Illoyalität als Tugend

Loyalität ist nicht immer positiv - manchmal kann sie ein hartnäckiger Klebstoff sein, findet Rainer Hank und sagt, was er sich stattdessen wünscht.

Der Mensch sehnt sich nach Verbundenheit und sucht sie in der Gemeinschaft. Wir brauchen überschaubare Gruppen wie die Familie, Communitys, Parteien, Vereine oder Unternehmen, um uns emotional zu verwurzeln. Ihnen gegenüber verpflichten wir uns zur Loyalität. Die Meinung der Gruppe wird dabei rasch wichtiger als die des einzelnen Mitglieds. Und schon rutschen wir hinein in einen Konformitätsdruck, den Gruppenzwang. Begehren wir auf, gelten wir als unbequem, gar verräterisch. Wollen wir dieses Risiko eingehen, den Ablösungsschmerz wirklich fühlen?

Der Wirtschaftsjournalist Rainer Hank warnt vor dieser Loyalitätsfalle. Loyalität stehe der Freiheit Einzelner im Wege, einem Klebstoff gleich binde sie uns an Gruppen. Der 68-Jährige wendet sich ihrer Gegenspielerin zu: der Illoyalität und ihrer Schmähung. Man könne Illoyalität auch anders nennen, schlägt er vor. Beispielsweise Souveränität, Integrität oder Autonomie.

Aktuelle Protestbewegungen fühlten sich selbstbestimmt und seien im Grunde doch unfrei, bekundet Hank. Gemeint sind damit die Coronaproteste der sogenannten Querdenker-Bewegung, die nationalkonservative Organisation Pegida, aber auch die Communitys der people of color – Rainer Hank nennt sie „Opfergruppen“ – oder Umweltschutzbewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion.

Freund-Feind-Verhalten

Sie folgten der Eigengruppenbevorzugung und grenzten damit andere aus. Hier verdeutlicht er den Unterschied zwischen Loyalität und Solidarität. Solidarität sei universal, Loyalität hingegen eine Bedingung des Freund-Feind-Verhaltens. Diese tribalistischen Muster seien überall dieselben, schreibt Hank und widmet sich in seinen Kapiteln intensiv der Familie und der Schwierigkeit des sozialen Aufstiegs, der Treue zum Arbeitgeber, dem Schicksal von Whistleblowern und der Loyalität zu Parteien.

Rainer Hanks Untersuchungsgegenstand ist interessant, ist die Loyalität als Wert an sich in ihrer Vielseitigkeit doch etwas, das es zu durchdringen lohnt. Er zitiert Studien und Fachkundige aus der Soziologie und zieht auch Bildungsromane zurate, wenn er über die Loyalität zur Herkunftsfamilie nach­denkt.

Loyal zu uns selbst sein

Hank hat Theologie studiert und ist promovierter Germanist, er scheut die Analyse nicht. An zentralen Stellen jedoch konfrontiert er die Lesenden mit Aussagen wie dieser: Fremdenfeindlichkeit gebe es auch im Antirassismus, indem Weiße von people of color zum „zuhörenden Schweigen verdonnert“ würden. Jenen, die sich für den Klimaschutz einsetzen, entgegnet er, der Klimawandel sei eine hochriskante Nebenfolge des technischen Fortschritts, keine böse Tat von Staaten oder Firmen.

Rainer Hank wünscht sich von uns den Mut, nein zu sagen zu Moden und dass wir die Loyalität uns selbst gegenüber wahren. Doch konterkariert er diesen Wunsch nach innerer Freiheit, indem er die Leserinnen und Leser mit seinen eigenen Meinungsbekundungen zu lenken sucht. Andererseits ist es die Aufgabe eines Essays, das Urteil aller, die ihn rezipieren, herauszufordern. Dieses Ziel hat Rainer Hank mehr als erreicht.

Rainer Hank: Die Loyalitätsfalle. Warum wir dem Ruf der Horde widerstehen müssen. Penguin, München 2021, 208 S., € 18,–

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