten sie einen ganzen Stapel davon eingepackt. Sie schlugen beide die Magazine auf, man merkte, dass sie sich wieder nicht bequem fühlten, wechselten ihre Sitzposition, stopften sich beim Lesen Schokolade in den Mund…
Auch das „Beziehung-Spielen“ gelang noch nicht so.
„Ich hätte das blaue T-Shirt mit den roten Streifen mitnehmen sollen. Jetzt hab ich’s nicht.“
„Jaja, das du mit der Sandra anhattest.“
„Wieso denn Sandra?“
„Ihr habt doch wieder miteinander telefoniert. Dieses fette Monster. Irgendwann kratz ich der die Augen aus.“
„Mann, lass meine Haare in Ruhe, spinnst du oder was?“
Ein Fenster ins frühere Selbst
Meine heutige Frau und ich, wie alt waren wir damals? Mitte dreißig vielleicht. Es gab noch keine Mobiltelefone, damit wären die beiden vermutlich von Anfang an gerettet gewesen oder hätten so etwas Anachronistisch-Analoges wie eine Zugreise sowieso nie unternommen. Heute wären sie sicherlich geflogen und hätten als Reiseziel auch nicht etwas so lächerlich Geringes wie Verona oder München gehabt. Ich legte meine Hand in die meiner heutigen Frau und war seltsam bräsig zufrieden darüber, was wir schon alles hinter uns hatten.
Ich wusste in dem Augenblick mit den beiden Rucksäcklern genau, dass ich früher gar nicht viel anders gewesen war und sie vielleicht deshalb so gut zu verstehen glaubte. Als ich in ihrem Alter war, reiste ich mit meiner damaligen Freundin durch Italien. Auch da spielten wir Reisen. Erwachsensein. Beziehung. In jedem Restaurant taten wir erwachsen und kauften uns dann doch lieber bloß Dosenbier und Panini und setzten uns abseits auf eine Mauer, weil wir uns dann sicherer fühlten und nicht so sehr dem Erwachsenseinmüssen ausgeliefert.
Und wie war es nun, mit Mitte dreißig? Wir gingen lässig in jedes Restaurant, jede Bar, hatten in allem Routine, benutzten die Welt, als sei sie unsre, und sicher schielten damals die Achtzehnjährigen zu uns herüber und werden gedacht haben: Wie wird man so? Kommt das von allein?
Ich, immer noch bräsig, betrachtete die beiden jetzt mit einer gewissen inneren Wärme. Auch wenn ich natürlich niemals Ohrringe getragen, Streifenjogginghosen angezogen oder Teen-Magazine gelesen hatte, so sah ich mich in den beiden nach langer Zeit doch einmal wieder.
Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Für Psychologie Heute hat er über ein Jahr lang jeden Monat das Blaue vom Himmel erdichtet. Das ist seine letzte Kolumne an dieser Stelle. Wir sagen herzlichen Dank für die vielen klugen, ungewöhnlichen Texte, die uns genauso bezaubert haben wie die tollen Illustrationen von Jan Robert Dünnweller. Wer Sehnsucht nach beidem hat, findet alles auch unter: psychologie-heute.de/autor/andreas-maier