Gruppendenken

Coronaproteste: Ein Wissenschaftler sieht eine Neigung zu schlechten Entscheidungen und Illusionen - und ein Beispiel für Gruppendenken.

Gleichgesinnte, Bekannte und Freunde finden, politisch protestieren oder sich für eine Sache engagieren – wie wichtig „die Gruppen“ sind, ist Gegenstand zahlreicher psychologischer Studien. Ein Forscher beschäftigt sich nun mit den Nachteilen, nämlich der Theorie des Gruppendenkens. Der Psychologe Irwing Janis legte sie bereits in den 1980er Jahren vor. Sie sei in der akademischen Psychologie aus dem Blick geraten, meint der Wissenschaftler, der Sozialpsychologe Donelson R. Forsyth von der University of Richmond. Anhand des Beispiels der Coronaprotestierenden in vielen Ländern erläutert der Autor, unter welchen Voraussetzungen sich Gruppendenken bilde. Seine Schlussfolgerung: Kommt es dazu, unterminiert das die Fähigkeit der Gruppenmitglieder, gute und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Stattdessen neigten solche Communitys zu verkürzten Sichtweisen, Ausblenden der Realität und schlechten Entscheidungen.

Wie der Autor bei den Coronaprotestierenden beobachtete, stellten sich in vom Gruppendenken geprägten Gemeinschaften bestimmte Fragen erst gar nicht, beispielsweise: „Ist es sinnvoll, das Wissen von Medizinern und Virologen zu ignorieren, die über eine tödliche Krankheit mehr wissen als wir?“ Oder: „Bedroht das Tragen einer Maske wirklich meine Freiheit?“ oder auch: „Ist wirtschaftlicher Gewinn wichtiger als menschliches Leben?“ Einen gewissen Konformitätsdruck und das Ausblenden bestimmter Fragen gebe es in allen Gruppen. Doch meist sei es möglich, dass Meinungsverschiedenheiten und Konflikte ausgetragen würden. Herrsche jedoch Gruppendenken, verstärke sich der Druck noch, sich einig zu sein.  

Kohäsion und geteilte Identität. Auch wenn sich Demonstrierende nicht unbedingt persönlich kennen würden, sich vielleicht nicht immer sympathisch und eher lose vernetzt seien – der Widerstand gegen Behörden und die Autorität des Staates sei ihr gemeinsames Ziel und verbinde sie. Widerstand werde Teil der Identität Einzelner. Dies umso mehr, je größer dieser Widerstand werde. Einer solchen Gruppe anzugehören, motiviere darüber hinaus Individuen dazu, „prototypisch“ zu denken und sich so zu verhalten, wie man glaubt, dass die anderen es tun. In Gemeinschaften, die vom Gruppendenken geprägt sind, sei der Konformitätsdruck höher und er wachse, während die Mitglieder mit abweichendem Denken zunehmend aus dem Blickfeld gerieten.

Isolation und Stress. Gruppen mit ausgeprägtem Gruppendenken gehörten nicht zur oft schweigenden Mehrheit und sie fühlten sich als Minderheit und Andersdenkende. Diese Tendenz verstärkten sie selbst, erklärt der Autor. Coronaprotestierende vermieden anderslautende Meinungen und gingen ihnen aus dem Weg. Ihre Auffassungen würden dadurch noch extremer. Zugleich bedeute die Pandemie mit ihren Risiken auch für diese Communitys eine Stresssituation, die ihre Entscheidungsfähigkeit beeinträchtige. Es bilde sich ein erhöhtes Bedürfnis nach „kognitiver Geschlossenheit“, dem Wunsch nach einer schnellen und sicheren Antwort, die Verwirrung, Angst und Ambiguität reduziere. Gemeinschaften und Netzwerke mit Gruppendenken hätten zudem häufig Anführer, die den Mitgliedern diesen Wunsch erfüllten.

Illusionen und Druck zur Konformität. Befänden sich Gruppen einmal in der Falle des Gruppendenkens, hingen sie einer Reihe von Illusionen an, beispielsweise der, als einzige die richtige Moral zu haben. Coronaprotestierende hielten den Behörden und dem Staat vor, zentrale Rechte auf freies Reisen, auf Meinungsfreiheit einzuschränken. Um die Frage des Gesundheitsschutzes kümmerten sie sich nicht. Dies wiederum werfen ihnen andere vor. 

Weiterhin neigten sie dazu, die eigene Community für unverwundbar zu halten. Gruppendenken gehe mit einem sehr großen Vertrauen in die Richtigkeit der eigenen Entscheidungen einher, auch wenn diese riskant oder schädlich seien. Im Zweifelsfall, wenn die Situation sich ändere, fielen ihnen keine Alternativen ein: „Sie glauben, dass ihrem Erfolg nichts im Wege stehen kann.“ Auch herrsche häufig die Illusion des Einvernehmens und der Gleichheit der Mitglieder, ergänzt der Forscher. Ob dies tatsächlich so sei, wie ähnlich sich also die Protestierenden über das gemeinsame Ziel des Widerstands hinaus tatsächlich seien, müsste noch erforscht werden.

Donelson R. Forsyth: Group-Level resistance to health mandates during the COVID-19 pandemic: A groupthink approach. Group Dynamics: Theory, Research and Practice, 2020. DOI: 10.1037/gdn0000132

Irving L. Janis: Groupthink. Houghton Mifflin Company, 1982, 2. Auflage

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