Von Religion und Verstand

Rationales Denken, Intuition und religiöser Glaube haben nichts miteinander zu tun. Psychologen sahen das bisher anders.

Illustration zeigt auf einer Wiese knienden und betenden Mann, der zu Wolken aufschaut, die wie Gehirne aussehen
Religiöse Menschen entscheiden so rational wie nichtgläubige Zeitgenossen. © Joni Majer

Wieso ist ein Mensch religiös? Was lässt ihn an Übernatürliches glauben? Diesen Fragen gehen Psychologen seit rund zwei Jahrzehnten nach. Bisher gilt in der Psychologie die Intuitive Belief Hypothesis (IBH) als etabliert, wonach der Glaube seinen Ursprung in der Intuition hat. Ein Team von Wissenschaftlern um Miguel Farias von der Coventry University stellt diese Hypothese jetzt auf eine Probe – und zeigte ihre Grenzen auf. Aus Sicht dieser Forscher ist es wahrscheinlicher, dass Sozialisation und Erziehung unsere Neigung zum Glauben prägen. Anders als in der Psychologie bisher angenommen, hat intuitives Denken damit wohl wenig zu tun.

Die Intuitive Belief Hypothesis sagt etwas anderes: Je intuitiver ein Mensch denkt, desto eher ist er vom Übersinnlichen überzeugt und einer Religion zugewandt. Und umgekehrt: Je analytischer und rationaler eine Person ist, desto weniger Raum hat die Intuition – und mit ihr religiöse Überzeugungen. Auch der Zusammenhang zwischen Intuition und übersinnlichem Glauben sei nicht ausreichend belegt, so die Psychologen jetzt.

In drei grundlegend unterschiedlichen Untersuchungen – inklusive Feldforschung und Gleichstromstimulation – belegten die Forscher die Schwäche der Hypothese. Ihre erste Untersuchung war eine Feldstudie. Sie fand während einer Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela statt, und 89 Menschen verschiedenen Alters nahmen an ihr teil. Gemäß der IBH müssten die gläubigen Pilger stärker intuitiv und dadurch weniger analytisch denken.

Glasmurmeln zwischen Intuition und Ratio

In zwei unterschiedlich großen Schüsseln befanden sich bunte und einfarbige Glasmurmeln. Die Probanden sollten versuchen, ohne hinzuschauen vier bunte Murmeln zu ziehen. Die Forscher leisteten Hilfestellung: Sie sagten ihren Teilnehmern, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, die farbigen Kugeln aus der größeren oder kleineren Schüssel zu fischen. „Bei der kleineren Schüssel lag die Wahrscheinlichkeit grundsätzlich höher und entsprach in unserem Spiel der analytischen Entscheidung“, so die Forscher. „Intuitiv hätte man aber die größere Schüssel gewählt, weil darin mehr farbige Murmeln waren.“

27 Prozent der Pilger entschieden alle vier Male analytisch. Das erscheint im ersten Moment wenig. Doch bei dem Originalversuch mit anderen Probanden im Labor hatten nur 18 Prozent in jeder der vier Runden auf ihren Verstand gehört. „Bei den Pilgern schlossen Intuition und analytisches Denken einander nicht aus“, lautet das Fazit von Farias’ Team.

In der zweiten Studie ließen die Wissenschaftler ihre 37 Probanden zwischen 18 und 40 Jahren mathematische Knobelaufgaben erledigen. Einige mussten dabei auch eine dreistellige Zahl im Kopf behalten und in mehreren Subtraktionsaufgaben auf sie zurückkommen. Das sollte ihr analytisches Denkvermögen (Arbeitsgedächtnis) stärker ausschöpfen. Laut der IBH würden sich diese Teilnehmer deshalb stärker als die Kontrollgruppe auf ihre Intuition verlassen – was wiederum ihren Glauben an das Übernatürliche steigern sollte. Außerdem füllten die Freiwilligen Fragebögen über ihre momentane Einstellung zum Übernatürlichen und zu ihrer persönlichen religiösen Haltung aus. Die Probanden mit der zusätzlichen Subtraktionsaufgabe antworteten tatsächlich weniger rational. „Aber einen Zusammenhang zwischen Intuition und dem Glauben an das Übernatürliche konnten wir anhand der Fragebögen nicht beobachten“, lautet das Resümee.

Analytisches Denken beeinflusste religiösen Glauben nicht

Forschern ist heute bekannt: Während eine Person sachlich und rational denkt, hilft ihr die rechte untere Stirnwindung, störende und ablenkende Gedanken auszublenden. Diese Gehirnregion befindet sich einige Zentimeter oberhalb und hinter der rechten Schläfe. „Kürzlich suggerierte eine Studie, dass diese Gehirnregion auch übersinnlichen Glauben hemmt“, schreibt Farias’ Team. Dies wollten die Psychologen in ihrem letzten Experiment erforschen.

Bei 44 Personen im Alter von 18 bis 60 stimulierte das Team die Funktion der Stirnwindung mithilfe feiner Stromflüsse (transkranielle Gleichstromstimulation). Dass ihr Gehirn nun störende Gedanken besser unterdrückte, beobachteten die Wissenschaftler anhand eines Reaktionsspiels. Dann ließen sie ihre Teilnehmer zwei Inventare ausfüllen. Eine Woche später kamen die 44 Freiwilligen erneut ins Labor und beantworteten die Fragebögen nochmals ohne künstliche Stimulierung. „Obwohl die Gleichstromstimulation die Aktivitäten der Stirnwindung und des analytischen Denkens förderte, zeigte sie keinen Einfluss auf den übersinnlichen Glauben und die religiösen Einstellungen unserer Probanden“, berichtet das Team.

Die Sozialisation prägt unseren Glauben

Das Fazit: Intuitives und analytisches Denken schließen sich nicht aus – und es scheint keinen Zusammenhang zwischen Intuition und religiösem oder übernatürlichem Glauben zu geben. Farias und seine Kollegen sind der Meinung, dass die Erziehung und wie eine Person aufwächst, ihren religiösen Glauben prägen. Damit schließen sie sich zahlreichen soziologischen Studien an.

Miguel Farias u. a.: Supernatural belief is not modulated by intuitive thinking style or cognitive inhibition. Scientific Reports, 7/15100, 2017, DOI: 10.1038/s41598-017-14090-9

Illustration zeigt auf einer Wiese knienden und betenden Mann, der zu Wolken aufschaut, die wie Gehirne aussehen
Mann kniet betend auf Wiese und schaut zu Wolken auf, die wie Gehirne aussehen

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2018: Kann ich mich ändern?
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