Wie definieren Sie Mentalisieren bei Eltern?
Es beschreibt die Kapazität von Eltern, sich die mentalen Zustände des Kindes – also Gedanken, Gefühle oder Wünsche – vorstellen zu können. Dazu braucht es eine gewisse Offenheit und Neugierde, darüber hinaus aber auch die Überzeugung, dass man sich nicht gänzlich sicher sein kann, ob die eigenen Vermutungen richtig sind. Beim Mentalisieren geht es zusätzlich um die Sicht auf sich selbst, darum, dass man sich als Eltern selbst reflektiert und seine eigene Perspektive infrage stellen und anpassen kann.
Es geht dabei nicht nur um einen kognitiven Versuch der Perspektivübernahme. Es bedeutet auch, die kindlichen Signale affektiv einzusortieren und zu spiegeln und das Kind adäquat zu beruhigen. Man kann sich das so vorstellen, dass Mentalisieren feinfühliges Elternverhalten quasi steuert.
Mentalisierung der Eltern gilt als ein Schutzfaktor für eine gesunde Entwicklung von Kindern. Warum?
Viele Studien haben mittlerweile gezeigt, dass Eltern, die besser mentalisieren, auch weniger inkonsistent und weniger hart erziehen. Sie ziehen sich seltener emotional zurück und verstehen die Signale von Tochter oder Sohn besser. Das führt dazu, dass sich die Kinder gesehen fühlen, und es stärkt ihre sozial-emotionalen Fähigkeiten. Kinder von Eltern, die mehr mentalisieren, entwickeln weniger emotionale und Verhaltensstörungen. Es scheint sie mit einer wichtigen psychologischen Software auszustatten, die sie resilienter macht.
Sie haben in einer Metaanalyse festgestellt, dass es die Fähigkeit zu mentalisieren schwächt, wenn Eltern an einer Depression erkranken.
Die Auswertung umfasste 63 Studien mit mehr als 12000 Eltern. Es zeigte sich: Je depressiver die Eltern waren, desto weniger gut konnten sie ihr Kind mentalisieren. Es waren zwar nur kleine, aber signifikante Effekte. Dies ist vor dem Hintergrund des sogenannten Transmissionsrisikos einer Depression relevant. Wir wissen, dass 68 Prozent der Kinder von depressiven Müttern höhere Werte bei den emotionalen und den Verhaltensproblemen erzielen. Aus unserer Sicht wäre es ein Ansatzpunkt für die Prävention, elterliches Mentalisieren zu stärken und damit die Resilienz der Kinder zu erhöhen.
In einer weiteren Studie haben Sie Therapiesitzungen ausgewertet, in denen Mutter-Kind-Paare das Mentalisieren übten. Kann man das in einer Therapie lernen?
Es handelte sich um vier Sitzungen einer kurzen psychodynamischen Eltern-Säugling-Therapie mit Mutter-Kind-Paaren. Der häufigste Anlass für die Therapie war, dass die Kinder oft nachts aufwachten, nicht einschlafen konnten oder exzessiv schrien, kurzum eine frühkindliche Regulationsstörung hatten. Wir konnten zeigen, dass Mütter innerhalb der Sitzungen mehr mentalisierten. Möglicherweise trug diese „Übung“ schließlich zu den Effekten der Therapie bei. Es gibt zwar schon einige Forschung, die zeigt, dass sich Mentalisieren durch Therapie verbessert, aber wir wissen bislang wenig darüber, unter welchen genauen Bedingungen dies geschieht.
Anna Georg ist Psychologin und Juniorprofessorin für klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Fachbereich Psychologie, an der Universität Tübingen. Für ihre Forschung erhielt sie kürzlich den „Wilhelm-Bitter-Forschungspreis“ und den „Deutschen Psychodynamik-Preis“
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Quellen
Anna Katharina Georg u.a.: Within- and between-session changes of in-session reflective functioning of mothers in dyadic parent-infant psychotherapy. Psychotherapy Research, 2024. DOI: 10.1080/10503307.2024.2323617
Anna Katharina Georg u.a.: Is parental depression related to parental mentalizing? A systematic review and three-level meta-analysis. Clinical Psychology Review, 2023. DOI: 10.1016/j.cpr.2023.102322