Herr Peglau, alle psychoanalytische Literatur, alles psychoanalytische Denken wurde im „Dritten Reich“ verboten und alle Psychoanalytiker wurden verfolgt. Stimmt’s?
Nein. Es gab nie ein generelles Verbot der Psychoanalyse oder ihrer Autoren, auch wenn Freuds Schriften der Bücherverbrennung zum Opfer fielen. Diese Deutung haben viele Psychoanalytiker nur lange Jahre vertreten. Tatsächlich ist dies aber entgegen der Realität.
Was stimmt denn?
Vorurteile und Widerstand gegen die Psychoanalyse bestanden seit ihrem…
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der Realität.
Was stimmt denn?
Vorurteile und Widerstand gegen die Psychoanalyse bestanden seit ihrem Beginn. Das stimmt. Hochschullehrer, Ärzte, Pädagogen, vor allem Psychiater, aber auch Theologen kritisierten oft die Betonung von Sexualität, insbesondere frühkindlicher Sexualität. Das spielte auch für viele Nationalsozialisten eine Rolle und insofern war die freudsche Schule in dieser Hinsicht für viele sehr anstößig. Aber dann war die Psychoanalyse – und das war wesentlicher – angeblich jüdisch. Sie war maßgeblich von Juden entwickelt worden, von Juden popularisiert worden und ein Großteil derjenigen, die sich zu den psychoanalytischen Organisationen zusammengeschlossen hatten, waren ebenfalls Juden. Es wurde kein einziger Psychoanalytiker im Nationalsozialismus verfolgt, weil er Psychoanalytiker war, aber es wurden mehrere ermordet – weil sie Juden waren.
Haben andere Psychoanalytiker nicht trotzdem aufgrund des Ursprungs der Lehre Einbußen erfahren?
Es gab keine gesetzlichen Maßnahmen, die sich direkt gegen die Psychoanalyse gerichtet hätten, weder gegen die Berufsausübung noch gegen die Lehre. In ihren Praxen konnten die Analytiker weiterhin psychoanalytische Therapie anbieten und anwenden. Unterdrückt wurde nur ein sehr kleiner Teil der Psychoanalyse. Nämlich deren offen gesellschaftskritische, politisch linke Ausrichtung.
Die Nationalsozialisten verdammten die Psychoanalyse also nicht generell?
Nein, sie waren im Gegenteil sogar sehr interessiert daran und wollten eine Art „arische Psychoanalyse“ schaffen: eine „neue deutsche Seelenheilkunde“. Dabei wurde aber das Wort Psychoanalyse nur relativ selten verwendet, weil die Nationalsozialisten behaupteten, Freuds Konzepte seien schon vor ihm da gewesen. Carus oder Leibniz hätten das alles schon vorher erfunden und der Jude Sigmund Freud habe es sich angeeignet und als etwas Eigenes verkauft – was nicht stimmte. Die Nationalsozialisten sprachen allerdings zumeist von „Tiefenpsychologie“. Dies wurde zu einem der zentralen Begriffe der NS-Psychotherapie.
Woher kam das große Interesse der Nationalsozialisten?
Innerhalb des NS-Gesundheitssystems gab es das Bestreben, der Bevölkerung Psychotherapie recht umfassend zur Verfügung zu stellen. Der Nationalsozialismus suggerierte ja, man sei eine Volksgemeinschaft, die allen nicht schwarzen, nicht jüdischen, nicht linken, nicht schwulen Menschen, allen linientreuen „Ariern“ eine Heimstatt böte. Dazu gehört dann so was wie „Kraft durch Freude“, aber ebenso der Anspruch, ein umfassendes Gesundheitssystem zu haben. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wurde auch versucht, Soldaten mittels Psychotherapie wieder fit für die Front zu machen.
Was wurde dafür getan?
Im Jahr 1936 gründete man ein eigenes Deutsches Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, das sogenannte Göring-Institut, geleitet von Matthias Heinrich Göring, dem Cousin von Hermann Göring. Dort wollte man alle Psychotherapieschulen, die es gab, unter einem gemeinsamen Dach vereinigen.
Wie hat denn die Psychoanalyse auf den Nationalsozialismus reagiert? Sie schreiben in Ihrem Buch: „Ihren Freiraum erkauften sich die Analytiker durch Mitverantwortung und Mitschuld.“
Wie viele Menschen nahmen Freud und andere führende Analytiker an, dass sich Hitler nicht lange halten werde. Deutschland war in der Zeit bis 1933 zum einflussreichsten Land der Psychoanalyse geworden. Insofern wollte Freud nun nicht einfach alles verlorengeben. Er und andere führende Funktionäre der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung [IPV] machten sich Gedanken darüber, wie sie und ihre Institutionen überwintern könnten – sie haben sicher gehofft, dass es ein kurzer Winter werde. Um im Nationalsozialismus nicht weiter verfolgt zu werden, mussten sie sich anpassen. Dazu gehörte, sich von linkspolitischen, marxistischen und gesellschaftskritischen Psychoanalytikern zu trennen. Deren wichtigster Vertreter war Wilhelm Reich, dessen man sich als Erstes entledigte, bereits 1933. Sein Ausschluss wurde dann auf dem IPV-Kongress 1934 in Luzern verkündet. In Österreich, wo Freud bis zu seiner Emigration 1938 nach London lebte, verfolgte die von ihm geleitete Wiener Psychoanalytische Vereinigung einen ähnlichen Anpassungskurs.
Wie ging es in Deutschland weiter?
1935 hat die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft [DPG] von sich aus – in vorauseilendem Gehorsam – alle jüdischen Psychoanalytiker ausgegrenzt. Die Leitung der DPG hat in Abstimmung mit dem internationalen Verband den jüdischen Psychoanalytikern nahegelegt, aus der DPG auszuscheiden. Das haben sie dann auch gemacht. Insgesamt sind etwa 100 bis 130 Psychoanalytiker aus dem Land geflohen.
Bald darauf hat sich die DPG dann dem Göring-Institut angeschlossen. Wurde sie denn dazu gezwungen?
Nein, ganz im Gegenteil. Die DGP bemühte sich sogar sehr darum dazuzugehören. Sie boten dem NS-Institut ihre Räume an, ihre Bücher, auch sich selbst als Mitarbeiter. Nicht alle Analytiker machten mit, ein paar waren auch schon emigriert. Aber die, die geblieben waren, bemühten sich intensiv darum, bei einflussreichen nationalsozialistischen Funktionären deutlich zu machen, wie hilfreich die Psychoanalyse für den neuen Staat sein könne und wie sehr doch die Ziele der Psychoanalyse mit den Zielen der Nationalsozialisten übereinstimmten.
Was haben die Analytiker dafür getan?
Vom Göring-Institut gab es Verbindungen zu der Aktion T4, die den Massenmord von Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen organisierte. Unter Beteiligung der Analytiker erstellten die dortigen Therapeuten dennoch und wohl aus eigenem Antrieb ein „Diagnoseschema“, das bis zu 15 Prozent ihrer Patienten mit der Diagnose „Psychopathie“ versah – die ab 1939 die Ermordung nach sich ziehen konnte. Über eine Ärztin und Psychoanalytikerin ist bekannt, dass sie in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete, Patienten für die Tötung vorsortierte. Und am Göring-Institut versuchte J.H. Schultz, der Erfinder des autogenen Trainings – der allerdings kein DPG-Mitglied war –, auf widerwärtige Art und Weise, Homosexuelle zu „therapieren“. Als Nachweis einer erfolgreichen Behandlung musste ein schwuler „Patient“, um dem Konzentrationslager zu entgehen, im Beisein einer Kommission Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten haben. Als dann der Krieg kam, wurden auch Analytiker für Gutachten über die Schwachpunkte des „Feindes“ und über die Spezifik einzelner Völker herangezogen.
Das klingt nicht mehr nur nach Überwintern.
Der Winter war längst zum Dauerzustand geworden. Und wenn man am Anfang freundlicherweise noch von einer Art Irrtum sprechen möchte, konnte man das später keineswegs mehr. Weil in keiner Weise auch nur versucht wurde, ihn zu korrigieren.
Die Überlebensstrategie, Teil des Systems zu werden, war also in diesem Ausmaß nicht nötig.
Nein. Ein System wie der Nationalsozialismus war für die Menschen andererseits auch unberechenbar. Man konnte sich nie sicher fühlen, und im Krieg verschärften sich die Maßstäbe noch. Insofern lässt sich auch nicht unbedingt sagen: „Irgendwann hätten sie das doch mal kapieren müssen, dass ihnen keiner was tut.“ So einfach war es nicht.
Selbst international hielt sich die Kritik von Psychoanalytikern absolut in Grenzen. 1938 erschien einer der ganz wenigen Artikel zum Nationalsozialismus im American Journal of Psychiatry.
Der kritisierte aber nicht etwa das Regime, sondern dessen Vorgehen gegen Sigmund Freud, dessen Haus durchsucht worden war und dem man den Pass abgenommen hatte.
Und weiter stand sogar im Text: „Wir haben geschwiegen, weil wir sehr wohl wussten, dass es denen, für die wir uns einsetzen würden, nur schaden würde, wenn wir unsere Gefühle der Verachtung und unseren Protest lautstark vorbringen würden.“
Ja, das ist ja eine Ausrede, die zu dieser Zeit viele Leute und Institutionen gebrauchten. Die haben die Analytiker nicht für sich gepachtet, aber sie haben sie gerne verwendet. Wilhelm Reich war bis 1940 der einzige Psychoanalytiker, der öffentlich den NS-Staat attackierte.
Als 1935 die Psychoanalytikerin Edith Jacobssohn verhaftet wurde, weil sie sich in einer Widerstandsgruppe engagierte, bat die deutsche Gesellschaft den internationalen Verband, sich mit Kritik daran zurückzuhalten. Anna Freud monierte sogar, Jacobssohn nehme keine Rücksicht auf die Vereinigung.
Anna Freuds Priorität war, die Psychoanalyse – das Werk ihres Vaters – fortzuführen und zu erhalten. Da blieb sie treu auf seiner Linie. Alles, was dem entgegenstand, war des Teufels. Insofern war jeder eine Gefahr, der Widerstand gegen Hitler leistete, wenn das dazu führte, dass die Psychoanalyse als Fach gefährdet war. Ihnen drohte die Exkommunikation. Oder das Andichten von Charakterschwäche, Neurosen oder sonstigen psychischen Störungen.
Mit Kriegsende wurde das Göring-Institut aufgelöst, schon 1945 die DPG als Berliner Psychoanalytische Gesellschaft neu gegründet. Ein Neuanfang?
Die psychoanalytische Tradition in Deutschland sollte natürlich fortgesetzt werden. Aber nach dem Krieg gab es eine Spaltung. Neben der DPG wurde 1950 die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung [DPV] gegründet – von Carl Müller-Braunschweig. Dieser war in der NS-Zeit Vorstandsmitglied der DPG und einer der Aktivsten bei der Anpassung an den Nationalsozialismus gewesen. 1933 veröffentlichte er etwa ein Memorandum, in dem er die angeblich übereinstimmenden Ziele von NS-Regime und Psychoanalyse beschrieb. Dennoch wurde über Carl Müller-Braunschweigs neue DPV die Legende in die Welt gesetzt, das seien – vereinfacht gesagt – jetzt die guten Analytiker, die, die sich im Nationalsozialismus nicht befleckt hätten. In der DPG seien hingegen die „bösen Analytiker“ geblieben.
Wann wurde das alles aufgearbeitet?
Das begann in den 1980er Jahren. Damals hat der Soziologe Helmut Dahmer das Memorandum von Müller-Braunschweig aus dem Jahr 1933 wiederentdeckt. Dahmer veröffentlichte es in der Zeitschrift Psyche. Daraufhin erlebte er eine heftige Kampagne gegen sich als angeblichen Nestbeschmutzer. Positiv formuliert: Die Aufarbeitung läuft noch. Weniger optimistisch gesagt: Ich habe nicht den Eindruck, dass es bezüglich der Aufarbeitung der NS-Zeit bisher innerhalb der Psychoanalyse zu einem ausreichenden Nach- oder Umdenken gekommen ist.
Wieso? Verdrängung?
Einerseits. Andererseits gibt es eine gewisse Logik. Je mehr sich die Psychoanalyse selbst medizinalisiert hat, desto mehr Analytiker scheinen auch zu denken: „Was interessiert uns denn Politik – und erst recht die von vor 80 Jahren?“ Heute kümmern wir uns lieber um Richtlinien-Psychotherapie.
Hat die NS-Zeit Spuren in der Psychoanalyse von heute hinterlassen?
Ich würde auf keinen Fall behaupten, dass wir es heute noch mit einer braunen oder faschistoiden Psychoanalyse zu tun haben. Das ist weiß Gott nicht der Fall. Einen Zusammenhang gibt es aus meiner Sicht aber insofern, als dass sich die Psychoanalyse damals selbst kastriert hat. Sie war mal viel mehr als eine Psychotherapieform. Sie war eine Weltanschauung. Jetzt ist sie fast nur noch eine Therapie unter vielen. Die Psychoanalyse hat sich selbst langfristig sehr geschadet, indem sie ihre sozialkritischen Aspekte immer mehr verdrängt hat. Ihre gesellschaftliche Bedeutung von einst ist fast verschwunden.
Andreas Peglau ist Psychoanalytiker in Berlin. Sein Buch Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus ist 2017 im Psychosozial-Verlag in dritter, erweiterter Auflage erschienen