Im Gedächtnis der Welt

Sich unverklärt an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern schützt vor dem Verlust der eigenen Identität, sagt Gedächtnispsychologe Jonas Rees. ​

Ein alter Mann in Uniform hält in der Hand zwei alte Fotografien und erinnert sich an den 2. Weltkrieg
An die schönen Momente in Zeiten des Krieges erinnern wir uns lieber. © Peter Garrad Beck/Getty Images

Herr Rees, die meisten Deutschen haben keine eigenen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Ist es ihnen dann überhaupt noch wichtig, sich mit dieser Zeit intensiv auseinanderzusetzen?

Eindeutig ist diese Frage nicht zu beantworten. In unseren Umfragen benennen etwa 40 Prozent die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg als wichtigstes Kapitel der deutschen Geschichte, ähnlich viele finden aber die Wiedervereinigung wichtiger.

Wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, haben wir es zudem nicht nur mit der einen…

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wichtiger.

Wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, haben wir es zudem nicht nur mit der einen Erinnerung zu tun. Wir finden inzwischen mindestens zwei miteinander konkurrierende Narrative: Das eine handelt von deutscher Täterschaft oder von historischer Verantwortung, die politisch mit dem institutionellen Gedenken beschworen wird. Das andere Narrativ sind Deutsche, die Opfer waren oder potenziellen Opfern geholfen, also zum Beispiel Juden versteckt haben. Zwischen diesen beiden Erzählungen darüber, was uns historisch ausmacht, verläuft ein Riss durch das kollektive Gedächtnis und das kollektive Selbstverständnis der Deutschen.

Geht denn das überhaupt, sich kollektiv an etwas zu erinnern?

Ja, ähnlich wie ein Individuum verfügen auch Gruppen von Menschen über ein Gedächtnis oder stellen eines her, indem sie Erzählungen über die Vergangenheit teilen. Es entsteht ein kollektives Gedächtnis. Die Idee des kollektiven Gedächtnisses, so wie es heute wissenschaftlich verstanden wird, geht auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs zurück, der übrigens 1945 im KZ Buchenwald an den Folgen der Inhaftierung starb. Auch die Psychoanalytiker Sigmund Freud und Carl Gustav Jung machten sich schon Gedanken über ein kollektives Gedächtnis.

Wie kann ich mir das vorstellen?

Erinnern Sie sich noch an den 11. September 2001?

Ja, ziemlich gut sogar. Ich war an dem Tag ab dem späten Nachmittag zu Hause, schaute bis Mitternacht Fernsehen und telefonierte zwischendurch immer wieder mit Freunden.

Es ist doch faszinierend, dass die meisten von uns sich noch daran erinnern, mit wem wir zusammen waren oder wie wir uns gefühlt haben. Neben den Inhalten erinnern wir aber auch Bilder, Geräusche, manchmal Gerüche, die oft sehr emotionale Anteile haben. Solche Erinnerungen wie die an den 11. September nennt man Blitzlichterinnerungen, die oft ganze Regionen und Generationen verbinden. Es entsteht eine kollektive Erinnerung. 

Wir sprechen über solche kollektiven Erinnerungen und lassen sie dadurch zu unserer eigenen Geschichte werden, indem wir sie ausschmücken oder Teile weglassen. Weil wir sie immer wieder teilen, werden die Erinnerungen zu einer zutiefst sozialen Erfahrung. Sie geben uns Richtung und definieren, wer wir sind und warum wir sind, wie wir sind. Wenn wir von nationaler Erinnerungskultur sprechen, definieren kollektive Erinnerungen auch, was von uns erwartet wird und wie andere Länder uns sehen. Erinnern ist so gesehen immer auch hochpolitisch.

Und entsprechend umkämpft.

Ja, spätestens seit Richard von Weizsäckers berühmter Rede 1985 gibt es die Diskussion darum, ob das Ende des Zweiten Weltkriegs für die Deutschen Befreiung oder Niederlage war. Das ist auch heute noch umstritten, weil der Begriff der Befreiung in gewisser Weise nahelegt, dass die Deutschen 1945 Unterdrückte waren, die von den Alliierten nur noch befreit werden mussten. Das verschleiert, dass ein Großteil der Deutschen das nationalsozialistische System unterstützte, und davon profitiert oder es zumindest geduldet hat. Mit der Sprache, mit der wir Geschichten erzählen, erzählen wir viel mehr als nur den bloßen Inhalt.

Welche Rolle spielen beim kollektiven Erinnern die Medien?

Digitale Medien werden immer wichtiger dafür, manchmal wird schon von „Erinnerungskultur 2.0“ gesprochen. Darin liegt einerseits das Potential, Erinnerungen zu speichern, die sonst verloren gehen würden. Andererseits droht dann manchmal die Technik den Inhalt in den Hintergrund zu drängen. Und natürlich haben wir gerade bei Online-Quellen das Problem, dass hier gängige Mechanismen der Überprüfung außer Kraft gesetzt werden und auch fragwürdige Behauptungen verbreitet werden können. Statt zu einer gemeinsamen Erinnerung können gerade die neuen Medien so eher zu einer weiteren Zersplitterung der Erinnerung beitragen.

Wie sich erinnert wird, hängt aber auch von der Aufarbeitung ab, oder?

Stimmt, in anderen europäischen Ländern war der Aufarbeitungsdruck im Fall des Zweiten Weltkriegs sicherlich weniger groß als in Deutschland. Im Ausland wie auch in innerdeutschen Diskursen gelten wir oft als Beispiel einer gelungenen Geschichtsaufarbeitung und in vielerlei Hinsicht ist das richtig. Aber wir hatten auch keine Wahl, weil wir von den Alliierten und der Weltgemeinschaft zur Rechenschaft gezogen wurden.

Welche Rolle spielt denn der Zweite Weltkrieg heute in den anderen Ländern, die an ihm beteiligt waren?

Die europäische Erinnerung ist oft gespalten, weil die Geschichten, wie es zum Zweiten Weltkrieg kommen konnte und welche Rolle die eigene Gruppe oder Nation gespielt hat, sich zum Teil erheblich unterscheiden. Auffällig ist, dass wir archetypische Rollenverteilungen und Selbstbilder finden. Es gibt einen Bösewicht, das sind die Täter, also die Deutschen und ihre Verbündeten Italien und Japan. Dann gibt es die Helden: die Alliierten mit Großbritannien, USA, Russland. Und schließlich eine Gruppe, die man vielleicht die Übertölpelten nennen kann, also die, die sich haben blenden lassen oder nicht rechtzeitig reagiert haben wie britische und französische Politiker. Natürlich ist die Versuchung groß, sich nachträglich selbst als Held zu konstruieren, weil die anderen Rollen eher unattraktiv sind. So findet man in allen Erinnerungskulturen außer der deutschen eine Überbetonung von Heldenmut und Widerstand.

Wo ist das so?

Ein prominentes Beispiel ist Polen. Dort ist es seit vorletztem Jahr unter Androhung von Strafen verboten, dem polnischen Staat oder dem polnischen Volk eine Mitverantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu geben. Viele befürchten, dass damit Diskussionen über polnische Kollaborateure und Mittäter unterbunden und Erinnerungen an Täter- oder Mitwisserschaft aus dem kollektiven polnischen Gedächtnis getilgt werden.

Welche Sichtweise herrscht denn in Italien? Dort können Touristen immerhin Küchenschürzen mit dem Bild von Mussolini kaufen oder Hitlers Buch Mein Kampf.

Obwohl Italien zu den Achsenmächten und den Verlierern des Krieges gehörte, kursieren auch hier viele Geschichten von Heldentum und Widerstand. Natürlich gab es auch Widerstand, aber er wird überbetont. Interessant ist, dass junge Erwachsene und Studierende oft schockiert sind, wenn sie von italienischen Kollaborateuren hören. Für weite Teile der Bevölkerung ist es selbstverständlich, dass ganz Italien im Widerstand gegen die Nationalsozialisten war. In vielen Familien kennt man einen Verwandten, der in der Resistenza dabei war. Aber die eigene faschistische Geschichte ist nicht richtig aufgearbeitet worden. Eine auf diese Art verklärte Erinnerung belastet weniger, da mag es leichterfallen, sich eine Küchenschürze umzuhängen, die daran erinnert.

Vor kurzem veröffentlichte die Universität von Washington eine Umfrage unter Studierenden aus acht Nationen der damaligen Alliierten. Die Wissenschaftler fragten die Teilnehmer, wie groß der Beitrag des eigenen Landes am Sieg gegen Deutschland gewesen sei. Die Befragten schätzten in den meisten Fällen das eigene Land als hauptverantwortlich dafür ein. Wie lässt sich das erklären?

Das Phänomen kennen wir auch aus dem Alltag. Es gibt die berühmten Studien, in denen Menschen gefragt werden, ob sie sich im Vergleich mit dem Durchschnitt als über- oder unterdurchschnittlich intelligent einschätzen. Der Großteil der Menschen hält sich für überdurchschnittlich intelligent. Eigentlich müsste sich etwa die Hälfte über- und die andere unterdurchschnittlich intelligent fühlen, denn so ist der Durchschnitt definiert. Dazu passt auch ein spannender Befund aus unseren eigenen Arbeiten. Wir haben gefragt: Stellen Sie sich vor, Sie hätten selbst in der NS-Zeit gelebt – wie hätten Sie sich verhalten? Nur knapp zehn Prozent sagten, sie wären Täter geworden, aber fast zwei Drittel meinten, sie hätten Verfolgten geholfen.

Gerät die eigene Täterschaft in Vergessenheit?

Ja, wir stellen gerade in Deutschland fest, dass die Täterschaft zunehmend aus der kollektiven Erinnerung verschwindet. Wenn wir etwa fragen, ob Menschen von eigenen Vorfahren wissen, die Täter, Opfer oder Helfer während des Zweiten Weltkriegs waren, dann berichtet jeder Zweite von Opfern, ungefähr 18 Prozent berichten von Helfern, die zum Beispiel Juden versteckt haben, und nur 18 Prozent kennen auch Täter.

Auch erleben wir regelmäßig Versuche, die Täterschaft auf Einzelpersonen zu reduzieren, etwa Hitler als raffinierten Verführer. Solche Vereinfachungen können der Entlastung dienen. Zum Beispiel von Gruppen wie der Wehrmacht, die lange als „sauber“ galt, bis Forschung und die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht diesen Mythos korrigiert haben. Auch die deutsche Bevölkerung wird gerne entlastet, die gesellschaftlichen Dynamiken werden in personalisierten Erzählungen außenvor gelassen.

Gerade mit solchen Dynamiken müssen wir uns aber befassen, wenn wir die Idee ernst nehmen, aus Geschichte zu lernen. Wenn wir aber die unbequeme Erinnerung an die Täterschaft vermeiden oder uns auf Einzelpersonen fixieren, besteht die Gefahr, dass systematisch Dinge in Vergessenheit geraten, die wichtig wären zu erinnern.

Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn sie kollektiv ein Ereignis im Gedächtnis wegschiebt?

Ich würde nicht so weit gehen, daraus auf die psychi­sche Verfassung einer ganzen Gesellschaft zu schließen. Allerdings: Je mehr im kollektiven Erinnern einer Gesellschaft verschwiegen wird, desto anfälliger wird sie für Umdeutungen und Angebote von Populisten, die genau an solchen Erinnerungslücken ansetzen. Die beliebte Masche dabei ist, an den dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte anzusetzen und ein Umdeutungsangebot zu machen. Nach dem Motto „So schlimm war es nicht“ oder „Wir waren auch Op­fer“ oder „Wir wollen auch wieder stolz sein“.

Wie sehen eigentlich Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, den Zweiten Weltkrieg und die NS-Zeit?

Die Vermutung liegt nahe, dass sie anders auf den Zweiten Weltkrieg blicken. Aber in unseren Untersuchungen zeigt sich immer wieder, dass Menschen mit Migrationsgeschichte sich genauso häufig mit dem Zweiten Weltkrieg und der NS-Zeit auseinandersetzen wie Deutsche ohne ausländische Vorfahren. In einer Studie fragten wir zum Beispiel, wie intensiv sich die Bürger mit der NS-Geschichte befassen, also wie häufig sie Bücher lesen oder Gedenkstätten besuchen, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Die Antworten der Befragten mit und ohne Migrationshintergrund unterschieden sich nicht: Ungefähr drei Viertel der Deutschen lesen Sachbücher und Romane zum Thema, dabei spielt Migrationshintergrund überhaupt keine Rolle. Außerdem hat fast die Hälfte aller Deutschen schon mindestens einmal im Leben eine KZ-Gedenkstätte besucht, wiederum unabhängig vom Migrationshintergrund. Vielleicht verrät am Ende die ständige Frage nach dem Migrationshintergrund mehr darüber, wie wir Deutschsein immer noch verstehen als es tatsächlich Unterschiede in unserer Gesellschaft gibt.

Welche Auswirkungen hat es auf Gesellschaften, wenn sich Menschen aus verschiedenen Ländern über die Vergangenheit austauschen?

Wir lernen andere Kulturen und Menschen erst richtig kennen, wenn wir auch ihre Geschichte verstehen. Vor allem aber kann ein persönlicher Austausch über die Vergangenheit helfen, Gemeinsamkeiten zu finden, zum Beispiel geteilte Schicksale. Zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten auf der Welt gibt es in vielen Familien, auch in deutschen, Erfahrungen von Opferwerdung und Flucht. Da wäre eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gut, besonders wenn man sich ansieht, in welcher Weise wir zuletzt oft über Menschen sprechen, die vor Krieg und Verfolgung in ihrer Heimat zu uns nach Europa oder Deutschland flüchten.

Hilft eine Erinnerung, damit sich schreckliche Ereignisse nicht wiederholen?

So einfach ist das leider nicht. Es gibt ja die umstrittene Immunisierungsidee, die besagt, dass man durch Erinnern aus der Geschichte lernen kann. Aber entscheidend ist, wie und was genau man erinnert, also ob es eine ritualisierte, hohle Erinnerungskultur ist mit Reden und Kranzniederlegungen oder ob sie mit Emotionen und kritischer Auseinandersetzung verbunden ist. In Deutschland, aber auch anderswo sehen wir eigentlich immer beides. Es geht dabei nicht um die bloße Erinnerung der Vergangenheit, sondern auch um die Gegenwart und wie wir für die Zukunft lernen. Der alleinige Blick zurück schafft Distanz, weil wir dann denken, die Vergangenheit sei doch vergangen und heute seien wir so viel weiter.

Der Sieg über Nazideutschland wird in Großbritannien immer groß gefeiert – mit Paraden und Gottesdiensten. Was sagt das über die britische Erinnerungskultur aus?

Vieles, was wir an einzelnen Menschen beobachten, sehen wir auch – sicherlich nicht eins zu eins – an Gruppen. Emotionen sind ein typisches Beispiel im Kontext von Erinnerungskultur. Wir kennen Emotionen wie Schuld, Scham und Stolz ganz persönlich, aber auch stellvertretend für Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen. Stolz spielt bei den britischen Feierlichkeiten eine große Rolle. Um die Briten zu verstehen, muss man beachten, dass für viele das Empire immer noch ein wichtiger Höhepunkt der eigenen Rolle in der Welt ist.

Der Verlust an Bedeutsamkeit ist eine nie ganz überwundene Kränkung im kollektiven britischen Selbstbild. Die Befürworter des Austritts aus der EU, die in Westminster jeden Tag protestierten, hielten Plakate hoch, auf denen „Make Britain great again“ stand. In dieser Forderung, dem eigenen Land wieder zu Größe zu verhelfen, steckt die Idee, dass Großbritannien einmal groß und bedeutsam war. Dazu gehört auch die Unterwerfung der Nazis. Eine Siegerkultur tut dem Ego erst einmal gut. Aber wenn die eigenen Schwächen außer Acht gelassen werden, birgt das immer eine Gefahr.

Welche denn?

Viele Briten empfinden Stolz auf eine imaginierte gute alte Zeit. Wenn Gruppen sich aber nur auf positive Aspekte konzentrieren, entwickeln sie eine Art kollektive Überheblichkeit. Es ist immer gefährlich, wenn Verfehlungen aus der Vergangenheit systematisch ausgeblendet werden. Daher ist es wichtig, sich an gute wie auch an schlechte Aspekte zu erinnern.

Wie erinnern sich außereuropäische Länder, zum Beispiel Japan, an den Zweiten Weltkrieg?

Die japanische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist besonders zerrissen zwischen Täter- und Opferschaft. Das ist historisch verständlich, denn die Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis war ein tiefgreifender Einschnitt und hat unzählige Menschenleben gefordert. Aber die eigene Täterschaft, die wiederum Millionen von Menschenleben gekostet hat, wird in Japan nicht oder nur selten bearbeitet. Hier überwiegt immer noch das Deutungsangebot der Opferschaft. Japanische Gräueltaten und Verbrechen passen nicht zu diesem Selbstbild und werden nur selten erinnert. Wenn doch, dann oft nicht von offizieller Seite, sondern von Privatpersonen oder Initiativen.

Aber lebt es sich nicht auch leichter, wenn man sich nicht erinnert und keine Schuld eingesteht?

Ich finde es gefährlich, Erinnerung und Aufarbeitung auf den Begriff Schuld zu reduzieren.

Wieso?

Das Gefühl von Schuld wird von den Befragten in un­seren Studien zur Erinnerung an die NS-Zeit am seltensten berichtet. Es stecken vielmehr noch andere Emotionen dahinter, wie Wut, dass so etwas Schreckliches geschehen ist, aber auch die Scham, wie in anderen Ländern über Deutschland gedacht wird. Die emotionale Erinnerung ist viel reichhaltiger als Schuld. Das lässt sich vergleichen mit dem persönlichen Erleben. Egal ob wir jemandem absichtlich oder unabsichtlich geschadet haben, wir tragen diese Erinnerung oft so lange mit uns herum, bis wir sie aufgearbeitet haben.

Was geschieht eigentlich, wenn eine Gesellschaft die Erinnerungen an ein prägendes Ereignis verliert?

Ich bin der Auffassung, dass Erinnern nie aufhört. Wenn wir die Erinnerung an eine prägende Erfahrung verlieren, laufen wir Gefahr, uns selbst zu verlieren. Provokant könnte man fragen: Wer sind wir eigentlich noch, wenn man uns unsere Erinnerungen nimmt? Sie machen uns doch aus, im Guten wie im Schlechten, als Einzelne und in der Gruppe. Egal welches Kapitel unserer Geschichte wir verleugnen, wir verleugnen immer einen Teil von uns selbst.

Aber so wie der Erste Weltkrieg in Vergessenheit geraten ist, wird irgendwann auch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg schwinden.

Das kann passieren, denn bei kollektiven Erinnerungen gibt es eine Art Erinnerungshorizont. Irgendwann verschwinden dahinter auch Ereignisse, die sehr wichtig waren. Wenn der Bezug zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen abreißt, geht alles verloren, was bis dahin nicht ins kulturelle Gedächtnis übertragen wurde. In der letzten Zeit erleben wir verstärkt – in Deutschland und anderswo –, dass Versuche unternommen werden, die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg infrage zu stellen oder zu relativieren. Wie gehen wir als Gesellschaft damit um? Es ist eine Herausforderung, die Diskussion darüber zu führen, was uns ausmacht und was das bedeutet. Es ist unsere Geschichte, wir sollten sie weder einfach hergeben noch vergessen.

Dr. Jonas Rees ist Sozialpsychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, wo er seit 2017 mit Unterstützung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft zur Erinnerungskultur in Deutschland forscht.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2020: Männer und ihre Mütter