Menschen verstehen wie die Profis

​Fünf Psychotherapeuten beschreiben Techniken und Haltungen, um andere Menschen besser zu verstehen. Und sie erklären, wie wir sie nutzen können. ​

Die Illustration zeigt einen Psychotherapeuten mit einem Stift in der Hand, der einen Klienten behandelt
Die verschiedenen Psychotherapie-Schulen blicken unterschiedlich auf den Menschen – der Versuch, ihn zu verstehen, eint sie jedoch. © Francesco Ciccolella

Sobald wir uns ein Bild von einem Gegenüber machen wollen, stützen wir uns auf unsere Men­schenkenntnis: auf die Fähigkeit, andere rasch, intuitiv und nach bewährten Faustregeln einzuordnen. Und tatsächlich sind wir in diesen schnellen Urteilen zunächst gar nicht schlecht: Zahlreiche Studien – etwa die der Psychologen Alex Jones und Jeremy Tree von der Swansea University – haben gezeigt, dass Menschen Persönlichkeitsmerkmale wie den Grad der Verträglichkeit oder der Aufgeschlossenheit allein anhand von…

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haben gezeigt, dass Menschen Persönlichkeitsmerkmale wie den Grad der Verträglichkeit oder der Aufgeschlossenheit allein anhand von Fotos treffend einschätzen können.

Doch was auf der Kurzstrecke – für flüchtige Begegnungen und den ersten Kontakt – funktionieren mag, versagt auf der Langstrecke, also in den uns wichtigen und gewachsenen Beziehungen. Wenn wir wissen wollen, warum unser Partner manchmal so verletzend schroff reagiert, wieso die Arbeitskollegin ständig laut telefoniert oder ob ein neuer Bekannter ein verlässlicher Freund werden kann, ist es wichtig, genauer hinzuschauen.

Wenn Psychologinnen versuchen, das Innenleben der anderen besser zu verstehen, verlassen sie sich beispielsweise nur selten auf das berühmte Bauchgefühl. Entgegen den gängigen Klischees – „Psychotherapeuten können Menschen durchschauen und wissen sofort, wie andere ticken“ – gehen Profis oft eher tastend vor und hinterfragen ihre ersten Eindrücke von anderen immer wieder. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist Menschenkenntnis störanfällig. Zahlreiche Studien belegen, dass wir beim Einschätzen anderer systematisch Fehler machen.

Die blinden Flecke sichtbar machen

Bekannt ist etwa der Attraktivitätsfehler, der darin besteht, dass man schöne Menschen für intelligenter und fähiger hält, als sie sind. Solche Verzerrungen sieht man aber nur, wenn man die üblichen Fallen bei der Bewertung anderer Menschen kennt und im Blick hat. Der zweite Grund: Wer wirklich begreifen will, was andere umtreibt und ausmacht, tut gut daran, sich von dem Wunsch zu verabschieden, sie in einer Art Profiling-Modus perfekt einordnen zu wollen. Denn Verstehen und Verständnis sind ein Prozess. Das erfordert, dass man sich Zeit lässt, genauer guckt und akzeptiert, dass sich Fragen auftun und man Widersprüchliches entdeckt.

Auf den folgenden Seiten kommen Vertreter der geläufigsten Therapieschulen zu Wort: ein Verhaltenstherapeut, ein Systemiker und ein Tiefenpsychologe, der mit dem Fokus aufs Unbewusste die Idee der psychodynamischen Verfahren vorstellt wie etwa in der Psychoanalyse; außerdem präsentieren ein Körpertherapeut und eine Gestalttherapeutin ihre Konzepte. Sie alle betonen, wie wichtig es ist, sich selbst zu kennen, um andere zu verstehen.

Wer um seine blinden Flecken weiß, etwa dass er bestimmte Gefühle nicht gut erträgt, kann gezielt auf diese Aspekte achten. Auch stützen sie sich auf Offenheit, Langsamkeit, Genauigkeit, Empathie und eine fragende Haltung. Der Psychotherapeut und Supervisor Andreas Knuf sagt dazu: „Viele Menschen haben mittlerweile psychologische und sogar klinische Begriffe im Kopf und ordnen andere im Alltag danach ein. Solche Urteile stehen dem Verstehen oft eher im Weg. Wenn Sie wissen wollen, was in anderen vorgeht, was sie beschäftigt und antreibt, kann es hilfreich sein, auch erst mal einfach zuzuhören, sich ins Gegenüber einzufühlen.“

Das Unbewusste entschlüsseln

wie Sven Ustorf, tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapeut, Hamburg

Wie versuchen Sie, andere zu verstehen? In der Tiefenpsychologie gehen wir davon aus, dass es „das Unbewusste“ gibt – eine Anzahl von Motiven, Wünschen, Gefühlen, die Menschen stark prägen, in die sie jedoch keine Einsicht haben. Das Verhältnis von bewusst und unbewusst wird oft mit dem Bild eines Eisbergs verdeutlicht: Man sieht von einer Person wie vom Eisberg immer nur den kleinen Teil, der größere, unbewusste Teil liegt unter der Oberfläche – andere und auch die Person selbst können ihn nicht direkt erschließen. Dass es überhaupt so große unbekannte Bereiche in der Persönlichkeit gibt, liegt daran, dass man sich vor Gefühlen wie Angst, Ärger, Ohnmacht und bedrohlichen Erkenntnissen schützen will.

Verschiedene Schutzmechanismen helfen, diese unbewussten Teile immer wieder zu verdrängen. Ein Beispiel für einen Abwehrmechanismus ist die Projektion: Jemand verdrängt bei sich selbst eine bestimmte unangenehme Empfindung, zum Beispiel Neid oder Aggression, und nimmt diese dann stattdessen verstärkt bei anderen wahr. Solche Schutzmechanismen setzt jeder ein, das ist normal. Wenn man sich selbst oder andere besser verstehen will, kann man sich also immer mal wieder fragen, in welchen Situationen Abwehrmechanismen am Werk sein könnten, warum sie da sind und was sich dahinter verbirgt.

Welche konkreten Techniken wenden Sie an? Unbewusste oder abgewehrte Inhalte zeigen sich in allen Beziehungen, auch im Kontakt zur Therapeutin oder zum Therapeuten. Für mich ist es deshalb wertvoll, genau wahrzunehmen, was passiert, wenn jemand zum ersten Mal meine Praxis betritt, und wie er die Beziehung zu mir aufnimmt. Es kann sein, dass eine Patientin hereinkommt und sofort sagt: „Hey, Sie haben es aber schön, hier fühle ich mich wohl.“ Ich frage mich dann, weshalb sie das tut: Vielleicht mag sie die Fremdheit einer ersten Begegnung nicht, vielleicht meint sie, sie müsse anderen sofort ein gutes Gefühl geben und Stimmung machen, vielleicht sucht sie Nähe.

Jetzt kommt aber etwas Wichtiges: Ich versuche, genau mitzukriegen, was sich in der Beziehungsaufnahme abspielt, welche Gefühle dabei in mir entstehen und welche Fantasien sich bei mir entwickeln. Aber ich werte erst einmal nicht, bilde mir kein Urteil. In den nächsten Sitzungen geht es vor allem darum, Patienten zum Reden zu ermutigen. Ich sage oft: „Erzählen Sie es so, wie es Ihnen in den Kopf kommt, auch wenn es ungeordnet ist.“ Die Haltung, die ich dabei einnehme, ist die „gleichschwebende Aufmerksamkeit“. Ich versuche, alles wahrzunehmen, allem, was eine Patientin sagt, die gleiche Wichtigkeit beizumessen, jeder Äußerung, jeder Situation, denn ein unbewusster Konflikt kann sich überall zeigen. Häufig offenbart sich in einer kleinen Anekdote mehr als in der dramatischen Schilderung einer Lebensgeschichte.

Denn über die Schwierigkeiten in der eigenen Biografie haben viele Menschen schon oft geredet, sie erzählen eine abgeschlossene Geschichte, die dahinterliegenden Konflikte, Gefühle oder die unbewussten unbewältigten Beziehungserfahrungen sind dann gar nicht mehr greifbar. Die kleinen Schwierigkeiten des Alltags dagegen gehen viele unvoreingenommen an – und dort sieht man persönliche Muster und Schutzmechanismen oftmals deutlicher. Ob jemand eher forsch oder vorsichtig den Raum betritt, ob jemand zu spät reinrauscht oder früher da ist, all das gibt Hinweise auf persönliche Muster, auf bevorzugte Arten, sich zu zeigen oder vor Schmerz zu schützen.

Was können Laien für den Alltag übernehmen?

Auch im Alltag kann man das Wissen nutzen, dass Menschen nicht nur aus dem bestehen, was ihnen bewusst ist, sondern manches unbewusst abläuft. Man versteht sie besser, wenn man nicht nur auf das hört, was sie mit Worten und bewusst sagen, sondern auch alles andere registriert, was sich im Kontakt abspielt: Wie bewegt sich die Person, welche Position nimmt sie in einer Gruppe ein, wo bestehen Widersprüche in dem, was sie sagt und tut? Solche Inkongruenzen sind ein Schlüssel, denn sie zeigen oft, wie die bewussten, vordergründigen Aspekte und die unbewussten Aspekte miteinander ringen.

Wenn Sie irritiert sind, ist das eine Aufforderung, genauer hinzuschauen. Angenommen, Sie treffen einen Bekannten auf der Straße, der erzählt, dass jemand aus seiner Familie schwer krank ist, vom Tod bedroht. Aber statt sich traurig zu zeigen, lächelt der Mann beim Reden. Nun könnte man denken: Der ist aber herzlos. Schaut man sich aber den Widerspruch genauer an, nämlich dass die Person innerlich sicherlich besorgt ist, aber trotzdem lächelt, könnte man einen Abwehrversuch vermuten: Hinter dem Lächeln verbergen sich Traurigkeit und Angst. Wenn man einen solchen Widerspruch registriert, wäre es im Alltag unangemessen, ihn direkt anzusprechen. Aber man kann Trost anbieten oder schlicht fragen: „Wie geht es dir eigentlich?“ Oft halten Menschen dann inne, kommen in Kontakt mit ihren Gefühlen und sagen: „Na ja, nicht so gut.“

Anregung In der Freizeit und beim Sport passiert es oft, dass Menschen Niederlagen rationalisieren und abwehren. Wenn Sie verstehen wollen, wie Abwehr funktioniert, können Sie auf solche Situationen verstärkt achten. Neulich habe ich mich mal wieder selbst dabei ertappt: Ich spielte mit einem Freund Schach und habe verloren. Im gleichen Moment, in dem mein König fällt, höre ich mich sagen: „Nun gut, ich hab zu viel Grünkohl gegessen und konnte nicht denken.“ Und mein Freund guckt mich nur an, fängt an zu lachen und sagt: „Alles klar, es war der Grünkohl.“ So ein humorvoller Umgang mit den Abwehrmechanismen der anderen kann im Alltag helfen. Sie signalisieren dem Gegenüber dann: Ich verstehe dich schon. Ich kenne das. Aber ich lass mir jetzt mein gutes Gefühl auch nicht verderben.

Literaturtipp Irvin D. Yalom: Der Panama-Hut oder Was einen guten Therapeuten ausmacht. Btb, München 2010

Das Umfeld einbeziehen

wie Björn Enno Hermans, systemischer Therapeut, Essen

Wie versuchen Sie, andere zu verstehen? Es ist für uns Systemiker und Systemikerinnen zentral, den Fokus nicht nur auf die Person zu legen. Wenn ich ein Problem oder die Lage einer Klientin verstehen will, dann versuche ich, einen Schritt zurückzutreten und mir ein Bild von der gesamten Situation zu machen, vom System der Beziehungen und Einflüsse. Als Supervisor bin ich beispielsweise oft in Teams unterwegs, und andere Therapeuten stellen mir Fälle vor. Angenommen, es geht in der Supervision um eine Frau mit Alkoholproblemen. Ich frage dann sofort nach, wie die Frau lebt, ob sie Kinder hat, einen Partner oder wer sie unterstützt. Oft erlebe ich dann, dass die Teams, mit denen ich arbeite, diese Informationen über ihre Patienten gar nicht umfassend betrachten, sie fokussieren sich mehr auf das Problem, hier zum Beispiel die Sucht.

Oder sie erkunden gemeinsam mit der Patientin, was sich im Innenleben abspielt, zum Beispiel Zweifel, Schuldgefühle, Hoffnungen und so weiter – was zweifellos ein bedeutsamer Fokus ist. Auf diese Weise vernachlässigt man vielleicht aber die vielen wichtigen Informationen über das Umfeld, über das System, in dem eine Person lebt und in dem sie sich entwickelt. Es hilft also, den Blick zu öffnen und alle Einflüsse und Ressourcen anzugucken. Als systemischer Therapeut will ich verstehen, wie ein Symptom, etwa der Alkoholmissbrauch, zustande kommt, was im Netzwerk um die Person herum passiert. Je mehr Einflüsse – sowohl positive als auch negative – ich wahrnehme, desto mehr Möglichkeiten für eine Veränderung kann ich erkennen und anregen.

Wenn ich etwa sehe, dass der Griff zum Alkohol seltener wird, wenn die Frau Urlaub hat und nicht so belastet und gehetzt ist, sehe ich das als einen wichtigen Hinweis. Wenn ich dann noch wahrnehme, dass sich die Kinder immer dann zurückziehen, wenn die Mutter trinkt, und die Probleme sich dann in der Paarbeziehung verstärken, ist auch das ein wichtiger Schlüssel. Ich kann also an verschiedenen Punkten ansetzen, verschiedene Hinweise wahrnehmen. Eine grundsätzliche Orientierung bieten die Ziele und Aufträge der Klientinnen, zusammen mit den Annahmen über die bedeutsamen Wechselwirkungen in einem System.

Das heißt aber auch: Einfache kausale Erklärungen, warum eine Person so oder so ist, greifen für mich zu kurz, etwa wenn jemand sagt: „Weil der Mann arbeitslos ist, trinkt die Frau.“ Es geht vielmehr darum, die Komplexität der Geschehnisse zu würdigen, möglichst viele Wechselwirkungen und Perspektiven zu betrachten und den Klienten auf dieser Grundlage neue Möglichkeiten anzubieten.

Welche konkreten Techniken wenden Sie an? Fragen sind ein gutes Instrument. Bei der Technik des zirkulären Fragens versucht man, die Menschen einzuladen, auch andere Perspektiven einzunehmen und sich in andere hineinzuversetzen. Statt nur zu fragen: „Was denken und fühlen Sie heute?“, stelle ich Fragen, die die Klientin ermuntern, die Perspektiven der anderen im System einzunehmen. Das könnte zum Beispiel sein: „Was würde mir Ihr Partner sagen, wenn ich ihn frage, wie es Ihnen momentan geht?“

Oder: „Welchen Rat würde Ihre beste Freundin Ihnen jetzt geben?“ Oder auch hypothetisch: „Was wäre zu Hause anders, wenn Sie das Problem nicht mehr hätten?“ Das sind Versuche, durch neue Perspektiven auch neue Möglichkeiten für Veränderungen anzuregen. Diese Fragen bringen nicht nur mir ein vollständigeres Bild, vor allem die Klientin bekommt einen Anstoß, nimmt unerwartete Blickwinkel ein, sieht vielleicht Einflüsse, die ihr vorher gar nicht aufgefallen waren.

Was können Laien für den Alltag übernehmen? Es macht einen großen Unterschied im Prozess des Verstehens, wenn man statt suggestiver oder geschlossener Fragen häufiger mal offene Fragen stellt: Wenn der Partner abends eine Situation von der Arbeit schildert und zum Beispiel erzählt, dass er sich über eine Kollegin geärgert hat, und man selbst nicht so richtig begreift, was sich dort eigentlich abgespielt hat, kann man mit offenen Fragen auch eine Art kleinen Suchprozess anregen, kann gemeinsam forschen, was da los ist. Statt zu fragen: „Hat sie dich wieder geärgert?“, könnte man offen fragen: „Womit hat sie dich verärgert?“ Oder: „Was genau war das für eine Situation?“ Oder: „Was würde denn eigentlich die Kollegin dazu sagen?“

All diese Fragen öffnen den Raum und erweitern den Blickwinkel. Oft passiert es dann, dass das Gegenüber ins Reden kommt oder auch innehält, auf eine Frage nicht sofort eine Antwort weiß. Das ist ein gutes Zeichen: Jemand denkt nach, ist irritiert, überlegt, sucht nach einem neuen Pfad. Die Antwort, die dann kommt, ist oft interessant, beinhaltet etwas Neues. Man versteht dann vielleicht den Konflikt besser, den der andere hat, aber man ahnt vielleicht auch, mit welchen Überzeugungen und Vorstellungen er bisher in Konflikte bei der Arbeit gegangen ist. Wenn Sie sich unsicher sind, wie solche offenen Fragen aussehen, können Sie sich einfach an Fragesätzen entlanghangeln, die mit „wie, wann, was, wo, weshalb, wozu,…“ beginnen. Diese sind immer produktiver als geschlossene Fragen, auf die man nur mit ja oder nein antworten kann.

Anregung Vor allem bei der Arbeit, wo man mit Leuten oft eng zusammensitzt, sie aber nicht sehr gut kennt, kommt es immer wieder vor, dass man das Verhalten anderer nicht versteht, dass man es zum Beispiel nervig findet, wenn ein Kollege immer wieder pedantisch darauf hinweist, dass die Kaffeeküche dreckig ist. Wenn Sie sich in solchen Situationen quasi eine systemische Brille aufsetzen, könnten Sie, statt zu sagen: „Die Person nervt“, oder: „Die Person ist ein Pedant“, eher offen herangehen und sich fragen: „Was könnte sie damit erreichen wollen? Was ist ihr wichtig?“ Sie kommen dann automatisch auf ganz andere Antworten und verstehen mehr von dem, was diesen Kollegen umtreibt. Vielleicht sucht er Kontakt, hält das Team über dieses Thema zusammen, vielleicht findet er sonst kein passendes Thema mit den Kolleginnen und hat sich dieses ausgesucht. Eine solche Haltung finde ich hilfreich. Der Systemtheo­retiker Niklas Luhmann formulierte es einmal so: „Vertrauen ist die Bereitschaft, den Mut zu haben, das Risiko einzugehen, dem anderen eine gute Absicht zu unterstellen.“

Mit allen Sinnen wahrnehmen

wie Ulfried Geuter, Körperpsychotherapeut, Berlin

Wie versuchen Sie, andere zu verstehen? Körper und Psyche sind eine Einheit – diese Annahme ist für Körperpsychotherapeuten und -therapeutinnen zentral. Was wir körperlich wahrnehmen, steht in Verbindung zu dem, was im Kopf oder in der Seele passiert, es ist immer eine Ergänzung zu dem, was wir fühlen und denken. Im Therapieprozess ist es daher hilfreich, wenn wir die Aufmerksamkeit auf die Körperwahrnehmung lenken. Die Empfindungen, die Patienten dann entdecken, zum Beispiel eine Enge in der Brust oder ein Kribbeln im Bauch, ermöglichen oft einen zusätzlichen und unmittelbaren Zugang zu dem, was gerade ist.

Das heißt aber nicht, dass Körperpsychotherapeutinnen in Sitzungen mit ihren Patienten permanent Körperübungen machen. Erst einmal wird gesprochen, und im Gespräch versucht man gemeinsam zu schauen, welche Themen wichtig sind, was jemand mitbringt, was bedrückend oder belastend ist. In den therapeutischen Prozess beziehe ich dann nicht nur die körperliche Selbstwahrnehmung der Patienten ein, sondern auch körperliche Signale und Veränderungen, die ich beim Gegenüber wahrnehme. Bisweilen teile ich einer Patientin auch mit, was ich selbst gerade spüre und empfinde – zum Beispiel dass sich bei ihrer Schilderung mein Magen zusammenzieht oder Ähnliches. Manchmal ist das für ein Gegenüber hilfreich. Die Rückmeldung kann dann dazu führen, dass Patienten das aufgreifen und darüber etwas besser verstehen, was bei ihnen selbst gerade geschieht.

Welche konkreten Techniken wenden Sie an? Mir ist es wichtig, einen Raum für das Wahrnehmen der körperlichen Empfindungen, der Gefühle, Gedanken und inneren Bilder zu schaffen. Mein Ausgangspunkt ist der Mensch als erlebendes Subjekt. Es geht also darum, über das eigene Erleben mitzubekommen, was etwas für einen bedeutet. Es kann beispielsweise passieren, dass eine Person, die vorher ganz lebhaft erzählt hat, mit mir über ihre Partnerschaft spricht und dabei plötzlich eine brüchige oder gehetzte Stimme bekommt. Das spreche ich dann an und lenke die Wahrnehmung auf diesen eher körperlichen Ausdruck.

Oft nimmt die Person das Angesprochene dann erst wahr und bekommt so einen Zugang dazu, dass irgendetwas nicht stimmt, dass sie sich beispielsweise Sorgen macht oder verletzt ist. Wie sehr insbesondere die Stimme auch Stimmungen und Schwingungen transportiert, bekommen Sie schnell mit, wenn Sie sich selbst beobachten und erleben, wie sich der Ton verändert, je nachdem ob Sie über etwas sprechen, das Sie verletzt hat, oder über etwas, das Sie erfreut. Auch eine andere Art der Körperäußerung ist relativ leicht zugänglich, die sogenannten ideomotorischen Signale. Das sind unbewusste Bewegungen, etwa das Wippen mit dem Fuß, das Ballen einer Faust oder das Streicheln der eigenen Hand.

Auch solche Impulse greife ich in der Therapie zuweilen auf und schlage den Patienten vor, dort hinzuspüren und zu fühlen, was sich da abspielt – häufig teilen sich auf diesem Weg noch nicht bewusste Emotionen oder Bedürfnisse mit. Man kann auch versuchen, mit solchen motorischen Abläufen zu experimentieren – eine Geste größer oder kleiner, zarter oder gröber zu machen. Dann spürt man, was möglicherweise in der Bewegung steckt oder welche Intensität für einen gerade stimmig ist. Probieren Sie das doch einmal selbst aus, wenn Sie sich im Alltag bei solchen Bewegungen ertappen!

Was können Laien für den Alltag übernehmen? Man kann durchaus lernen, feinfühliger zu spüren, wie man sich gerade fühlt, was eine Situation auslöst, was man bei einem Gegenüber wahrnimmt. Aufmerksam zu sein für das, was gerade im Moment geschieht, ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt Menschen, die wandern durch die schönste Landschaft und bekommen wenig davon mit, andere empfinden alles genau. Durch den verstärkten Fokus auf Körperwahrnehmungen entwickelt man noch mal ganz andere Antennen.

Dann schaue ich zum Beispiel auf ein Kind, das durch ein Zimmer tobt, und statt sofort zu sagen: „Hör auf zu toben“, spüre ich dem erst einmal nach: Wie fühlt sich das an, so rumzuspringen? Vielleicht spürt man dann, dass da eine Riesenenergie ist, vielleicht registriert man auch einen Druck. Der Blick auf den eigenen Körper hat etwas verändert, gibt zusätzliche Eindrücke und manchmal einen Zugang zur Psyche frei. Oder Sie sehen eine Person, die ganz gebeugt dasteht, und versuchen, sich in diese hineinzuversetzen, sich zu fragen, wie sich jemand fühlt, der sich so in der Welt hält. Sie müssen die Haltung dazu nicht nachahmen, aber es hilft, sich versuchsweise mental in solch eine Haltung hineinzuversetzen.

Wovor ich warnen möchte: stereotype Deutungen von Mimik, Gestik oder Haltungen. Sie greifen oft zu kurz. Man kann nicht sagen: „Eine Person, die ihre Arme verschränkt, ist ablehnend.“ Oder: „Wer gebeugt geht, hat kein Selbstvertrauen.“ Wir wissen nicht, ob die Person die Arme nicht nur verschränkt, weil sie es bequem findet, und dass sie gebeugt geht, weil sie Rückenschmerzen hat. Es lohnt sich, die Ebene der scheinbar eindeutigen Körpersprache, wie man sie aus Flirtratgebern kennt, zu verlassen und tiefer in den Prozess der Wahrnehmung einzutauchen.

Anregung Der Atem ist ein zentraler körperlicher Prozess. Die Verbindung mit dem eigenen Atem hilft dabei, sich körperlich deutlicher zu spüren. Außerdem erhält man auch einen guten Zugang zu anderen Menschen, wenn man den Atem- und Sprechrhythmus des Gegenübers mit erfasst. Manche Leute sprechen zum Beispiel sehr schnell und atemlos, man erahnt, dass dahinter eine Emotion oder eine Stimmung steckt, zum Beispiel Hektik, Wut oder Unbehagen.

Es kann auch sein, dass Sie, wenn Sie einer atemlos redenden Person zuhören, selbst nervös oder konfus werden. In solchen Momenten haben Sie sich von der Ausdrucksart der Person anstecken lassen, bekommen viel mit von ihr. Das heißt nicht, dass Sie nun zu hundert Prozent wissen, was mit dem Gegenüber los ist. Aber Sie haben ein Signal, eine zusätzliche Information, die einen Zugang ermöglicht, es besser zu verstehen.

Literaturtipp Ulfried Geuter: Praxis Körperpsychotherapie. 10 Prinzipien der Arbeit im therapeutischen Prozess. Springer, Berlin 2019

Die Einzigartigkeit suchen

wie Johanna Müller-Ebert, Gestalttherapeutin und Tiefenpsychologin, Düsseldorf

Wie versuchen Sie, andere zu verstehen? „Werde, wer du bist.“ Das ist einer der Grundsätze der Gestalttherapie. Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch erkennen kann, wer er ist, und dass er seinen Weg auch selbständig beschreiten kann. Der Wille einer Person und die Stärke, sich dorthin zu entwickeln, wo für sie zentrale Themen liegen, sind dabei wichtige Antriebskräfte. Ich vertraue darauf, dass Menschen mit etwas Hilfe selbst herausfinden können, was in ihrem Leben gerade ansteht, welche Bedürfnisse für sie wichtig sind oder was sie vermissen. An diesen Leerstellen oder Sehnsüchten kann man ansetzen und ihnen nachgehen.

Therapeuten und Therapeutinnen sehen sich als eine Art Hebamme oder auch als Bergführer, die gemeinsam mit den Klienten maßgeschneiderte Lösungen suchen. Damit dies gelingt, braucht man als Gegenüber im Gespräch eine unbedingte Neugier und Offenheit, weil man davon ausgeht, dass jeder Mensch anders fühlt und etwas anderes braucht und deshalb auch eigene Wege finden wird. Diese Grundhaltung hat noch weitere Konsequenzen: Ich bewerte die andere nicht danach, welche Schwierigkeiten sie hat, sondern danach, was sie sich wünscht, wo es sie hinzieht.

Das heißt aber auch, dass ich verstehen will, was Menschen daran hindert, sich nach ihren Bedürfnissen zu richten, und wo der Wille in ihrer Bio­grafie blockiert oder gebremst wurde. Viele Menschen waren in ihren Familien nicht erwünscht, so wie sie waren, und mussten sich anpassen, sind gebremst vielleicht sogar gebrochen worden. Wenn diese verzagten, früh blockierten Anteile sichtbar werden, kann man von dort aus mehr verstehen – und der Gesprächspartner kann sich weiterentwickeln.

Welche konkreten Techniken wenden Sie an? Es kann darum gehen, innere Anteile oder Zustände zu verdeutlichen, zum Beispiel Empfindungen, die man früher als Kind gehabt hat. Wir versuchen, sie sichtbar zu machen, indem wir diese inneren Anteile nach außen bringen. So können wir besser verstehen, wo die Kräfte und Wünsche einer Person liegen und wo ihre Hemmungen wirken. Häufig ist dabei eine Übung mit zwei Stühlen hilfreich. Ein Beispiel: Ein Mann war als Kind Linkshänder und ist umerzogen worden, musste also mit rechts schreiben. Das ist für viele Menschen eine Erfahrung, die mit Zwang, Angst und Wut verbunden ist.

Das Umlernen im Grundschulalter haben viele als eine Situation erlebt, in der ihnen eine Lehrerin ihren Willen aufgezwungen hat. Dieser Mann könnte jemand sein, der bis heute in manchen Situationen mit Autoritäten gehemmt oder bockig reagiert. Jetzt kann ich in der Stuhlarbeit gemeinsam mit ihm herausfinden, welche Anteile hier wirken. Ich bitte den Mann, sich erst auf den einen Stuhl zu setzen, um zu spüren, wie er sich jetzt gerade als Erwachsener fühlt. Dann setzt er sich auf den anderen Stuhl und versucht, die Gefühle aus der Kindheit zu erinnern, als er auf das Schrei­ben mit rechts umerzogen wurde, wo er am liebsten Stifte durch die Gegend geworfen hätte, sich das aber nicht getraut hat. In dieser Position erlebt der Mann dann vielleicht Schmerz und Wut, aber er erlebt auch wieder einen Eindruck von der Kraft und der Energie, die er hat.

Diese Methode, frühere Situationen zu verdeutlichen und zu externalisieren, also nach außen hin sichtbar zu machen, hilft nicht nur dabei, zu verstehen, in welchen Konflikten man verstrickt ist. Man findet auf diese Weise auch eher Ressourcen und den Weg zurück zum eigenen Mut, zur eigenen Stärke. Wenn Sie ausprobieren wollen, wie es wirkt, wenn man verschiedenen inneren Positionen mehr Raum gibt, können Sie dieses Gespräch auch schriftlich führen: Im Dialog äußert man sich einmal als Erwachsener – wie man heute ist – und einmal als Kind in jenem Zustand, in dem man gebremst wurde. So bekommen Sie nicht nur einen besseren Zugang zu sich selbst. Sie verstehen auch andere besser, wenn Sie wissen, dass Menschen nicht immer nur erwachsen und klar sind, sondern zum Teil im Alltag auch kindliche Emotionen und Zustände erleben und sich danach verhalten.

Was können Laien für den Alltag übernehmen? Es ist wichtig, auch die originellen, eigensinnigen oder schwer verstehbaren Seiten der anderen zu sehen und zu akzeptieren. Im Alltag stören uns an Menschen ja oft die Momente, in denen sie sich ganz anders verhalten, als wir es selbst tun würden. Oft finden wir das dann unnormal und halten nur das für gut und richtig, was wir selbst tun. Kurz: Was wir an anderen nicht mögen, verstehen wir vielleicht auch nicht richtig, es ist uns nicht vertraut. Neugier zu entwickeln heißt deshalb vor allem, einen beengten Blick durch einen interessierten zu ersetzen.

Genau die Seiten, die wir bei anderen nicht verstehen, könnten wir dann bewusst zulassen und mehr wertschätzen. Dadurch wird es eher möglich, die anderen so zu sehen, wie sie sind, und nicht so, wie wir sie vielleicht haben wollen. Wenn Sie sich etwa im Freundeskreis umsehen, finden Sie mit Sicherheit eine Freundin, die Sie oft nervt, vielleicht weil sie sich hysterisch und hochtrabend gibt, dauernd dramatische Geschichten am Wickel hat. Spricht man mit anderen Personen über diese Freundin, kann man leicht in einer Haltung landen, aus der man sagt: „Ich mag sie wirklich, obwohl sie sich oft so dramatisch und unmöglich aufführt.“

Wie wäre es, wenn Sie stattdessen ab jetzt sagten: „Ich mag sie auch, weil sie sich so dramatisch und unmöglich aufführt.“ Zum Verstehen einer Person trägt bei, dass man sich eingesteht, dass man genau das an ihr faszinierend finden kann, was man an sich selbst gar nicht kennt. Einander verstehen heißt also für mich auch, sich in der Einzigartigkeit zu entdecken.

Anregung Probieren Sie einen anderen Umgang mit Bewertung und Kritik. Manchmal stört einen etwas am anderen. Dann wäre es im Sinn der offenen und neugierigen Grundhaltung, die andere Person nicht ungefragt zu kritisieren, sondern eher zu fragen: „Ich könnte ein Feedback geben, willst du?“ Sie zwingen so dem Gegenüber nicht Ihren Willen und Ihre Sicht auf. So kommt eher eine Begegnung zustande, in der beide etwas lernen und voneinander verstehen können.

Literaturtipp Johanna Müller-Ebert: Wie Neues gelingt. Die vier Schritte zur Veränderungskompetenz. Kösel, München 2014

Auf die Bedingungen achten

wie Thorsten Padberg, Verhaltenstherapeut, Berlin

Wie versuchen Sie, andere zu verstehen? Von außen. Bereits die ersten Verhaltenstherapeuten und -therapeutinnen haben darauf geachtet, dass sie den Zusammenhang von bestimmten Reizen in der Außenwelt und den darauffolgenden Reaktionen systematisch in den Blick nahmen. Es ist uns bis heute wichtig, zu schauen, wie Menschen unter bestimmten Umständen reagieren. Die Pioniere sahen den Menschen allerdings sehr nüchtern als Reiz-ReaktionMaschine, hatten den Eindruck, dass man jedes Verhalten von jedem Menschen allein durch bestimmte Bedingungen, Reize und Situationen erklären und sogar modellieren könne. Das ist komplett überzogen, denn der Mensch hat ja auch noch ein Innenleben. Wir betrachten deshalb heute nicht nur die konkreten Reize, die in einer Situation vorliegen, wir schauen auch auf Gefühle, Gedanken, den Körper, die Lerngeschichte und beziehen diese Informationen mit ein. Doch die Basis bleibt bestehen: Wenn wir das Verhalten eines Menschen begreifen wollen, schauen wir systematisch danach, welche Bedingungen in der Umgebung herrschen.

Welche konkreten Techniken wenden Sie an? Ein typischer Satz einer Verhaltenstherapeutin oder eines Verhaltenstherapeuten lautet: „Geben Sie mir doch mal ein Beispiel.“ Angenommen, jemand kommt und sagt, dass er gern weniger essen würde, weil er sich immer so vollstopft. Dann sage ich: „Aha, das ist hochinteressant. Sie wollen also weniger essen. Dann schildern Sie mir doch mal eine typische Situation, in der Sie zu viel gegessen haben.“ Dann erzählt mir die Patientin etwa, dass sie abends gelangweilt oder gestresst durch die Wohnung läuft, vor dem Kühlschrank landet, dort Eis oder Käse rausholt oder in Schubladen nach Snacks sucht.

Beim Suchen nach etwas Essbarem denkt die Person sich vielleicht: „Ach, der Tag war so hart, jetzt esse ich was, das hab ich mir verdient.“ Dieses Beispiel nehme ich dann als prototypische Situation, anhand derer man alle Faktoren herausarbeiten kann. In unseren Praxen haben wir deshalb meist ein Whiteboard, dort kann man notieren, in welcher Situation (allein abends zu Hause, ohne etwas Anregendes zu tun zu haben), bei welchen Reizen (Käse im Kühlschrank, Schokolade in der Schublade) und begleitet von welchen Gedanken („Ich hab es mir verdient“) die Reaktion („Ich esse zu viel“) entsteht.

Das ist eine klassische Analyse aller Bestandteile einer Situation, die Klientin lernt, sich selbst zu verstehen, entschlüsselt ihr Verhalten und sieht auch, unter welchen Bedingungen ihr Verhalten wahrscheinlicher wird. Ich sage in meiner Praxis oft: „Man wird nicht beim Essen, sondern beim Einkaufen dick.“ Das klingt nach einem flapsigen Spruch. Doch dahinter steckt die Idee, die Situation selbst und die auslösenden Reize in der Umgebung zu verändern, um ein bestimmtes erwünschtes Verhalten zu erleichtern. Kurz gesagt: Wenn keine Schokolade da ist und man erst zum Supermarkt gehen müsste, wird das „Zu-viel-Essen“ unwahrscheinlicher.

Was können Laien für den Alltag übernehmen? Verhaltenstherapeuten haben Modelle entwickelt, mit denen sie menschliches Verhalten unter bestimmten Bedingungen erklären. Diese Schemata verdeutlichen, unter welchen Faktoren ungünstiges Essverhalten entsteht, oder auch, wie Angst durch bestimmtes Verhalten aufrechterhalten oder verstärkt wird. Dieses Wissen ist formelhaft, aber nützlich. In der Therapie gibt es deshalb immer einen Teil, der Bibliotherapie genannt wird.

Die Patientinnen lesen Texte und betrachten Schaubilder und werden so selbst Expertinnen für bestimmte Reiz-Reaktion-Abläufe. Dieses Wissen kann sich jeder aneignen und es hilft, sich und andere besser zu verstehen. Ich erkläre das mal anhand von Ängsten: Wir wissen heute, dass Angst schlimmer wird, wenn Menschen die Situationen vermeiden, in denen Angst entstehen könnte. Es kommt dann, vereinfacht gesagt, zu einem Teufelskreis: Angst und Vermeidung werden immer größer, weiten sich aus. Dieses Wissen – „Vermeidung verschlimmert Ängste“ – kann jeder im Alltag nutzen.

Sie haben Angst vor Spinnen und überlegen, ob Sie deshalb vielleicht nicht mehr in den Keller gehen? Ein Kollege mag das Sprechen vor einer größeren Gruppe nicht und beschließt, es nicht mehr zu tun? Beide Beispiele zeigen, dass bei Angst erst mal die verständliche Reaktion aufkommt, angstmachenden Situationen aus dem Weg zu gehen. Mit Ihrem Grundwissen können Sie das jetzt verstehen. Sie können bei Alltagsängsten aber auch sich und andere animieren, brenzlige Situationen eher mal durchzustehen.

Anregung Es lohnt sich, im Alltag genau zu beobachten, was beim Gegenüber in einer bestimmten Situation überhaupt los ist. Fragen Sie sich: Unter welchen Bedingungen zeige ich oder zeigt mein Gegenüber ein bestimmtes Verhalten? Fragen Sie sich aber auch, unter welchen Bedingungen dieses problematische Verhalten nicht auftritt, in welchen Situationen schaffen Sie es, anders zu reagieren? Es kann zum Beispiel sein, dass Sie oder Ihre Beziehungspartnerin destruktive Streits immer dann anzetteln, wenn Sie beide müde sind. Überlegen Sie sich dann, wann Sie in der Beziehung Konflikte konstruktiv lösen.

Vielleicht merken Sie, dass das eher vormittags gelingt, wenn beide noch frisch sind. Sie können dann allein oder gemeinsam dafür sorgen, dass Sie Konflikte ab jetzt unter günstigeren Bedingungen ansprechen. Solche Lösungen klingen banal, verändern aber oft viel. Sie vermeiden so übrigens auch einen typischen Denkfehler, den fundamentalen Attributionsfehler, den Menschen in der Bewertung anderer immer wieder machen. In Studien wurde oft nachgewiesen, dass wir bei der Beurteilung des Verhaltens anderer zu stark auf deren Persönlichkeit schließen und die Situation vernachlässigen.

Wenn man jemanden etwa in einer Prüfungssituation kennenlernt und dieser gereizt oder genervt wirkt, nehmen viele Menschen an, dass das Gegenüber ein Griesgram sei. Dass der andere möglicherweise nur auf die stressige Situation reagiert, verlieren viele ganz aus den Augen und schätzen ihn falsch ein. Wenn Sie also die Situation und ihre Bedeutung bewusster in den Blick nehmen, vermeiden Sie diese Art Fehlbewertung. Eine gute Voraussetzung, um andere besser zu verstehen.

Literaturtipp Eni Becker, Jürgen Margraf: Vor lauter Sorgen… Selbsthilfe bei Generalisierter Angststörung. Beltz, Weinheim 2017

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2021: Menschen verstehen wie die Profis