Wer spricht denn da?

Ilona Jerger rezensiert Charles Fernyhoughs Buch über Selbstgespräche und innere Stimmen.

Dieses Buch ist nichts für Feiglinge. Es ist verwirrend und großartig. Es hat das Potenzial, den Leser bei seiner bis dato selbstverständlichen Tätigkeit des Lesens zu verunsichern. Unentwegt schweift man von den Zeilen ab und fragt sich: Spreche ich stumm beim Lesen? Denke ich in Worten, gar in ganzen grammatikalischen Sätzen? Hat meine innere Stimme einen Tonfall?

Kurz gesagt handelt Selbstgespräche vom unentwegten Gemurmel und Geplapper in unserem Kopf und der Frage, was davon normal ist und was nicht. Autor ist der Psychologe Charles Fernyhough, der an der britischen Uni Durham das Projekt Hearing the Voice leitet. Seit den 1990er Jahren untersucht er die vielfältigen Muster der Kommunikation mit uns selbst – und bis heute sind viele Fragen offen, Beobachtungen unverstanden, Berichte widersprüchlich, Therapien umstritten. Kein Wunder, denn Stimmen im Kopf sind schwer zu fassen und höchst individuell. Sie können flüstern, schreien, murmeln. Sie können drohen, herumkommandieren oder Witze machen.

Zunächst gilt es festzuhalten, dass die „innere Sprache“, die mit einer ungeheuren Geschwindigkeit von bis zu 4000 Wörtern pro Minute ablaufen kann, normal und notwendig ist. Sie hilft, unser Verhalten zu regulieren, uns zu motivieren und uns über Gefühle klarzuwerden, ja uns zu vergewissern, wer wir sind.

Auch die kreative Bedeutung von inneren Stimmen ist enorm. Bei Charles Dickens gehörten sie zur Schriftstellerei – und inspirierten ihn immer wieder. Während Dickens bei bester Gesundheit war, ist Virginia Woolfs Leben ein Beispiel dafür, dass die Grenzen zwischen Kreativität und Pathologie fließend sind – sie konnte ihre Stimmen irgendwann nicht mehr ertragen und nahm sich das Leben.

Wann also ist die Grenze überschritten? Wenn der Betroffene die Herrschaft über die Stimmen im Kopf verliert. Wenn das Gehirn nicht mehr registriert, dass es selbst eine Stimme generiert, sondern sie als extern wahrnimmt. Und vor allem wenn Stimmen tyrannisch sind, etwa bei jener Frau, die sich ein Loch in ihren Kopf bohren möchte, um die Stimmen herauszulassen.

Die althergebrachte Psychiatrie ist schnell bei der Hand, Stimmenhören mit Schizophrenie in Verbindung zu bringen, doch die Sache ist komplizierter: Auch Epilepsie, Drogenmissbrauch, posttraumatische Belastungsstörung, Parkinson und Essstörungen stehen damit im Zusammenhang. Während die „alte“ Psychiatrie die Stimmen biomedizinisch als Nervenmüll betrachtet, identifizieren Psychologen und aufgeschlossene Psychiater die Stimmen immer häufiger als wertvolle emotionale Botschaften, die es therapeutisch zu entschlüsseln gilt. Erleichtert nimmt man zur Kenntnis, dass es manchmal schon heilsam sein kann, wenn der Geplagte den Stimmen Raum gibt. So etwa Jay. Er hat in einer Verhaltenstherapie gelernt, jeden Abend eine halbe Stunde einzuplanen, in der er sie in ein Gespräch verwickelt.

Dieses Buch spielt uns den Soundtrack unserer Hirne vor, und man kommt als Gesunder, als Erkrankter und als Therapeut aus dem Staunen nicht heraus.

Ilona Jerger

Charles Fernyhough: Selbstgespräche. Von der Wissenschaft und Geschichte unserer inneren Stimmen. Aus dem Englischen von Theresia Übelhör. Komplett-Media, München 2018, 391 S., € 22,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2018: Manipulation durchschauen
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