Thomas F., ein etwas mürrischer Architekt, kam wegen seiner stark gefährdeten Partnerschaft zu mir. Er konnte seiner Partnerin seine Gefühle nicht zeigen und wies sogar die ihren oft misstrauisch zurück. Ihn umgebe eine Mauer. Auch ich hatte das Gefühl, nicht wirklich an ihn heranzukommen. Denn erste Gespräche entlasteten ihn zwar, verfehlten aber ein unmittelbares Spüren gegenwärtiger und in der Vergangenheit abgewehrter Gefühle.
„Meine Partnerin hält es nicht mehr aus mit mir, sie will sich trennen.“ Es…
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Partnerin hält es nicht mehr aus mit mir, sie will sich trennen.“ Es war Zeit, auch in der Therapie einen neuen Zugang zu finden. Daher schlug ich ihm eine Psychodramasequenz vor. „Wie auf einer Bühne agieren Sie gemeinsam mit anderen Personen aus Ihrem heutigen Leben, spielen aber auch Belastungen aus Ihrer Kindheit nach, die damit verbunden sein könnten. Während Sie all das noch einmal durchleben, vollzieht sich eine innere Befreiung. Am Ende können Sie das erneut Erlebte in Ihr erwachsenes Ich integrieren. Wir bräuchten noch ein paar Mitspieler. Kennen Sie da jemanden?“ Thomas F. sagte ohne langes Zögern zu und versprach, Freunde mitzubringen.
„Das ist doch alles nur Show!“
Einige Tage später trafen wir uns in meiner Praxis. Zwei Frauen und sein bester Freund begleiteten ihn. Ich führte alle in den Ablauf einer Psychodramasession ein. Anschließend schilderte uns Herr F. eine typische Problemsituation mit seiner Partnerin. Sie wurde unser erster Akt. Er wählte die jüngere Frau für die Rolle seiner Partnerin. Ihn selbst ließ ich auf einem Stuhl Platz nehmen. „Stell dich hinter ihn, umarme ihn zärtlich“, wies ich sie an. Doch sobald sie seine Schultern berührte, zuckte Herr F. zusammen. Er ließ die Umarmung geschehen, saß jedoch wie eingefroren da. Ich hockte mich neben ihn und sagte stellvertretend für ihn in der Rolle eines Doppels leise: „Ich fühle mich total zerrissen.“ „Ja, eigentlich finde ich es toll, wenn sie mich mit Zärtlichkeiten überrascht, aber irgendwie werde ich gleichzeitig total misstrauisch und wütend!“, murmelte er dumpf. „Und am Ende blockieren sich deine Gefühle gegenseitig und du erstarrst“, ergänzte ich in der Rolle des Therapeuten. „Ja!“, nickte er heftig. „Genauso ist es. Die liebt mich doch gar nicht. Das ist doch alles nur Show!“ Die „Partnerin“ erschrak angesichts seiner Heftigkeit, und auch die Zuschauer waren verblüfft.
Ich bat Herrn F., die gleiche Szene noch einmal, nun in der Rolle seiner Partnerin zu durchleben, um ihre Gefühle nachzuempfinden. Danach ließ ich ihm als Zuschauer den gleichen Dialog vorspielen. Erneut arbeitete es heftig in Thomas F.s Gesicht.
Nach einer gewissen Zeit fragte ich ihn, was er sehe. „Der traut der Frau ja wirklich nicht über den Weg. Gott, wie misstrauisch er ist, dass sie ihm alles nur vormacht!“ – „Und was meinst du, Thomas, wieso ist dieser Mann so misstrauisch? Woran erinnert dich das?“ Die Antwort kam spontan: „Bei uns zu Hause war immer nur wichtig, was die Leute denken!“ Die Assoziation zeigte mir, dass wir uns auf dem richtigen Weg befanden. „Okay. Dann schauen wir uns mal an, wie das bei dir zu Hause war.“ Es folgte der zweite Akt, die Aufarbeitung des biografischen Hintergrunds. Dadurch sollte klarer werden, weshalb es einst überlebenswichtig für Thomas F. gewesen war, seine Gefühle abzuspalten. Auf meine Bitte hin schilderte er die emotionale Grundstimmung in seiner Herkunftsfamilie, die Lieblosigkeit seiner Eltern, aber auch die Zugewandtheit und die besondere Fürsorge seiner 14 Jahre älteren Schwester.
Ich, der Schandfleck
„Gibt es vielleicht eine bestimmte Geschichte, in der du schon einmal so erstarrt bist und die dich so extrem misstrauisch hat werden lassen? Wo es gut war, diese Gefühle nicht an dich ranzulassen?“ Erstaunt bemerkten wir, wie Herrn F.s Augen sich mit Tränen füllten. „In welchem Alter siehst du dich gerade?“, fragte ich. „Mit acht, kurz vor meiner Kommunion“, erwiderte er sofort. „Meine Eltern freuten sich gar nicht. Und eines Tages befahlen sie mir, ich solle zum Pastor gehen, um ihm meine Geburtsurkunde zu bringen. Dieses Treffen hat mich total erschüttert.“ Er schilderte es in groben Zügen. „Gut, Thomas, ich würde diese Begegnung gerne nachspielen.“
Zuerst spielten wir nur den Gang zum Pastor. Dabei berührte es uns, wie dieser große, kräftige Mann als kleiner Junge mit hängenden Schultern allein und verunsichert auf dem Weg zum Pfarrhaus durch den Raum schritt. Danach übernahm Herrn F.s bester Freund die Rolle meines Klienten, der selbst den Pastor spielte. Er setzte sich hinter einen Tisch, sah kurz auf die Geburtsurkunde und faltete die Hände. Nach einem langen ernsten Blick auf seinen Freund als achtjährigen Thomas sagte er knapp: „Ich hab dir was zu sagen.“ Der Junge senkte den Blick. „Deine Eltern sind in Wahrheit deine Großeltern. Deine Schwester ist deine richtige Mutter. Deinen Vater kennen wir nicht.“ Er hüstelte. „Es wäre eine zu große Schande für dich und deine Familie gewesen, wenn jeder im Dorf gewusst hätte, dass du das Ergebnis einer flüchtigen Begegnung eines dreizehnjährigen Mädchens mit einem Fremden bist. Deswegen war es das Beste für dich zu glauben, dass du ein spätes Kind aus der Ehe deiner Großeltern bist.“ Er wich dem Blick des Jungen aus, dessen Körper einzufrieren schien. Der Pastor stand auf. „Das war’s. Nun weißt du’s.“
Geballte Fäuste
Erschüttert spürten wir die Kälte, die sich wie eine Mauer um den „kleinen Thomas“ und um uns im Publikum schloss. Nach einer Pause ließ ich diese Szene noch einmal spielen, dieses Mal übernahm Herr F. selbst die Rolle des Achtjährigen. Wir konnten sehen, wie er all seine Gefühle von damals wiedererlebte und sein Körper erstarrte. Beim dritten Mal führten die anderen Herrn F. die Sequenz lediglich vor.
Diese verschiedenen Perspektiven einer Szene im Psychodrama leibhaftig einzunehmen ist bedeutsam und als therapeutische Methode einmalig. Während der letzten Wiederholung sah ich, wie sich Thomas F.s Gesicht rötete und er seine Fäuste ballte. Ich spürte die Wut, die er in diesem Moment erstmals auf seine Großeltern und den Pfarrer zuließ. Es war nun wichtig, die Empfindungen zu benennen und kathartisch herauszulassen, wozu ich ihn ermutigte. „Was heißt hier, es sei das Beste für mich gewesen?“, brach es lautstark aus Herrn F. heraus. „Ich war also ein Schandfleck, ja?! Dreck in der Familie, der vertuscht werden sollte…! Die haben mich eiskalt abgespeist mit ihrer sauberen Wahrheit. Belogen haben sie mich. Das Beste für mich…“ Er lachte höhnisch. „Denen war scheißegal, wie es mir damit geht. Die wollten nur sauber bleiben!“
Auf meine Frage, was er sich denn stattdessen gewünscht hätte, antwortete er: „Lieb haben hatten sie mich sollen, einfach nur liebhaben. Und zu der ganzen Sache stehen, auch fur meine Schwester.“
„Lass mich!
Tranen liefen ihm uber die Wangen. „Hast du Mitleid mit dem kleinen Jungen?“, fragte ich ihn. Er nickte. Statt dem „kleinen Thomas“ Trost zu spenden, ließ ich ihn in einer weiteren Szene allein und vollkommen schockiert durch das Dorf nach Hause laufen, wo seine Großeltern auf ihn warteten und ebenso verkundeten: „Jetzt weißt du’s. Mach dir nichts draus, so ist es am besten!“ Seine Mutter, die Thomas bisher fur seine Schwester gehalten hatte, kam hinzu und wollte ihn in den Arm nehmen, wurde jedoch barsch von ihm zurückgestoßen. Das erinnerte uns im Raum an den ersten Akt mit seiner aktuellen Partnerin. „Lass mich!“ Er konnte ihre Zuneigung, die ihm sonst so wohlgetan hatte, in diesem Moment nicht erwidern.
Ein Psychodrama lässt man stets in der Gegenwart beginnen und enden. Im dritten Akt sollte der erwachsene Thomas F. mit seiner „Partnerin“ erneut zusammenkommen. Als sie ihn spontan ohne meine Anweisung einfach umarmte, hingen seine Fäuste schlaff herunter. Diese Szene war so nicht stimmig. Deshalb bat ich beide, noch einmal zurückzugehen. Nach einer quälend langen Stille löste Thomas F. sich plötzlich aus seiner Erstarrung. Langsam, als wäre jeder Schritt eine Überwindung, ging er auf seine „Partnerin“ zu, und von mir aufgefordert, erzählte er noch einmal seine Geschichte, wie er sich als Kind gefühlt hatte und er so unsicher und so misstrauisch geworden war. In keiner unserer bisherigen Sitzungen hatte ich ihn so lange am Stück reden hören. Und auch für seine Freunde zeigte sich erstmals ein ganz anderer Mensch. Es dauerte Minuten, bis er sie erreichte. Ein wenig umständlich nahm er sie in die Arme: „Dir muss ich nicht misstrauen“, flüsterte er.
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Martin Rauh-Köpsel ist Tiefenpsychologe, Psychodramatherapeut und -ausbilder, Professor für Psychologie und Dramaturgie sowie Filmberater. Der Text ist eine stark gekürzte Fassung einer von 54 ungewöhnlichen Fallgeschichten aus seinem neuen Buch Sie müssen da nicht allein durch! (mit Manuela Runge, Eden Books 2021)