Meine neue Klientin, Frau H., schildert mir eine Lebenssituation, die ich recht häufig höre. Sie erzählt, ihr mittlerweile 78-jähriger Vater sei neuerdings auf ihre Hilfe angewiesen. Er leide an einer beginnenden Demenz und lasse außer ihrer Schwester und ihr keine weitere Hilfe ins Haus. Auch die Mutter sei schwerkrank und könne sich kaum um ihren Mann kümmern. Sie habe viele Jahre den Kontakt zu ihrem Vater sehr knapp gehalten, doch nun sei sie gefordert und müsse immer wieder zu ihm. Aber das sei sehr…
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gehalten, doch nun sei sie gefordert und müsse immer wieder zu ihm. Aber das sei sehr schwierig für sie, da ihr Vater sie in der Kindheit oft geschlagen habe, einmal musste sie deswegen sogar im Krankenhaus behandelt werden. Sie wolle ihrem Vater aber vergeben, schließlich sei er jetzt ein alter Mann. Ihre Schwester sage, sie habe ihm bereits vergeben, das müsse sie doch auch hinkriegen. Sie habe schon vieles ausprobiert, um ihm nun endlich verzeihen zu können, habe Mitgefühlsübungen praktiziert und mit einem Seelsorger gesprochen. Doch wenn sie an ihren Vater denke, fühle sie sich nur taub und unberührt. Sie möchte wieder eine positive Haltung ihm gegenüber gewinnen, damit sie sich jetzt um ihn kümmern kann.
Wir sprechen lange darüber, was in ihrer Kindheit passiert ist, über Ereignisse, die über 40 Jahre zurückliegen: Der Vater prügelte, sobald eines der Kinder nicht hundertprozentig parierte. Viel Raum geben wir dem Schmerz des damaligen Kindes: Wie hat sich das kleine Mädchen gefühlt? Sie wünschte sich so sehr eine liebevolle Familie und war erstarrt, wenn der Vater wieder zuschlug. Die Mutter duldete das – zumindest schützte sie ihre Töchter nicht. „Das Schlimmste aber“, sagt Frau H., „war die Angst vor dem Vater. Und über die hat er sich dann auch noch lustig gemacht.“ Also entschied das kleine Mädchen, sollte er die Angst nicht sehen. So wurde sie immer starrer, innerlich taub.
Ich erzähle ihr, dass es sich mit dem Vergeben ähnlich verhält wie mit jeder Form von Annahme und Akzeptanz: Wir können sie nicht willentlich herbeiführen, können uns nicht dafür entscheiden. Sie stellt sich vielmehr ein, wenn wir eine hilfreiche innere Haltung entwickeln und bereit sind, uns auf einen Fühl- und Reflexionsprozess einzulassen. Der wichtigste erste Schritt ist, sich nicht zu einer verzeihenden Haltung zu zwingen, sondern die Empfindungen, die da sind, anzuerkennen. Wenn sie hinreichend gefühlt werden, können sie auch wieder abklingen und Raum für neue Gefühle schaffen. Also erkunden wir ihre Empfindungen und finden Angst, Ärger – und auch Ekel. Und wir entdecken, dass Frau H. sich für diese Gefühle schämt, schließlich sei sie irgendwie ja doch undankbar und eigentlich müsse sie ihn doch lieben.
Willentlich vergeben? Funktioniert nicht!
Ich sage dann noch: „Sie müssen Ihrem Vater gar nicht vergeben. Sie können anerkennen, dass sein Verhalten für das kleine Mädchen damals schrecklich war und es auch für die erwachsene Frau von heute noch Auswirkungen hat. Wenn der Schmerz darüber gefühlt wird und die Selbstfürsorge stärker wird, dann können Sie Ihrem Vater wieder begegnen.“ Ich sage das auch, weil ich weiß, wie viel inneren Stress wir uns oft machen, wenn wir glauben, verzeihen zu müssen, und wie das Schuldgefühl zuschlägt, wenn uns das nicht gelingt.
Wir überlegen nun gemeinsam, wie ein für meine Klientin erträglicher Umgang mit der schwierigen Situation aussehen könnte. Sie möchte ihre Eltern unterstützen und hat den starken Wunsch, dafür zu sorgen, dass es ihren Eltern in ihrer letzten Lebensphase gutgeht. Und sie hat nun verstanden, dass es auch ihr dabei gutgehen muss, denn sonst setzen sich die schrecklichen Erfahrungen ihrer Kindheit fort. Doch sobald sie zu lange bei ihren Eltern ist, gerät sie irgendwann wieder in die Empfindungslosigkeit. Wir vereinbaren, dass sie versucht, ihre Gefühle zukünftig nicht wegzudrücken, wenn sie zu ihren Eltern geht. Das war die Überlebensstrategie des kleinen Mädchens von damals, aber heute ist diese Verhaltensweise nicht hilfreich, sie verursacht nur ein Empfinden von Taubheit und Leere. Stattdessen übt sie, ihre Gefühle zuzulassen. Das ist am Anfang eine große Herausforderung, denn Angst, Ärger und Ekel stellen sich schnell wieder ein. Sie ist Expertin im Wegdrücken von Gefühlen, und sie kann Gefühle auch ausagieren. Aber das Gefühl einfach wahrzunehmen, ohne etwas damit zu tun, das ist ihr neu.
Elternbesuche ohne schlechtes Gewissen
So lernt sie, ihre Gefühle zu fühlen, sie in sich zu tragen und damit anzuerkennen, dass das innere Kind sich nun mal gerade so fühlt. Doch schon bald erkennt sie auch die Chance, denn anstatt sich dumpf zu fühlen, erlebt sie sich jetzt viel lebendiger. Dadurch, dass sie ihre Gefühle jetzt wahrnimmt, hat sie auch eine Richtschnur dafür, wann es ihr zu viel wird. Früher kam sie manchmal von ihren Eltern zurück und war tagelang in einem Zustand von Starre, Verzweiflung und Wut. Das ist nicht mehr vorgekommen, seitdem sie in die Therapie kommt und mit ihren Gefühlen verbunden bleibt.
Sie entscheidet sich, ihre Eltern nicht zu oft und auch eher kurz aufzusuchen. Manchmal ist sie bei ihnen und kann sich auf eine wirkliche Begegnung einlassen, dann sitzen sie zu dritt am Esstisch und reden über früher. Manchmal geht das aber nicht, und meine Klientin übernimmt irgendwelche organisatorischen Dinge und geht dann wieder ohne schlechtes Gewissen. Sie ist in erster Linie liebevoll zu sich selbst und zwingt sich zu nichts. Manchmal kann sie dann auch noch freundlich und unterstützend mit ihren Eltern sein.
Gegen Ende der Therapie stellen wir fest, dass wir in den 18 Therapiestunden letztlich gar nicht viel über Vergebung gesprochen haben. Und wenn, dann vielleicht sogar eher über Selbstvergebung, denn das schlechte Gewissen und die Scham waren Folge einer Anklage gegen sich selbst.