Frieden stiften

​Wie Psychologen, Psychiater und Psychoanalytiker ihr Wissen und ihre Fähigkeiten einsetzen, um Gewalt und Krieg zu verhindern.

Collage zeigt weiße Taube, Friedenszeichen, Soldat und Panzer
Psychologen können dazu beitragen, dass Kriege gar nicht erst entstehen © Daniel Matzenbacher

Es sind unübersichtliche, gewalttätige Zeiten, die Kriege und Konflikte sind zahlreich, die Terroranschläge auf die Freiheit nehmen zu. In Schach gehalten, eingedämmt, bekämpft wird die Gewalt mehr schlecht als recht von Politikern, Soldaten, Polizisten. Auch Feuerwehrkräfte und Ärzte tragen ihren Teil bei. Eine Berufsgruppe allerdings spielt eine erstaunlich geringe Rolle, obwohl ihre Mitglieder prädestiniert sind für das Schlichten von Konflikten, das Verhindern von Gewalt. Es sind die Psychologen, Psychiater und Psychoanalytiker.

Sie werden gerufen nach Unfällen, um die Leiden Traumatisierter zu lindern – seien es Opfer oder Helfer. Ihre Unterstützung beschränkt sich sehr oft auf die Zeit nach einem Konflikt, einem Anschlag, einem Unfall, wenn es nur noch darum gehen kann, den entstandenen Schaden zu minimieren, das Leid zu mindern. Dabei ist die effektivste Phase diejenige, in der Psychologen präventiv arbeiten könnten.

Denn Frieden und Gewaltlosigkeit entstehen in den Köpfen von Menschen, so heißt es in der Präambel der UNESCO: „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.“ Und die Fachleute für den „Geist der Menschen“ sind Psychologen, Psychiater, Psychoanalytiker. Aber es gibt offensichtlich große Hürden zu überwinden, wenn der Frieden in der Gesellschaft oder gar der Frieden zwischen ethnischen und religiösen Gruppen oder auch Nationen in Gefahr ist.

Verbindung von Forschung und praktischer Friedensarbeit

Einer der wenigen Psychologen, die das Wagnis eingegangen sind, ihre Kenntnisse in internationalen Konflikten zu erproben und zu erweitern, ist der Amerikaner Ervin Staub. Er ist emeritiert, war Professor in Amherst, Massachusetts und ist Gründer des Studiengangs „The Psychology of Peace and Violence Program“, eines der wenigen Studienangebote, in denen Psychologen lernen, Forschung und praktische Friedensarbeit zu verbinden.

Staub ist seit Jahrzehnten unterwegs, wurde unter anderem von der niederländischen Regierung zu Hilfe gerufen, als 2004 der rechte Intellektuelle Theo von Gogh in Amsterdam ermordet wurde und in dem traditionell toleranten Land plötzlich Moscheen, Kirchen und Schulen brannten. Schockiert mussten die Niederländer feststellen, wie schnell humanistische Traditionen erodieren und Gewalt sich entzünden kann. Staub arbeitete auch im Kongo, in Burundi und lange Zeit in Ruanda, wo 1994 innerhalb von 100 Tagen 800 000 Tutsis von ihren Landsleuten, den Hutus massakriert wurden, während die Weltöffentlichkeit tatenlos zusah.

Der Holocaust-Überlebende Staub hat in Ruanda seine grundlegende Methodik, den Staub-Pearlman-Approach für die Befriedung von Gesellschaften nach einem Genozid entwickelt. Zwischen 1999 und 2006 gab er seinen präventiven Ansatz in Workshops mit Journalisten, Traumatherapeuten und einheimischen Multiplikatoren weiter. Ziel der Arbeit: die verfeindeten Hutus und Tutsis auf ein friedliches Leben miteinander vorzubereiten.

Gewalt entwickelt sich in kleinen Schritten

Staub kennt die Anzeichen für Gewalt. Er hat sie jahrzehntelang erforscht und beschrieben, etwa in seinem 2015 erschienenen Buch The Roots of Goodness and Resistance to Evil. „Man sagt, Gewalt explodiere. In Wahrheit entwickelt sie sich langsam, in kleinen Schritten“, fasst der Sozialpsychologe einen Teil seiner Erkenntnisse zusammen. Wenn Menschenrechte, menschliche Grundbedürfnisse nach einer positiven Identität, Sicherheit, Wirkmächtigkeit und einem Gefühl von Kontrolle über das eigene Leben nicht erfüllt seien, würden Menschen anfälliger für destruktive Ideologien. Wenn darüber hinaus der innere Frieden durch eine alte Traumatisierung ständig bedroht sei, steige die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung neuer Gewalt.

Im Gespräch mit Psychologie Heute erinnert sich Staub an seinen Einsatz nach dem Genozid in Ruanda: „Eines der wichtigsten Ziele war, einen Prozess der Heilung und Versöhnung einzuleiten.“ Versöhnung ist für ihn, eine neue Haltung gegenüber früheren Feinden einzunehmen und die Vergangenheit nicht mehr die Gegenwart bestimmen zu lassen. Das sei, sagt Staub, harte psychische Arbeit.

Ein erster Schritt sollte in Ruanda mit den Gacacas getan werden, den traditionellen juristischen Versammlungen, in denen die Verbrechen des Genozids geahndet werden. Auf Bitten der national leaders begleiteten Staub und seine Kollegen den Prozess, um eine Retraumatisierung und ein Aufflammen alter Feindschaft abzumildern. Dazu sensibilisierten Staub und sein Team die Beteiligten erstens für die Folgen von Traumatisierung auf Psyche und soziales Leben, und zweitens vermittelten sie ihnen Wissen darüber, wie Konflikte entstehen, sich ausbreiten, aber auch eindämmen lassen. „Die Ursprünge von Gewalt zwischen Gruppen zu durchschauen ermöglicht, auf intelligente Weise Prävention zu betreiben, und es schafft psychische Entlastung.“

Empathie für frühere Feinde entwickeln

Heilung fördern, Versöhnung beginnen und Wissen vermitteln – eine Arbeit, die sich lohnt und viele Formen annehmen kann. In Ruanda etwa entwickelten Staub und sein niederländisches Team ein Radiodrama mit dem Titel New Dawn (Neues Erwachen), das von zwei verfeindeten Dörfern handelt. In die Geschichte sind Botschaften über Eskalation, Prävention und Versöhnung eingewoben. Seit 2004 läuft die Sendung zwei- bis dreimal die Woche für eine halbe Stunde und wird von 90 Prozent der Bevölkerung gehört. Wissenschaftliche Evaluationen belegen: Wer dem Drama regelmäßig zuhört, zeigt im Vergleich zu Mitgliedern der Kontrollgruppe mehr Empathie gegenüber früheren Feinden, ist eher zu Versöhnung bereit und traut sich öfter, die eigene Meinung zu vertreten und danach zu handeln – eine wichtige Entwicklung in einer Gesellschaft, die in der Vergangenheit übergroßen Respekt vor Autoritäten hatte.

Für Staub gehört der moderate Respekt vor Autoritäten zu den wichtigsten Kriterien für die Prävention von Gewalt – in Ruanda und überall auf der Welt. Weitere Kriterien sind: die Entwicklung einer konstruktiven Ideologie anstelle einer destruktiven, die Feindbilder benötigt. Außerdem die Arbeit an einer gemeinsamen Version der Geschichte und gleichzeitig die Bereitschaft, unterschiedliche Sichtweisen zuzulassen. Und deep contact, das heißt Begegnungen und gemeinsame Aktivitäten zwischen Menschen unterschiedlicher Gruppen. Schließlich braucht es auch den Mut zu active bystandership. Damit meint Staub die Fähigkeit von Einzelnen, Gruppen und Regierungen, sich offen gegen Abwertung und Dehumanisierung von Mitmenschen und andere Anzeichen der Eskalation einzusetzen.

Im Jahr 2004 wandte Staub seine Grundsätze in den Niederlanden an. Er glaubt, das niederländische Beispiel lasse sich auf andere europäische Länder mit wachsender muslimischer Bevölkerung übertragen. Jeroen de Lange, Exparlamentarier, berichtete in einem Artikel für das Journal of Peace Psychology, wie gut Staubs Vorschläge geholfen haben, Muslime und christlich geprägte Niederländer in Amsterdam einander näherzubringen: Staubs Modell habe den Politikern nicht nur einen Analyserahmen geliefert, um die aufgeladene Situation zu verstehen, sondern es habe ihnen auch geholfen, Schritte der Integration zu legitimieren.

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Zu den vielen Vorhaben auf ihrer Liste gehörten die Idee eines Veranstaltungs- und Diskussionszentrums, in dem der Islam im Mittelpunkt stehen sollte, die Bildung eines Rates, der jungen Muslimen eine Stimme in der niederländischen Hauptstadt gibt, die Entwicklung einer Fernsehserie, in der Laien die Rollen von weißen Niederländern und Muslimen spielen durften, und ein Projekt, in dem muslimische Kinder die Geschichten ihrer Eltern veröffentlichen konnten. Seit Staubs Besuch sind viele Projekte verwirklicht und manche Gräben schmaler geworden. Deutlich sichtbar etwa in Rotterdam: Dort haben die Niederländer seit Ende 2008 einen muslimischen Bürgermeister, Ahmed Aboutaleb (56), einen Einwanderer aus Marokko.

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. So könnte man die Grundlage für Staubs Ansatz der Versöhnung und Heilung zusammenfassen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Gruppen oder Staaten nicht im geschichtslosen Raum entstehen. Sie haben eine Vorgeschichte, in Ruanda ebenso wie in Syrien, in Nordirland, in Sachsen und in Amsterdam. Um neue gewaltsame Auseinandersetzungen zu verhindern, genügt es an keinem dieser Orte, lediglich die Gegenwart in den Blick zu nehmen. Wenn die Gewaltbereitschaft zunimmt, ist es höchste Zeit, auch einen Blick zurück zu werfen. Prävention beginnt mit der Aufarbeitung der Vergangenheit – und das ist eine zutiefst psychologische und soziale Angelegenheit.

Frieden ist möglich

Engagierte Projekte belegen die Bedeutung psychologischer Friedensarbeit

Psychologen über Grenzen: Weil ihnen das Äquivalent zu den „Ärzten ohne Grenzen“ fehlte, gründeten engagierte Psychologen 2009 in Potsdam die gemeinnützige GmbH „Psychologen über Grenzen“. Sie unterhält nationale und internationale Projekte und arbeitet eng mit dem Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen und international agierenden Ärzteorganisationen zusammen. Einem der Geschäftsführer, Gerd Reimann, gefällt besonders, dass nun auch die Arbeit von Psychologen sichtbarer wird. Schon weil sie nicht länger nur paramedicals heißen, wie bislang in Einsätzen für die Hilfsorganisationen von Ärzten.

Sichtbarkeit ist auch das Ziel eines neuen Projektes der „Psychologen über Grenzen“. Es trägt den Titel „Willkommen in Deutschland“. Es soll Flüchtlingen eine Stimme geben: „Das Deutschlandbild ist meist sehr positiv – trotz der jüngsten Gewalt gegen Flüchtlinge“, sagt Gerd Reimann. Deep contact würde Staub die Gespräche wohl nennen. Oder einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer „konstruktiven Ideologie“.

IPSO: Inge Missmahl ist jungianische Psychoanalytikerin und Gründerin von Ipso (International Psychosocial Organization), die im Auftrag von EU und Auswärtigem Amt das Gesundheitssystem in Afghanistan um eine psychologisch-beraterische Komponente ergänzt hat. Ziel von Ipso ist, die Schwierigkeiten der Menschen in ihrem kulturellen Kontext zu verstehen und sie wieder an ihre Stärke und Selbständigkeit heranzuführen. „Das ist auch Gewaltprävention“, sagt die Psychoanalytikerin. Krieg und Gewalt haben die Menschen vielen traumatischen Erfahrungen ausgesetzt, wenn sie Hilfe bekämen, seien sie weniger anfällig für gewalttätige oder kriegerische Lösungen. Über 300 afghanische Frauen und Männer haben sich bereits von Inge Missmahls Team ausbilden lassen und arbeiten nun als psychosoziale Berater in den Gesundheitszentren Afghanistans. Der manualisierte Behandlungsansatz, den Inge Missmahl und ihre Mitarbeiter entwi­ckelt haben, gibt ein stringentes Vorgehen vor, bei dem die Berater einen Perspektivwechsel vornehmen und gemeinsam mit den Klienten ein Verständnis für die eigene Situation erarbeiten. Die Menschen sollen verstehen, wie es zu ihrem Leid kommen konnte und dass es nicht an ihnen als Individuum liegt. Nach dieser entlastenden Erkenntnis können sie dann leichter tragfähige Visionen für die Zukunft entwickeln.

Mit Unterstützung der Bundesregierung in Berlin entwickelte Ipso außerdem eine Video-Onlinesprechstunde, die in allen Regionen Afghanistans genutzt wird und nun als Re-Import nach Deutschland gekommen ist. Seit März 2016 wurden in Berlin schon 92 Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund in einer einjährigen Weiterbildung zum psychosozialen Counselor ausgebildet. Mittlerweile beraten sie andere Geflüchtete in insgesamt 13 Sprachen in Berlin, Hamburg und Erfurt.

PRENET: Ein weiterer Weg wird in Burundi erprobt, auch von Deutschen. Hier geht es darum, Menschen gegen zukünftige Traumatisierungen zu immunisieren, es geht darum, einen Wall zu errichten, bevor sich der Schrecken in der Seele einnisten kann. Das Verfahren wurde von Anselm Crombach, einem Psychologen an der Universität Konstanz, zusammen mit deutschen und burundischen Psychologen entwickelt. In Burundi setzte Crombach das Verfahren bei 59 von 556 burundischen Soldaten ein, die auf eine Friedensmission nach Somalia entsendet werden sollten. Die Soldaten hatten schon bei früheren Einsätzen und im burundischen Bürgerkrieg traumatische Situationen erlebt. „Wir wollten verhindern, dass sie neue Traumatisierungen in ihr sogenanntes Furchtnetzwerk einbauen und sich ihre Symptome verschlimmern. Stattdessen sollten sie ihre Erfahrungen möglichst schon am Einsatzort bearbeiten und einordnen können“, sagt der Psychologe. Das Verfahren ist einfach und doch hochkomplex: Die Intervention, die PReNET genannt wird, basiert auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und auf der narrativen Expositionstherapie (NET), die an der Universität in Konstanz entwickelt wurde und bereits national und international erfolgreich eingesetzt wird. Im Rahmen von NET lernen Menschen, ihre mit Traumata verbundenen Gefühle nicht mehr zu vermeiden. Vermeidung führe dazu, dass immer wieder Angstgefühle im Hier und Jetzt auftauchen könnten, während die Einordnung in einen historischen Kontext das Furchtnetzwerk schwäche, sagt Crombach. Wenn Menschen mit NET behandelt werden, lerne ihr Gehirn, in neuer Weise zu arbeiten: „Wir stoßen lediglich einen heilsamen Prozess an.“ Studien belegen, so Crombach: „PReNET ist wirksam. Es kann Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleuten und Angehörigen anderer Berufsgruppen helfen, sich auf den Umgang mit neuen traumatischen Erfahrungen vorzubereiten. Das kann die schlimmsten Folgen verhindern.“

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2017: Beziehungsfähig!
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