Der Mann, der Affen beim Denken zuschaute

Er war Kopf der Gestaltungspsychologie und stellte sich den Nazis entgegen: Ein Porträt über Wolfgang Köhler anlässlich seines 50. Todestages.

Sultans Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Er sitzt in einem vergitterten Gehege, draußen liegt, außerhalb der Reichweite seiner Arme, eine Banane. Sultan ist einer von sieben Schimpansen der deutschen Anthropoidenstation auf Teneriffa und Hauptakteur in einem Experiment, das sich Wolfgang Köhler, seit 1914 Leiter der Station, für ihn ausgedacht hat. Aber das weiß Sultan natürlich nicht. Alles, was er will, ist die Banane.

Sultan sieht sich um. In seiner Nähe liegen zwei Schilfrohre, beide hohl, eines davon…

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um. In seiner Nähe liegen zwei Schilfrohre, beide hohl, eines davon schmaler. Sultan steckt eins nach dem anderen durch das Gitter, doch beide sind zu kurz. Er probiert ein bisschen herum, ohne Erfolg, sitzt dann scheinbar teilnahmslos da, schaut in der Gegend umher, als gehe ihn das alles gar nichts an, greift wieder nach den Stöcken – und plötzlich fällt der Groschen: Man kann das eine Rohr in das andere stecken. Dann hat man einen langen Stock.

Sultan merkt sofort: Das ist die Lösung. Er springt ans Gitter und angelt mit dem Doppelrohr nach draußen. Endlich hat er die Banane, aber er ist von seinem selbstgemachten Werkzeug so begeistert, dass er sogar zu fressen vergisst – er versucht lieber, weitere Gegenstände zu erreichen, die draußen herumliegen.

Diese Szene stammt aus Wolfgang Köhlers Buch Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, in dem zu lesen steht, dass Affen nachdenken können. Dass sie Kisten stapeln, Stricke und Steine von Türen entfernen, Stöcke zusammenbauen, um an eine begehrte Leckerei zu kommen. Dass sie wie der Mensch zur Einsicht, zu echten Intelligenzleistungen und zum Werkzeuggebrauch fähig sind. Wolfgang Köhler ist zwar nicht der Erste, der das gegen eine Welt von Zweiflern behauptet, aber der Erste, der das ausdauernd und systematisch experimentell überprüft und eindrucksvoll dokumentiert.

Auf dem Umweg über die Affen das Lernen besser verstehen

Am 1. Januar 1914 hat der erst 26-jährige Philosoph und Psychologe die Forschungsstation der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa übernommen. Seine Frau Thekla und seine beiden kleinen Kinder sind mit ihm umgezogen, drei weitere werden auf Teneriffa geboren. Thekla steuert eigene Ideen zu den Experimenten bei, zeichnet und fotografiert die Affen.

Vor Teneriffa hatte Köhler nie etwas mit Tieren zu tun gehabt. Er hat in Tübingen und Berlin Philosophie und Naturwissenschaften studiert und ist darüber zur Psychologie gekommen. Die ist damals schon mit eigenen Instituten in der akademischen Welt verankert, aber noch kein eigener Studiengang, sondern eine Art Unterabteilung der Philosophie. Köhler hat bei dem großen Psychologen Carl Stumpf promoviert und dann eine Assistentenstelle in Frankfurt angetreten, wo er mit Max Wertheimer und Kurt Koffka gemeinsam intensiv an den Grundlagen der Gestaltpsychologie gearbeitet hat. Hier auf Teneriffa will er auf dem Umweg über die Affen einige Grundlagen der Humanpsychologie besser verstehen, vor allem die Gesetzmäßigkeiten des Lernens.

Wie nimmt ein Lebewesen seine Umwelt als Gestalt wahr?

Wie alle Gestaltpsychologen ist Köhler ein Gegner der Behavioristen, deren Lerntheorie auf dem Reiz-Reaktions-Schema gründet, ohne innere Prozesse oder die Gesamtsituation zu berücksichtigen. Für Köhler beruht Lernen auf Einsicht in alle Bedingungen, die das gegenwärtige „Feld“ ausmachen. Gemeint ist, wie ein Lebewesen seine Umwelt als organisiertes Ganzes, als „Gestalt“ wahrnimmt und dabei gedanklich durchdringt. Sultan hat es vorgeführt: Sein Feld bestand aus Banane, Gitter, Stöckchen, und es ist ihm gelungen, die Strukturen des Feldes einsichtsvoll so zu kombinieren und umzuorganisieren, dass er sein Ziel, an die Banane heranzukommen, erreicht. Indem Sultan die Stöcke verbindet und damit das Problem löst, überführt er eine offene, spannungsgeladene in eine geschlossene, „gute“ Gestalt.

Aus Sicht der Gestaltpsychologie sind nicht die Subjekte, also Sultan oder etwa der Versuchsleiter, der Ursprung solcher Gestalttendenzen, sondern alle Beteiligten sind diesen Gesetzen unterworfen. Gestalttheorie hat etwas Apersonales, die Organisation steht über den Subjekten.

Das heißt nicht, dass Köhler die Individualität der Schimpansen ignoriert. Er nimmt sie im Gegenteil sehr genau wahr und schildert sie mit Humor und Empathie: der blitzgescheite Sultan, die etwas vertrottelte Rana, die anhängliche Nueva und der Hitzkopf Koko, der sich ständig über alles aufregt. Doch Köhler beschreibt ihre Charaktere nicht um ihrer selbst willen, sondern immer mit Blick auf gestalttheoretische Ordnungs- und Strukturprinzipien, die für ihn den Kern der Wirklichkeit ausmachen.

Dadurch entsteht eine seltsame Blindheit gegenüber dem Leiden der Tiere. Ihre Verhaltensstörungen und Aggressionen werden mit Stockschlägen bestraft. Ohne Bedenken schifft man die gefangenen Affen aus der deutschen Kolonie Kamerun herbei und nimmt gelassen in Kauf, dass einige von ihnen die Strapazen in den engen Transportkisten nicht lange überleben. Als die Station im Jahre 1920 wegen Geldmangels aufgelöst wird, landen die Affen im Berliner Zoo und sterben nacheinander weg. Köhler hat immerhin noch darauf gedrängt, dass sie etwas Auslauf bekommen.

Skrupel zählen wenig in dieser Zeit wissenschaftlicher Euphorie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die enormen Fortschritte der Naturwissenschaften verändern das Welt- und Menschenbild. Inmitten dieses Umbruchs sucht die noch junge Forschungsdisziplin Psychologie nach ihrer Identität. Es ist die Zeit der großen Schulen, einige mit mehr geisteswissenschaftlichem, andere mit mehr naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Psychotherapie hat noch keinen Platz an der Universität. Sigmund Freud entwickelt seine Psychoanalyse in seiner Wiener Praxis, während die akademischen Psychologen experimentelle Grundlagenforschung betreiben, meist auf dem Gebiet der Wahrnehmung.

Auch unter den Gestaltpsychologen gibt es unterschiedliche Richtungen. Die Berliner Schule, zu der Köhler gehört, ist sehr naturwissenschaftlich-experimentell ausgerichtet und wendet sich gegen einen metaphysischen Zugang zum Phänomen Seele. Stattdessen sucht sie nach Verbindungen zwischen psychologischen, physikalischen und biologischen Erkenntnissen. Dieser Ansatz zieht Studierende aus vielen Ländern an das Berliner Institut und macht es weltberühmt. Wertheimer, Köhler, Koffka und auch Kurt Lewin (siehe Heft 10/2015) zählen zu den bedeutendsten Vertretern der Bewegung. Sie alle sind Grenzgänger, nicht nur außerordentlich vielseitig gebildet, sondern auch musisch begabt und künstlerisch interessiert.

Ein aufrechter Konservativer, der öffentlich protestiert

Auch Wolfgang Köhler, am 21. Januar 1887 im estnischen Reval geboren, entstammt einer weitverzweigten Gelehrtenfamilie, spielt Klavier und Geige, ist Kunstkenner, liebt das Reisen und Outdoor-­Aktivitäten aller Art und ist zudem Philosoph, Psychologe, Physiologe und Physiker in einer Person. Zurückgekehrt nach Berlin, habilitiert sich Wolfgang Köhler und wird 1921 Privatdozent an der Berliner Universität. Im April 1922 wird er – mit 35 Jahren sensationell jung – Professor für Psychologie und Leiter des Berliner Instituts. Er ist eine elegante, aristokratische, respektheischende Erscheinung, im Umgang mit Studenten und Assistenten fordernd und streng. Sein Privatleben schottet er ab, politisch hält er sich bedeckt. Doch hinter der korrekten Fassade verbirgt sich viel Schüchternheit. Eine seiner Hände zittert häufig, in Situationen der Anspannung ganz besonders. Wenn er das Institut betritt, geht der Blick seiner Mitarbeiter erst mal in ihre Richtung – um Stimmung und Tagesform einzuschätzen.

Als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 an die Macht kommen, ist es mit der Aufbruchstimmung an Köhlers Institut vorbei. Jüdische Wissenschaftler, auch solche von Weltruhm, werden aus dem Amt und aus dem Land gejagt. Max Wertheimer, Kurt Koffka und Kurt Lewin sind Juden und müssen emigrieren. Und Wolfgang Köhler ist der einzige nichtjüdische Wissenschaftler, der das nicht stillschweigend dulden will.

Ende April 1933 macht er seinen Protest öffentlich. In der Deutschen Allgemeinen Zeitung erscheint sein Artikel „Gespräche in Deutschland“. Viele Menschen, so argumentiert er, stünden wie er selbst der neuen Regierung distanziert gegenüber, obwohl sie den Willen der neuen Machthaber, dem deutschen Volk durch geschlossene Führung zu Macht und Ansehen zu verhelfen, durchaus zu schätzen wüssten. Das Abseitsstehen dieser Menschen sei der berechtigten Empörung darüber geschuldet, dass das humanitäre und wissenschaftliche Erbe, mit dem jüdische Denker die deutsche Kultur bereichert hätten, pauschal mit Füßen getreten werde, nur um möglichst viele Stellen nicht nach Wissen und Können, sondern mit Nationalsozialisten zu besetzen. Viele, so Köhler, fühlten daher „den Grund und Boden ihrer moralischen Welt tangiert. Für sie gilt, dass nur die wirkliche Beschaffenheit eines Menschen über ihn zu entscheiden erlaubt und dass geistige Bedeutung, Vornehmheit der Gesinnung und evidentes Verdienst um die deutsche Kultur bleiben, was sie sonst sind, wenn sie in einem Juden gefunden werden.

Köhler ist ein konservativer Mensch, geprägt von den staatstragenden Traditionen und dem hohen Elitebewusstsein des deutschen Bildungsbürgertums. Ob seine anerkennenden Worte in Richtung der neuen Machthaber taktisch motiviert sind oder seiner inneren Haltung entsprechen, kann man heute nicht mehr entscheiden. In jedem Fall kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Artikel ein ungeheuer mutiger, ehrenwerter Schritt ist. Er steht auch ziemlich einzig da in der Hochschullandschaft jener Tage, in der die Naziideologie schon tiefe Wurzeln geschlagen hatte, auch unter Gestaltpsychologen anderer Richtungen, die „Volk“ und „Rasse“ als gute Gestalten preisen.

Köhler rechnet ziemlich sicher mit seiner Verhaftung, aber die erfolgt nicht. Die Nazis denken sich andere Schikanen aus. Sie durchsuchen wiederholt das Institut und kontrollieren die Studierenden. Aufgebracht und unnachgiebig protestiert Köhler gegen diesen Generalangriff auf seine Würde als Hochschullehrer, ohne sich auf politische Grundsatzdebatten einzulassen. Er wählt einen taktisch klugen Mittelweg zwischen aufopferndem Heroismus und feiger Anpassung, den er in einem Brief an einen amerikanischen Kollegen so beschreibt: „Es ist kein beschauliches Leben, manchmal macht es mir sogar Spaß. Die Kunst ist es, sich nicht von Gefühlen hinreißen zu lassen, sondern jede Situation auszunützen, in der die anderen einen Fehler gemacht haben. Dann muss man den Fuß in die Tür stellen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Sie werden sagen, dass dies die Methode von Feiglingen ist. Aber denken Sie an die wirklichen Machtverhältnisse!“

Die wirklichen Machtverhältnisse sind so, dass Köhler die Vergeblichkeit seines Bemühens, am Berliner Institut eine ungestörte Nische für die Wissenschaft zu schaffen, bald einsehen muss. Im August 1935 kündigt er und emigriert in die USA, gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lili, einer schwedischen Aristokratin, und Tochter Karin. Seine erste Ehe mit Thekla ist schon vor Jahren gescheitert; Köhler sorgt finanziell zuverlässig für seine erste Familie, lehnt aber alle persönlichen Kontakte ab, auch zu den Kindern. Lili Köhler erzählt nach seinem Tod, sie beide hätten gut harmoniert, aber: „Er war nie ein Familienmensch, er mochte es nicht, verheiratet zu sein. Wolfgang dachte, jeder müsse frei sein: verantwortlich, aber frei.“

Im Swarthmore College in Pennsylvania nahe Philadelphia findet Köhler eine neue wissenschaftliche Heimat. 1958 wechselt er ans Dartmouth College in New Hampshire. Er hat wenig Lehrverpflichtungen und kann ungestört forschen und experimentieren. Wertheimer, Koffka und Lewin lehren weit verstreut an anderen Universitäten, gehen eigene Wege, und der Zusammenhalt ist längst nicht mehr so wie früher. Dennoch erwirbt sich die Gestaltpsychologie in den USA einige Achtung als Alternative zum dort dominierenden Behaviorismus.

1938 publiziert Köhler sein Werk Werte und Tatsachen und begründet noch einmal die Möglichkeit und Notwendigkeit, die Kluft zwischen Philosophie und Naturwissenschaft durch den Gestaltbegriff zu überwinden. Seine Argumentation läuft darauf hinaus, dass „Gestalt“ so etwas wie ein Realgrund für alles Geschehen im Kosmos ist. Was diese Perspektive in Aussicht stellt, ist eine im Grunde monistische Weltauffassung: Für alles, was ist, auch für das scheinbare Gegensatzpaar Geist und Materie, gibt es eine gemeinsame Grundlage, ein einziges Prinzip.

Das Ende der großen Schulen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reist Köhler häufig zu Vorträgen nach Europa und knüpft wieder enge Kontakte zur Freien Universität Berlin, die ihm im Jahre 1962 die Ehrenbürgerschaft verleiht. Doch bleibt er amerikanischer Staatsbürger und stirbt, mit Ehrungen überhäuft, am 11. Juni 1967 in Enfield, New Hampshire.

Die Werke, die Köhler in den USA geschrieben hat, erscheinen in deutscher Übersetzung erst nach seinem Tod. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Gestaltpsychologie nun keine bedeutende Größe mehr ist. Die Zeit der großen Schulen ist generell vorbei, die naturwissenschaftlich-experimentell orientierten Vorgehensweisen des Fachs funktionieren spezialisierter, anwendungsorientierter, ohne großen philosophisch-theoretischen ­Überbau. Trotzdem hat die Gestaltpsychologie ein reiches Erbe hinterlassen: in der Kognitionspsychologie und Systemtheorie, in der Werbepsychologie und im Webdesign, auch in Kulturtheorie und ­Ästhetik. Überall dort, wo das Prinzip Organisation und Zusammenhang im Vordergrund des Denkens steht, ist es spürbar – oft ohne ausdrücklich benannt zu werden.

Köhlers Schimpansen-Experimente im Video: www.awz.uniwuerzburg.de/archiv/film_foto_tonarchiv/filmdokumente/wolfgang_koehler/koehler_intelligenzpruefungen_an_menschenaffen/

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2017: Konzentrieren Sie sich!