Voller Wut

Frauen werden ebenso wütend wie Männer. Sie scheinen sogar die besseren Terroristen zu sein. Überraschende Erkenntnisse über weibliche Wut.

Die Frau reagiert anders als der Mann. Denn die Frau ist anders als der Mann. Sie frisst Ärger, Kummer, Sorgen viel eher in sich hinein. Sie trägt mit sich herum, was für den Mann längst kein Problem mehr ist.“ Dieser Text diente vor einigen Jahrzehnten als Reklame für ein Produkt namens „Frauengold“, einen kommerziell recht erfolgreichen alkoholischen Stärkungstrunk.

„Die gesellschaftliche Tradition hält (…) vor allem Frauen davon ab, sich ihrer Wut bewusst zu werden und ihr offen Ausdruck zu geben.“ Das…

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zu werden und ihr offen Ausdruck zu geben.“ Das schreibt die amerikanische Therapeutin Harriet Lerner in Wohin mit meiner Wut?, einem Bestseller aus den 1970er Jahren.

Und noch Anfang 2016 hieß es im Nachrichtenmagazin Der Spiegel: „Es stimmt, dass viele Frauen sich nicht trauen, wütend zu sein, und stattdessen die Schuld für alles bei sich suchen.“

Man findet viele solcher Aussagen in allen möglichen Quellen. Sie sind Ausdruck dessen, was wir in unserem Alltagsverständnis für wahr halten. Wir denken, Wut sei eine eher männliche Emotion. Dass Gene und Hormone dafür verantwortlich seien. Dass Frauen ihre Wut eher für sich behalten, seltener aggressiv werden und so weiter.

All das klingt einleuchtend. Trotzdem ist es nicht gerade die genaue Wahrheit. Studien über Studien haben in den vergangenen Jahren die Wut der Frauen untersucht – und dabei einige weitverbreitete Annahmen als Irrtum entlarvt.

1. Irrtum: „Frauen empfinden weniger Wut als Männer“

Die forschende Psychologie hat erst in den 1980er Jahren begonnen, Gefühle systematisch mithilfe von Fragebögen zu untersuchen, und widerlegte fast durchgehend das Vorurteil von der Wut als „männlicher“ Emotion. „Wenn es um die empfundene Wut geht, können wir im Wesentlichen keine Unterschiede zwischen den Geschlechter feststellen“, schreiben die US-Psychologen Catherine Stoney und Tilmer Engbretson in ihrem Forschungsbericht. Zum selben Ergebnis kommt die Metastudie des britischen Aggressionsforschers John Archer: „Wut kennt keine Geschlechterunterschiede.“ Anders gesagt: Frauen werden genauso oft und genauso sehr wütend wie Männer. In manchen Situationen ist ihre Wut sogar größer. Etwa dann, wenn sie gerade versuchen, sich das Rauchen abzugewöhnen. Experten sehen darin gar den wichtigsten Grund dafür, dass weibliche Raucher häufiger rückfällig werden als ihre männlichen Schicksalsgenossen.

2. Irrtum: „Frauen unterdrücken ihre Wut – Männer lassen sie raus“

Zurückgehaltene Wut ist schwer zu beobachten. Psychologen arbeiten deshalb auch hier mit Fragebögen: Man lässt die Leute einfach selbst erzählen, was sie fühlen und wie es ihnen geht. Dabei zeigt sich etwas Erstaunliches: Sobald man größere Bevölkerungsgruppen untersucht, sind es gar nicht die Frauen, die ihre Wut für sich behalten – sondern eher die Männer. Dass das aus gesundheitlicher Perspektive keine gute Idee ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Unterdrückte Wut fördert Herzinfarkte. Wer sich ärgert und das für sich behält, schneidet in Verhandlungen schlechter ab – weil er aufhört, sich auf sein Verhandlungsziel zu konzentrieren. Wütende Menschen sprechen auch schlechter auf Schmerztherapien an. Sie leiden besonders stark, wenn sie chronisch krank werden. Unterdrückte Wut erhöht im Übrigen das Risiko, depressiv zu werden – zumindest in westlichen Industriegesellschaften (der Effekt fällt in fernöstlichen Ländern erheblich schwächer aus).

Doch wenn Männer eher dazu neigen, ihre Wut herunterzuschlucken und das wiederum die Entwicklung einer Depression begünstigt – wie kommt es dann, dass Ärzte bei Frauen etwa doppelt so häufig eine Depression diagnostizieren wie bei Männern? Die einfache Antwort: Viele Studien zeigen, dass Frauen tendenziell besser darin sind, ihre Gefühle zu artikulieren. Sie suchen eher Hilfe, wenn es ihnen schlechtgeht. Männer tun das seltener. Wer aber nicht zum Arzt geht, für den gibt es auch keine Diagnose.

Unterm Strich ist also festzuhalten: Männer können ihre Gefühle weniger gut zeigen als Frauen. Und das Gefühl namens „Wut“ macht dabei keine Ausnahme.

3. Irrtum: „Wütende Männer schlagen ihre Frauen – aber nicht umgekehrt“

Aus Wut wird manchmal Gewalt. Wer bekommt sie zu spüren? In den meisten Fällen: die Familienangehörigen – vor allem die jeweiligen Partner. Viele Forscher, die sich mit häuslicher Gewalt befassen, bekommen ihre Zahlen von dort, wo man die Opfer findet: aus Frauenhäusern, aus den Akten der Polizei, von Ärzten, Zahnärzten, aus der Notaufnahme des Kreiskrankenhauses. Die Tendenz ist in all diesen Studien dieselbe: In den allermeisten Fällen schlagen die Männer ihre Ehefrauen. Eine kriminalstatistische Auswertung des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2016 zeigt: 81,8 Prozent der Opfer waren Frauen. Das Klischee vom aggressiven Mann und der deutlich weniger aggressiven Frau scheint sich also zu bestätigen.

Es gibt jedoch noch eine zweite Forschungsrichtung, die mit völlig anderen Methoden arbeitet. Sie nimmt einfach einen repräsentativen Querschnitt von Menschen, die in einer Partnerschaft leben, und fragt nach, ob es im vergangenen Jahr zu gewalttätigen Zwischenfällen innerhalb der Beziehung gekommen ist. Diese Methode ist seit den 1970er Jahren gebräuchlich – und erzielt verblüffende Ergebnisse: Hunderte von Studien dieser Art auf der ganzen Welt zeigen nämlich, dass Gewalt innerhalb der Ehe etwa zu gleichen Teilen von Männern wie von Frauen ausgeht. Frauen werden demnach genauso gewalttätig wie Männer.

Das sind verwirrende Zahlen, die nicht recht zueinander passen wollen. Entsprechend rau und verbittert ist bisweilen der Ton, in dem die Vertreter der beiden genannten Forscherschulen ihre Ergebnisse diskutieren. „Wenn man aber genauer hinsieht, bemerkt man, dass beide Seiten recht haben“, erklärt Michael Johnson. Der Soziologe von der Pennsylvania State University hat fast sein komplettes Berufsleben mit der Erforschung häuslicher Gewalt zugebracht. Seine Erklärung ist so einfach wie originell: Hinter den Studien stehen zwei verschiedene Formen von Gewalt, zwei vollkommen unterschiedliche psychologische Phänomene, die nur auf den ersten Blick gleich aussehen. Die eine Geschichte ist jene, die man in den allgemeinen Umfragen findet: Ein Paar ist nicht einer Meinung, man beginnt einen Streit, dann wird der Ton lauter – irgendwann kriegt man sich in die Wolle, es kommt zu Stößen, womöglich zu Ohrfeigen, Haare werden gezogen, Tritte verteilt, Rotweingläser zerschellen an Küchenwänden. „Dies ist die mit Abstand häufigste Form partnerschaftlicher Gewalt“, sagt Johnson. Ungefähr jedes achte Paar hat so etwas schon einmal erlebt. In diesen Fällen der „situationalen Partnergewalt“ ist die Frau etwa genauso häufig Täter wie der Mann. Häufig spielt Alkohol dabei eine Rolle. Ein zweiter wichtiger Faktor: Einer der Partner hat generell Probleme, seine Wut zu zügeln.

Die andere Geschichte ist etwas, das Michael Johnson als intimen Terrorismus“ bezeichnet: Einer der Partner versucht, das ganze Leben des anderen zu kontrollieren – häufig aus einem Gefühl emotionaler Abhängigkeit heraus. Die Strategien sind dabei vielfältig: Man verbietet dem Partner Treffen mit Freunden, beschneidet seine sozialen Aktivitäten, kontrolliert sein Leben über Geld, die Kinder – oder mit Schlägen. Und tatsächlich zeigen Michael Johnsons Untersuchungen: Diese Form der Gewalt geht in den allermeisten Fällen von Männern aus. Häufig ist sie chronisch und endet für die Opfer in Frauenhäusern oder in der Klinik. Manchmal sogar tödlich. Intimer Terrorismus ist gefährlicher, aber auch deutlich seltener als die situationale Partnergewalt. Je nach Untersuchung findet man ihn nur bei zwei bis vier Prozent aller Paare.

Fazit: Der weibliche Anteil an häuslicher Gewalt ist viel höher, als die meisten glauben; Wut spielt dabei eine große Rolle. Männliche Gewalt ist häufiger motiviert durch Macht und Kontrolle. Und sie ist im Durchschnitt wesentlich gefährlicher.

4. Irrtum: „Es liegt an der Biologie – an den Hormonen und den Genen“

Klar: Biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern existieren. Und zumindest in der Alltagserfahrung scheint es Frauen zu geben, bei denen der Zyklus Einfluss auf ihre Wut hat, ihren Ärger, ihre Reizbarkeit. Die Wissenschaft hat diese Beobachtung überwiegend bestätigt – und das nicht nur in westlichen Industrienationen. Die Ursache für die erhöhte Reizbarkeit in den Tagen vor den Tagen sehen viele Mediziner im schwankenden Serotoninhaushalt der betroffenen Frauen. Mit anderen Worten: Hormone spielen eine Rolle.

Aber vermutlich sind sie nur ein kleiner Teil der Geschichte. Besonders feministische Wissenschaftler weisen immer wieder darauf hin, dass auch kulturelle Faktoren einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie Männer und Frauen ihre Wut erleben und ausagieren. Einen beeindruckenden Beweis für diese These lieferte ein Experiment der Organisationspsychologin Kristi Lewis von der Western Washington University. Lewis wollte wissen: Wie beurteilen wir die Führungsqualitäten von Vorgesetzten, wenn diese emotional handeln? Das Ergebnis: Ein männlicher Vorgesetzter verliert seine Autorität, wenn er zum Beispiel Trauer offenbart. Echte Männer weinen nicht. Zeigt er jedoch seine Wut, sehen wir ihn immer noch als „guten“ Chef. Für weibliche Vorgesetzte liegen die Dinge anders. Wir verlieren den Respekt vor ihnen nicht nur, wenn sie vor uns weinen – sondern auch dann, wenn sie wütend werden. Die Lehre aus der Lewis-Studie: Wenn Frauen in unserer Gesellschaft etwas erreichen wollen, sollten sie ihre Gefühle für sich behalten. Sie müssen kühler und beherrschter auftreten als die Männer, mit denen sie um einen Posten konkurrieren.

5. Irrtum: „Krieg und Terror sind Männersache“

„Männer führen Kriege“, singt Herbert Grönemeyer seit vielen Jahren. Frauen, so glauben wir, tun das eher nicht. Und doch hat es seit je weibliche Kämpfer und weibliche Terroristen gegeben. Wie verhalten sich Frauen, wenn sie Waffen tragen oder Teil des Terrors werden?

In den frühen 1990er Jahren erschien ein Sachbuch, das sich in mehreren ausführlichen Interviews mit den Motiven von Terror-Aktivistinnen auseinandersetzte. Die Autorin Eileen MacDonald sprach dabei auch mit Vertretern staatlicher Anti-Terror-Einheiten. Zum Beispiel mit Christian Lochte, dem damaligen Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes. Über den Umgang mit gemischtgeschlechtlichen Terrorgruppen verriet er ihr: „Für jeden, dem sein Leben lieb ist, ist es eine ausgesprochen gute Idee, sich die Frauen zuerst vorzunehmen. Meiner Erfahrung nach haben Terroristinnen einen stärkeren Charakter, mehr Durchsetzungskraft, mehr Energie. Es gibt Beispiele dafür, dass Männer einen Moment zögerten, ehe sie schossen, während Frauen sofort abdrückten. Das ist ein allgemeines Phänomen bei Terroristen.“ MacDonald benannte ihr Buch nach einem Motto, das damals angeblich als Grundsatz bei der GSG 9 galt: Shoot the women first (Erschießt zuerst die Frauen).

Fazit: Frauen werden ebenso wütend wie Männer. Sie fressen Wut seltener in sich hinein, als Männer das tun. Sie wenden ihren Partnern gegenüber viel häufiger Gewalt an, als wir glauben, sie scheinen sogar die besseren Terroristen zu sein. All das widerspricht den gesellschaftlich überlieferten Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit.

Vielleicht hatten vergangene Zeiten einen weiseren Zugang zu Geschlechterkonzepten. Diesen Verdacht erweckt eines der ältesten literarischen Werke deutscher Sprache, das „Nibelungenlied“. Das Epos beantwortet eine grundlegende Frage: Was ist das Gefährlichste, das einem im Leben begegnen kann?

Es ist nicht der Drache, der Feuer speit. Nicht der blonde Krieger, der den Drachen erschlägt. Sondern die Frau, die wirklich wütend wird.

Literatur

Raina D. Pang; Adam M. Leventhal: Sex Differences in Negative Affect and Lapse Behavior during Acute Tobacco Abstinence: A Laboratory Study. Experimental and Clinical Psychopharmacology, Vol 21 (4), 2013, 269-276

Michael P. Johnson: A Typology of Domestic Violence: Intimate terrorism, violent resistance, and Situational Couple Violence, Northeastern University Press 2008

Laura Sjoberg, Caron Gentry: Mothers, Monsters, Whores: Women's Violence in Global Politics, Zed Books Ltd 2007

Archer, John: Sex Differences in Aggression in Real-World Settings: A Meta-Analytic Review. Review of General Psychology, Vol 8 (4), 2004, 291-322

Kristi Lewis: When Leaders Display Emotion: How Followers Respond to Negative Emotional Expression of Male and Female Leaders, Journal of Organizational Behavior, 21, 2000, 221-234

Catherine M. Stoney, Tilmer O. Engebretson: Anger and Hostility: Potential Mediators of the Gender Difference in Coronary Heart Disease, in: Anger, Hostility and the Heart, Psychology Press, 1995, 215 ff

Eileen MacDonald: Erschießt zuerst die Frauen, Klett-Cotta 1992

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2017: Schwäche zeigen!