In jeder Psychotherapie begegnen sich zwei Menschen. Da es in ihrer Zusammenarbeit um Gefühle und oft auch um Beziehungsprobleme in der Vergangenheit und Gegenwart geht, spielt der persönliche Kontakt eine wichtige Rolle. In der hier beschriebenen Situation kommt noch ein zweites Problem hinzu: Der Klient ist auch als Therapeut ausgebildet, zudem in einer Schulrichtung, die sich von der des Therapeuten unterscheidet.
Aus einem von Detailwissen ungeschärften Blick erscheint die Psychotherapie wie eine Insel,…
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besiedelt von Experten. Wer etwas mehr Bescheid weiß, entdeckt auf dieser Insel zwei Gruppen, die der Psychologen und die der Mediziner, die sich nach Ausbildung und Vorgehensweise erheblich unterscheiden. Wer sich jedoch auf dieser Insel ansiedeln will, muss sich damit auseinandersetzen, dass sie in mancher Hinsicht Neuguinea zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gleicht. Es gibt Dutzende unterschiedliche Sprachen, die Bewohner der einen Provinz verstehen die der anderen nur bruchstückhaft – und jede Provinz ist überzeugt, dass die Insel in einem besseren Zustand wäre, wenn überall ihre Sprache gesprochen, ihren Grundsätzen und Ritualen gehorcht würde. Kurzum: Es gibt unter Psychotherapeuten verschiedene Schulen, Fachrichtungen, die sich in Ausdrucksweise und Methodik voneinander abgrenzen – und nicht selten ausdrücklich entwerten. Wie viele solche Stämme es gibt, ist umstritten; die Schätzungen schwanken zwischen zwei- und dreistelligen Zahlen.die Schätzungen schwanken zwischen zwei- und dreistelligen Zahlen.
Nachweis einer psychoanalytischen Selbsterfahrung
Politische Differenzen können zu persönlichen Konflikten führen. Und umgekehrt können persönliche Begegnungen politische Differenzen aufheben, sie zumindest in ein anderes Licht rücken. Die folgende Therapiestunde beschreibt, wie sich Therapeut und Klient über solche Differenzen verständigen und ihre Zusammenarbeit vertiefen. Der Klient ist Psychiater und Verhaltenstherapeut, der Behandler Diplompsychologe und Psychoanalytiker. Der Klient hat eine komplexe Motivation; er leidet unter Depressionen und fühlt sich oft isoliert. Er hat bisher in der Forschung gearbeitet, sich aber noch nicht habilitieren können, was ihn belastet.
In seinen Bewerbungen für eine leitende Stelle in psychotherapeutischen Kliniken kann er den Nachweis einer psychoanalytischen Selbsterfahrung gut gebrauchen, denn in vielen Einrichtungen arbeiten Tiefenpsychologen und Verhaltenstherapeuten zusammen. Diese Konstellation ist gar nicht so ungewöhnlich, wie es die gelegentlichen Polemiken zwischen den beiden wichtigsten Schulen – der Verhaltenstherapie und der Tiefenpsychologie – vermuten lassen. Bisher hatte sich Dr. A. dem analytischen Ritual gefügt, sich zweimal pro Woche auf meine Couch gelegt und erzählt, was ihn beschäftigte und bewegte.
In die Sitzung heute war er mit dem Bericht gekommen, dass ihm die letzte Stunde geholfen habe; er habe jetzt mehr Energie, aus der Routine auszubrechen. Er habe den Kontakt zu einer früheren Freundin gesucht, den er bisher gleichzeitig wünschte und fürchtete. Sie freute sich über seinen Anruf und sie verabredeten sich. Er fühle sich nicht mehr so isoliert und angestrengt wie zu Beginn der Behandlung. Dann schwieg der Klient eine Weile. „Wir haben heute die 16. Stunde“, sagte er dann. „Ich wollte ein Feedback haben!“
„Ich hatte Angst vor der Analyse!“
Es war eine direkte Bitte. Es widerstrebte mir, zu schweigen oder ihn an die Grundregel zu erinnern, über seine inneren Bilder zu sprechen und selbst nach einer Antwort zu suchen, was ihm zu dieser Frage in den Sinn komme. So antwortete ich: „Ich habe auch schon drüber nachgedacht, was das Besondere an unserer Arbeit ist. Mir ist aufgefallen, dass wir bisher eher verhaltensorientiert gearbeitet haben, als ob ich mich auf das eingestellt hätte, was Ihnen vertraut ist. So haben wir uns mehr mit der äußeren Realität und der Gegenwart beschäftigt als mit der Kindheit oder mit den Träumen. Einen Traum haben Sie noch gar nicht erzählt.“
„Ich habe mich immer wieder gefragt, was das Spezifische an der Analyse ist“, überlegte er. „Vieles von dem, was Sie mir gesagt haben, hätte ich auch so gesagt. Ich hatte Angst vor der Analyse. Ich habe in der Klinik schon öfter Patienten gesehen, von denen ich dachte, dass sie ein Analytiker verpfuscht hat, oder andere, wo die Analyse in einem Bettverhältnis endete. Und dann war da noch die Geschichte von meinem langjährigen Kollegen Dr. C. Kannten Sie ihn?“ „Nein, ich denke nicht. Können Sie diese Geschichte erzählen?“ „Dr. C. war ein guter Forscher, etwas weltfremd, ich dachte, er ist so abseits der praktischen Medizin gut aufgehoben. Wir haben in der Forschung gut zusammengearbeitet und auch gemeinsam publiziert. Dann hat er eine Analyse angefangen. Während dieser Zeit hat er sich sehr verändert, er wollte jetzt selbst unbedingt Analytiker werden. Er hat eine Unmenge Geld ausgegeben für tausend Stunden Lehranalyse in dem orthodoxen Verein, hat aufgehört zu forschen, hat in der Psychiatrie und in der Psychosomatik gearbeitet und war schließlich Oberarzt. Und dann hat er sich aufgehängt!“
Ich hörte das mit gemischten Gefühlen. Ich kenne die pharisäischen Urteile einer Therapieschule gegen alle anderen aus meiner eigenen Teilhabe am Kollegenklatsch gut genug und habe sie vorwiegend ekelhaft gefunden, auch wenn es in meiner Subkultur die Verhaltenstherapeuten und nicht die Psychoanalytiker waren, die Patienten verpfuschten oder eine Therapie nutzten, um ein sexuelles Verhältnis zu beginnen. Aber es war auch ein Vertrauensbeweis von A., über diese kitzlige Frage offen zu sprechen – und in der letzten Geschichte, wonach auch sehr viel Therapie nicht vor einer Depression und einem Suizid geschützt hatte, steckte wohl auch eine Angst meines Analysanden.
So sagte ich: „Das ist schrecklich. Psychiater sollten Selbstmordgefährdete behandeln und Depressionen heilen – und dann können sie sich oft selbst nicht helfen. Aber Sie haben die Geschichte so erzählt, als ob es die Lehranalyse gewesen wäre, die ihn krank gemacht hat.“ „Nein, so habe ich das nicht gemeint. Er war geschieden, er hat schon immer alles wahnsinnig schwergenommen.“
Geheime Überlegenheit
Dr. A. kam jetzt wieder auf sein erstes Thema zurück: „Ich frage mich: Liegt es an mir oder liegt es an Ihnen, dass es doch eine Zusammenarbeit geworden ist. Ich beobachte Sie natürlich genau und überlege mir immer wieder, wie ich an Ihrer Stelle reagieren würde, und vieles, was Sie sagen, würde ich einem Patienten genauso sagen. Manchmal denke ich: Sie warten länger, was sich ergibt, als ich es gewöhnlich tue. Und manches, was Sie sagen, ist für mich eine echte Überraschung, und dann frage ich mich: Sind das Sie oder ist es das Analytische, das ich nicht kenne?“ „Das wird sich schwer trennen lassen“, sagte ich.
„Während meiner Ausbildung habe ich viele verschiedene Verhaltenstherapeuten kennengelernt“, sagte mein Analysand jetzt. „Mit manchen konnte ich gar nichts anfangen und hätte als Patient den weitesten Bogen geschlagen. Die, mit denen ich konnte, hatten einige Gemeinsamkeiten. Sie waren nicht autoritär, sie hatten Sinn für Humor und sie haben sich nicht so übermäßig wichtig genommen.“ „Und würde das bedeuten, dass ich zu dieser zweiten Gruppe gehöre?“ „Eigentlich schon“, sagte Dr. A., „obwohl ich an sich dachte, dass Analytiker da grundsätzlich nicht hineinpassen, weil sie immer im Besitz einer geheimen Überlegenheit sind.“ „Nun ja“, sagte ich, „solange das vom Analytiker geglaubt wird, kann er ohnehin nicht arbeiten. Er weiß doch ebenso wenig über das aktuelle Unbewusste wie die Analysanden; er kann nur den Raum öffnen, es zu erforschen, und dieses Unwissen erst einmal auszuhalten.“ „Das klingt spannend“, sagte Dr. A. und streckte sich etwas bequemer aus auf der Couch.
Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker, Paar- und Familientherapeut und Autor in München. Jüngstes Buch: Du bist schuld! Zur Paaranalyse des Vorwurfs (Klett-Cotta 2020)