Professor Brubaker, wie hat das Internet unseren Umgang mit Tod und Trauer verändert?
In den vergangenen hundert Jahren haben die westlichen Gesellschaften den Tod versteckt und beiseitegeschoben. Man stirbt im Krankenhaus oder im Altenheim, dann wird man auf dem Friedhof beigesetzt. Dort gehen die Verwandten dann ein- oder zweimal im Jahr zum Grab, um Blumen abzulegen. Wir haben den Tod also institutionalisiert. Er findet an ganz bestimmten Orten zu ganz bestimmten Zeiten statt. Das heißt umgekehrt, dass…
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Er findet an ganz bestimmten Orten zu ganz bestimmten Zeiten statt. Das heißt umgekehrt, dass der moderne Mensch kaum noch in der Gegenwart des Todes lebt. Der Tod ist für uns nicht mehr jene Alltagserfahrung, die er noch für unsere Vorfahren war.
Und dann kommt das Internet ins Spiel …
Das Internet hat einiges verändert, das glaube ich schon, und viele meiner Kollegen sehen das ähnlich. Nehmen Sie eine alltägliche Situation, die sich andauernd auf Facebook ereignet: Man denkt nichts Böses – und auf einmal sieht man dort die Nachricht, dass jemand gestorben ist, den man kannte. Sie wollen Ihrem Freund zum Geburtstag gratulieren, klicken auf seine Seite – und nun sehen Sie bestürzt, dass dort alle in der Vergangenheitsform über ihn schreiben. Natürlich empfinden das einige als zutiefst verstörend. Doch genau in diesem Moment fängt für sie die Trauerarbeit an.
Ähnliches passiert doch auch ohne Internet schon lange, seit es Zeitungen mit Todesanzeigen gibt.
Mag sein, aber dort rechnet man ja gerade mit einer solchen Nachricht. Es gibt diese bestimmte Rubrik in der Zeitung, die für die Todesmeldungen vorgesehen ist, ein bestimmtes Umfeld, das eigens dafür geschaffen wurde. Aber auf Facebook stehen solche Nachrichten irgendwo zwischen dem süßen Foto einer Katze und dem neuesten lustigen YouTube-Video. Das war gerade in den Anfangszeiten von Social Media für viele eine verstörende Erfahrung. Doch dadurch, dass solche Dinge häufig vorkommen, geschieht mit der Zeit eben noch etwas anderes: Der Tod wird auf einmal viel normaler und wieder mehr zum Teil unseres Alltags.
Allein in Deutschland gibt es mehr als 30 Millionen Facebook-Nutzer. Sie alle sterben irgendwann. Und da stellt sich die Frage: Was passiert dann mit ihrem Profil?
Aus Sicht von Facebook sind Verstorbene nicht einfach weg; es handelt sich weiterhin um Nutzer, allerdings unter extrem veränderten Bedingungen. Zu Lebzeiten ist so ein Profil ja für viele eine Art Archiv des eigenen Lebens. Wo war ich an diesem Tag? Mit wem war ich zusammen? Was habe ich dabei empfunden? Zum anderen ist es so etwas wie ein Treffpunkt für Freunde und Bekannte. Und man kann sehen, dass beide Funktionen – Archiv und Treffpunkt – nach dem Tod weitergehen. Die Trauernden schreiben auf die Seite des Verstorbenen und kommen miteinander ins Gespräch. Sie blättern durch die Chronik des Verstorbenen wie in einem Fotoalbum und erinnern sich an das, was sie alles mit ihm erlebt haben.
Die Gespräche der Freunde – muss man sich das vorstellen wie bei einer Beerdigung im realen Leben?
Bei einer Beisetzung, wie wir sie in den westlichen Gesellschaften kennen, versammelt sich eine spezifische Gruppe von Menschen zu einer spezifischen Zeit an einem spezifischen Ort. Online jedoch geschieht etwas anderes, und zwar in allen drei Kategorien. Die Gruppe wird viel größer. Das geht schnell in die vierstelligen Zahlen. Die Leute, die sich melden, kommen auch nicht mehr körperlich an einem Ort zusammen, sie leben überall auf der ganzen Welt – und die Beteiligung, die aktive Trauerarbeit verteilt sich auch auf einen deutlich verlängerten Zeitraum. Es ist zwar noch immer eine Form gemeinschaftlicher Trauer. Aber sie geschieht nicht mehr synchron. Mit anderen Worten: Wir sehen hier eine ganz neue Form der Trauer.
Stimmt es, dass Facebook seine Richtlinien aufgrund Ihrer Forschung geändert hat?
Das ist korrekt. Facebook hat mich eingeladen, mit ihnen an dieser Sache zu arbeiten. Ich wusste aus meinen Interviews, dass viele Leute belastende, verstörende Erfahrungen gemacht hatten, und ich wollte helfen, dass so etwas in Zukunft seltener vorkommt, also habe ich zugesagt. Sehen Sie: Facebook ist heute ein riesiger Raum, in dem Trauer- und Erinnerungsarbeit stattfindet. Millionenfach. Aber dafür wurde die Plattform ja niemals erschaffen. Die Leute haben nur irgendwann angefangen, sie so zu nutzen, einfach weil die Grundstrukturen von Facebook dafür ziemlich gute Voraussetzungen bieten. Dies hat unbestreitbar hilfreiche Effekte, und es besteht die Gefahr, dass man diese Effekte unabsichtlich zunichtemacht, wenn man an den falschen Schrauben dreht. Das heißt: Wir waren in dem, was wir geändert haben, sehr zurückhaltend. Aber ein paar Dinge haben wir dann doch anders gemacht.
Was denn zum Beispiel?
Es gab diesen Fall, in dem ein Mädchen gestorben ist. Ihr Profilbild war die Illustration eines niedlichen Fisches. Und die Mutter hat bei Facebook angefragt, ob sie das Bild ändern darf, weil sie diesen Fisch für ihre tote Tochter für unangemessen hielt. Unter den alten Spielregeln war das aber nicht möglich. Damals hat Facebook das Profil von Toten einfach in einen „Gedenkzustand“ versetzt. Das heißt: Das Profil wurde sozusagen eingefroren. Freunde konnten zwar noch Bilder und Texte an die Chronik posten, aber man konnte kein Profilbild verändern. Man konnte auch keine neuen Freunde hinzufügen, was ebenfalls zu Problemen geführt hat. Da gab es diesen Vater, der mitbekommen hat, dass viele Freunde aus dem Profil seines verstorbenen Sohnes eine Art Erinnerungsseite gemacht haben. Also hat er sich bei Facebook angemeldet, um lesen zu können, was dort geschrieben wird. Dazu hätte sein Sohn ihn aber nachträglich als Facebook-Freund akzeptieren müssen, was, wie gesagt, damals nicht möglich war. Das ist, als würde man eine Trauerfeier veranstalten, bei der ausgerechnet der Vater des Verstorbenen keinen Zutritt hat. Diese Dinge wollten wir verändern.
Eine Änderung, die Sie dazu bei Facebook angestoßen haben, nennt sich legacy contact, was im Deutschen am besten mit „Nachlassverwalter“ übersetzt wird. Was hat es damit auf sich?
Rein praktisch funktioniert es so: Wenn Facebook erfährt, dass ein Nutzer gestorben ist, wird sein Profil noch immer in eine Gedenkseite verwandelt. Doch heute kann jeder Nutzer zu Lebzeiten einen Nachlassverwalter bestimmen. Diese Person kann dann, wenn man gestorben ist, zum Beispiel eine Nachricht auf der Timeline posten, etwa, um Ort und Zeitpunkt der Beerdigung anzukündigen. Sie kann für das Profil Freundschaftsanfragen beantworten und das Profilfoto verändern. Zusätzlich kann der Verwalter per Knopfdruck ein Archiv der Fotos, Posts und des Profils herunterladen. Zum Beispiel, um für die Angehörigen ein Fotoalbum aus dem Leben des Verstorbenen zu erstellen. Alles andere bleibt eingefroren wie bisher. Ein Verwalter hat also gewisse Rechte – aber viel weniger, als der Nutzer selbst hatte.
Im Mai 2017 gab es dazu ein Gerichtsurteil in Deutschland. Eine Mutter hat gegen Facebook auf Herausgabe des Chatverlaufs ihrer verstorbenen Tochter geklagt. Sie hat dort nach Hinweisen gesucht, ob ihre Tochter womöglich Suizid begangen hat.
Ja, solche Wünsche werden häufig an Facebook herangetragen, aus den unterschiedlichsten Gründen.
Das Gericht hat die Anfrage der Mutter abgelehnt. Viele Menschen haben das nicht verstanden. Aus meinem Bekanntenkreis habe ich häufig das Argument gehört: „Wenn meine Tochter stirbt, dann erbe ich womöglich ihr Tagebuch. Vielleicht werde ich es dann lesen, vielleicht auch nicht. Aber das ist immer meine Entscheidung und nicht die Entscheidung irgendeines Unternehmens!“
Ich kenne solche Einwände, und ich verstehe sie auch. Trotzdem glaube ich, dass wir es hier mit mehreren Missverständnissen zu tun haben. Denn so ein Chatverlauf ist ja kein Tagebuch. Ein Tagebuch hat man allein erstellt. Aber ein Chat ist eine Unterhaltung, vergleichbar mit einem Telefongespräch. Stellen Sie sich vor, eine Mutter würde den Mobilfunkanbieter darum bitten, ihr die Mitschnitte von den Telefongesprächen der verstorbenen Tochter zu vermachen.
Das war auch das Hauptargument des Gerichts. Das zweite Missverständnis ahne ich schon: Man kann Nachlassverwalter eines Accounts werden – aber man kann den Account nicht erben. Die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann hat jüngst genau das ins Gespräch gebracht: Angehörige von Verstorbenen sollten deren Social-Media-Konten erben dürfen.
Ich kann Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. Es gab da dieses schwule Pärchen, das den Großteil seines gemeinsamen Lebens in den sozialen Medien dokumentiert hat. Dann starb einer der beiden völlig überraschend. Und seine Eltern – die keine großen Fans seiner Beziehung waren – verlangten von Facebook die Löschung des Profils. Und damals, aufgrund der Geschäftsbedingungen, hat das Unternehmen diesen Wunsch respektiert. Das Ergebnis war, dass der Witwer die komplette Geschichte seines Partners verloren hat. Ein großer Teil der gemeinsamen Erinnerungen war einfach weg. Ich verstehe also sehr gut, warum die Menschen „Erbschaft“ als Metapher benutzen. Aber ich sage: Lasst uns darüber mal etwas gründlicher nachdenken.
Was haben Sie gegen die Vorstellung von Erbschaft?
Man sollte sich noch einmal darüber klarwerden, was Facebook eigentlich ist. Es ist ein gemeinsam genutzter Ort, ein Raum, in dem Geschichten miteinander geteilt werden, erschaffen von einem sehr großen sozialen Netzwerk. Und das Profil ist dabei lediglich eine Art Nexus, eine Verbindung, an der genau jene Geschichten gesammelt werden, die mit dieser Person am stärksten verbunden sind. Die Frage „Wem gehört das eigentlich?“ ergibt da überhaupt keinen Sinn.
Wen sollte man denn zu seinem Nachlassverwalter ernennen?
Die meisten wählen dafür ihren Partner. Nach dem Motto: Der muss sich nach meinem Tod eh um alles kümmern. Aber ich glaube, dass die ideale Person eher ein Cousin oder eine Cousine ist. Womöglich noch ein Bruder oder eine Schwester. Jemand, der nah genug ist, um zu tun, was angemessen ist, ohne emotional so belastet zu sein wie der Partner. Man sollte sich auch klarmachen, dass die engen Freunde und Familienangehörigen für ihre Trauer kein Facebook brauchen. Für sie gibt es in unserer Gesellschaft ganz andere, sehr gut etablierte Praktiken der Trauer. Das sehe ich besonders in meinen Interviews mit Witwen und Witwern. Sie sagen: „Ich habe mich zum Abendessen mit den Schwiegereltern getroffen. Und dann haben wir geredet über den Toten. Und das haben wir einmal im Monat gemacht.“ Oder: „Ich habe ein Fotoalbum in meinem Haus, in dem ich regelmäßig blättere.“ Da gibt es also schon diese bestehenden Erinnerungspraktiken. Aber die Freunde von der Uni oder von der Schule oder aus dem Sportverein – für die ist Facebook vermutlich alles, was da ist. Für diese Menschen hat das Internet die Trauer- und Erinnerungsarbeit sehr stark verändert.
Sie beschreiben in Ihren Arbeiten noch ein anderes Phänomen: Im Internet kann man häufig beobachten, dass Menschen direkt mit einem Toten sprechen.
Ganz am Anfang fand ich das sehr schockierend. Die Leute reden mit dem Toten in seiner Facebook-Chronik. Sie schreiben ihm E-Mails, sie schreiben ihm Nachrichten über den Messenger. Manche Leute werden mit ihrem Handy beerdigt, damit man sie noch eine Weile anrufen kann. Manche Hinterbliebenen wechseln nur deshalb ihren Telefonanbieter nicht, weil auf ihrem Anrufbeantworter noch ein Anruf des Verstorbenen liegt. Sie tun alles, um diese Nachricht behalten zu können.
Ist es vielleicht so, dass diese Dinge schon immer da waren – und durch die Technologie lediglich sichtbarer werden?
Ja und nein. Sicherlich ist es so, dass das Internet einige Dinge sehr sichtbar macht, die vorher nicht im selben Maße sichtbar waren. Trotzdem betone ich immer wieder: Durch Social Media haben sich die Leute auf eine neue Art und Weise miteinander verbunden. Freundschaften sind früher einfach ausgeklungen. Du bist in eine neue Stadt gezogen. Du hast den Kontakt verloren. Aber heute? Du verlierst möglicherweise niemanden mehr wirklich aus den Augen. Du gehst auf Facebook – und fast alle sind da. Der ganze Katalog von Leuten, die du in deinem Leben kennengelernt hast. Wenn sie sterben, dann kriegst du ihren Tod mit. Das heißt: Ja, das Internet macht Dinge sichtbar. Aber es erschafft auch etwas Neues. Eine neue Art von Trauer.
Professor Jed Brubaker studierte Psychologie, Kommunikationswissenschaften und Informatik. Er forscht und lehrt am College of Media, Communication and Information der Universität von Colorado in Boulder