Wer sind wir?

​Drei Neuerscheinungen fragen: Was sagen Gene und Genomik über uns aus? Was hat es mit Blutsbanden und Verwandtschaft auf sich?

Ja, es ist menschlich und liegt nahe, bei einer Trauerfeier vieles Revue passieren zu lassen – das Leben des Verstorbenen, seine Bedeutung für das eigene Leben – und davon zu erzählen, was wichtig erscheint und erinnernswert. So tat dies auch Karin Bojs, als 2014 ihre Mutter starb und in Göteborg zu Grabe getragen wurde.

Ihre eigene Großmutter kannte sie nicht, sie starb vor ihrer Geburt, ganz zu schweigen von ihrer Urgroßmutter. Wer waren sie? Wo kamen sie her? Historische Ahnenforschung zu betreiben, das wollte Bojs nicht recht überzeugen. Als für ihre Arbeit preisgekrönte langjährige Wissenschaftsjournalistin setzte sie auf Genetik und Genomik ihrer „europäischen Familie“. Und ließ als Erstes ihre eigene DNS entschlüsseln.

Den Ursprung der Europäer verortet Bojs vor 54 000 Jahren im heutigen Syrien. Neandertaler lebten dort in der Nähe des Homo sapiens. So kam es zu sexuellen Begegnungen, wodurch sich in der menschlichen DNS Erbgut der Neandertaler ablagerte. Dies übrigens bis heute – der Anteil beläuft sich bei jedem Europäer im Schnitt auf 2,7 Prozent.

Unterhaltsam und lehrreich

Bojs reiste für ihre abwechslungsreiche Geschichte des Lebens durch zehn Länder und traf sich mit 70 Wissenschaftlern. Ihr Bericht liest sich überaus angenehm, da die Autorin immer wieder persönlich und autobiografisch wird. Einmal flicht sie eine erfundene Fantasie über ein „Trollmädchen“ ein, dessen Eltern Neandertaler und Homo sapiens sind. Doch dieser Ausflug in die Fiktion mutet eher unpassend an. Insgesamt vermittelt Bojs leichthändig Erkenntnisse zu Genetik und Genomik.

Noch unterhaltsamer rapportiert all dies der britische Wissenschaftsjournalist und studierte Genetiker Adam Rutherford in seinem kurios betitelten Buch Eine kurze Geschichte von jedem, der jemals gelebt hat. Er schreibt mit Verve und mit viel Witz und hält nicht mit Kritik hinterm Berg, wenn es um privatwirtschaftliche Unternehmen geht, die gegen Geld die eigene DNA entschlüsseln – und Einordnungen liefern, die oftmals falsch sind.

Trotz des lockeren Tonfalls bewegt sich Rutherford auf der Höhe des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes. Seine scharfe Formulierungslust ist stimulierend und stellt neu aufbrandende Politrhetoriken von „Rasse“, „Volk“ oder überhaupt von „Fremden“ auf den Kopf. Führt er doch vor, auf wie erstaunlich wenige Menschen die heute lebenden Bewohner Europas ­zurückgehen. Wie Genetik forensisch richtig eingesetzt werden kann, zeigt er anhand der Untersuchung des englischen Königs Richard III. – und wie es falsch geht, bei Jack the Ripper. Das liest sich klug, erhellend und durchweg lehrreich.

Geschichte und Neues aus der Reproduktionsmedizin

Nun spricht der Volksmund wenig von DNS, viel mehr von Blut: Dieses sei als ganz besonderer Saft dicker als Wasser. Blut kann positiv besetzt sein, denkt man an unverbrüchliche Blutsbrüderschaft über Kulturen und Ethnien hinweg (Winnetou und Old Shatterhand). Es kann aber auch als rassistisches Schlagwort („Blut und Boden“) dazu dienen, Kulturen und Völker zu vernichten.

Vaterschaft, Mutterschaft, Erbe, Allianzen, Verwandtschaftsbeziehungen, dies war einst essenziell. Und politischer Sprengstoff. Ja, ganze Kriege wurden deswegen ausgefochten. So kriegerisch und in heutigen politisch aufgewühlten Zeiten durchaus skandalös kommt Blutsbande – auf dem Schutzumschlag schön blutrot gedruckt –, das ausgreifende Buch der Berlinerin Christina von Braun daher.

Seit 1994 war sie, deren Onkel der ­Raketenbauer Wernher von Braun war, an der Berliner Humboldt-Universität Professorin für Kulturtheorie mit Schwerpunkt Geschlecht und Geschichte. Sie gründete 2012 das Selma-Stern-Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, dessen „Senior Research Fellow“ sie ist. Über Mythen des Blutes edierte sie schon 2007 einen Sammelband. Nun überführt sie ihre Forschungsergebnisse in ein ­anspruchsvolles Buch. Es ist Begriffs-, ­Gesellschafts- und Symbolgeschichte, ­Ethnografie wie Mentalitätsgeschichte. Der Rahmen ist imposant: rund 2500 ­Jahre Abendland. Dazu kommen neueste Erkenntnisse der Reproduktionsmedizin.

Plädoyer für die Psychoanalyse

In von Brauns Buch geht es um die Konstruktion von Familie, deren Wandel im Lauf der Zeiten – von der Antike bis zur Patchwork-Multigender-Gegenwart – und um viele revolutionierende Technologien. Es leugnet an keiner Stelle, dass es von einer langgedienten Hochschullehrerin verfasst ist. Nicht nur der lange Anhang mit einem 25 (!) Seiten langen Literaturverzeichnis führt dies vor, erst recht ihr dem Wissenschaftsjargon verpflichteter Stil inklusive Abstraktionen und sich zusehends summierender Datierungsfehler.

Manchmal verwundert die wuchtige Setzung von Urteilen, von denen die Autorin ausgeht und die nicht so eindeutig erscheinen wollen, wie es von Braun gerne hätte. Doch kontert sie dies durch zahlreiche anschauliche Beispiele über Patri- und Matrilinearität, indem sie Sprache untersucht und das, was sie „Verschriftung“ nennt. Dass sie darunter auch die Entwicklung von Recht und Rechten und deren Kodifizierung, also Fixierung und Einklagbarkeit fasst, will allerdings nicht ganz einleuchten.

Am Ende mündet alles in ein beredtes Plädoyer für die Psychoanalyse, die als „Medium der Kulturkritik“ Zeugungsforschung, Bioenergetik sowie Elemente jüdischer und christlicher Kultur in sich vereint. Daher ist die Psychoanalyse Braun zufolge das geeignete Instrument, „um die derzeitig sich vollziehenden sozialen Umwälzungen zu begleiten und zu verstehen“.

Karin Bojs: Meine ­europäische Familie. Die ersten 54 000 ­Jahre. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Inge Wehrmann. Theiss, Darmstadt 2018, 432 S., € 29,95

Christina von Braun: Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte. Aufbau, Berlin 2018, 544 S., € 30,–

Adam Rutherford: Eine kurze Geschichte von jedem, der jemals gelebt hat. Was unsere Gene über uns verraten. Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Coralie Wink. Rowohlt, Reinbek 2018, 464 S., € 16,99

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille
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