Schrei nach Mauern

Weltweit entstehen neue Grenzanlagen und Zäune. Dafür gibt es politische, aber vor allem psychologische Gründe.

Ein Geländewagen fährt an einer sehr langen Mauer, die eine Grenze ist, entlang
Je komplexer die Welt wird, desto mehr wächst die Sehnsucht nach Mauern. © dpa Picture Alliance

Im Herbst 1989 fiel die Berliner Mauer, die „Mutter aller Mauern“ – so nannte sie der Politikwissenschaftler Jan Zielonka in einer Rede zu der Konferenz Falling Walls im November 2018 in Berlin. Seit 2009 kommen hier jährlich Wissenschaftler aller Disziplinen zusammen, um sich auszutauschen und „Grenzen zu überwinden“, wie die Veranstalter sagen. Während ihres Bestehens war die Berliner Mauer Symbol für die Teilung Europas und der Welt in zwei feindliche Lager. Nach ihrem Fall wurde sie zu einem Symbol für…

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sie zu einem Symbol für Freiheit und offene Grenzen. Doch heute grenzen sich Staaten und Gesellschaften weltweit wieder stark voneinander ab – und zwar indem sie neue Mauern bauen.

In Europa entstehen Sperrzäune gegen Flüchtlinge. Überall auf der Welt sind seit Beginn des 21. Jahrhunderts tausende Kilometer an neuen Mauern und Zäunen errichtet worden. Mindestens 65 und damit mehr als ein Drittel aller Staaten haben Barrieren an ihren Grenzen erstellt. Die europäischen Außengrenzen sollen ebenfalls verstärkt werden, wenn auch nicht mit Mauern aus Beton. Aber die Grenzagentur „Frontex“ soll wesentlich mehr Personal, mehr Zuständigkeiten und mehr Technik erhalten.

Innere Mauern

Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown schreibt in ihrem Buch Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität, beide von der Europäischen Union getroffenen Vereinbarungen über offene Grenzen innerhalb Europas – nämlich das Schengener Abkommen und das von Dublin über Regeln zur Aufnahme von Flüchtlingen – steckten in der Krise und seien 2015 an ihr Limit gekommen. Und Großbritannien setzt sich mit dem Brexit von den anderen EU-Mitgliedsstaaten ab. Die Hoffnungen, die mit dem Fall der Berliner Mauer einhergingen, haben sich nicht erfüllt, nicht einmal innerhalb Europas.

Grenzen sind jedem von uns vertraut, es gibt sie überall. Nicht nur Staaten, auch Städte, Grundstücke, Flächen und Gebäude sind begrenzt. Jeder weiß auch aus eigener Erfahrung, was eine „innere Mauer“ ist. Wir empfinden sie, wenn wir gestresst sind und uns manchmal an der Grenze der Belastbarkeit fühlen. Wir haben gelegentlich den Eindruck, die „Schmerzgrenze“ oder die „Grenze des Erträglichen“ sei überschritten, oder finden, etwas sei an der „Grenze des Erlaubten“.

Das sind gefühlte, individuelle Barrieren. Zudem sind wir von Regeln, Gesetzen und Bestimmungen umgeben; sie halten uns von einer Handlung ab, beschränken uns – oder schützen uns vor etwas, beispielsweise negativen Folgen des Tuns anderer. In allen genannten Fällen sind diese Begrenzungen zunächst „im Kopf“. Sie werden gedanklich und emotional gezogen, bewusst oder unbewusst. Bei Mauern ist es nicht anders: Zuerst sind sie in den Köpfen derer, die sie bauen wollen. Dann fällt die Entscheidung, sie werden geplant und gebaut. Mauern sind bewusst errichtete Grenzen.

Eine Linie im Kopf

Das Wort Grenze wird in so vielen Zusammenhängen verwendet, und Begrenzungen werden auf so vielfältige Weise erfahren, dass der Gedanke naheliegt, es handele sich um ein grundlegendes Konzept, das unser Denken und Handeln mehr prägt, als man gemeinhin denkt. Wissenschaftler wie der Geograf und Philosoph Peter Weichhart sehen es so. In dem Buch Grenzen definiert Weichhart den Begriff als das Ergebnis einer „Grundtätigkeit menschlichen Denkens“. Im Zentrum dieses Denkprozesses stehe die Unterscheidung. Denn um Dinge, die wir wahrnehmen, auch erkennen zu können, müssen wir sie voneinander unterscheiden. Ohne eine solche Unterscheidung könnten wir das, was wir sehen, weder verstehen, noch in einen Zusammenhang einordnen.

Vereinfacht gesagt heißt das, wir ziehen Grenzen immer zuerst in unseren Gedanken: „Eine Grenze ist zunächst einmal nicht mehr als eine wirkliche oder gedankliche Linie, die zwei Dinge voneinander trennt“, sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann von der Universität Wien. Eine Grenze ziehen wir laut Liessmann schon, indem wir einen Begriff definieren: Ein Teil des Inhalts wird diesem zugeordnet, andere Teile werden ausgeschlossen. Das ist notwendig, damit wir uns einerseits als Menschen verständigen und andererseits die Welt begreiflich machen können.

Menschen ziehen gedanklich oder tatsächlich ständig eine Grenze zwischen sich selbst und anderen. Sie tun das, um andere besser zu verstehen. Sie haben das Bedürfnis, sich abzugrenzen, wenn ihnen an anderen etwas nicht gefällt, und sie wollen wissen, zu wem sie gehören. Grenzen in der Realität, also etwa die einer Stadt oder eines Landes, bilden ebenfalls eine solche Grundfunktion menschlicher Unterscheidungen. Dieses Trennen in ein Innen und Außen ist offenbar unabdingbar, und es bilden sich unterschiedliche Ausdrucksformen – je nachdem wie sich Gruppen und Gesellschaften voneinander unterscheiden wollen und welche Kriterien sie dafür definiert haben – wie etwa bei einem Milieu, in dem ein bestimmter anderer Lebensstil gepflegt wird als in anderen Milieus. Auf Länderebene sind es die Staaten, die sich gegenüber anderen abgrenzen und festlegen, wer dazugehört und wer nicht. 

Schutzwall für die Seele

Mauern sind sichtbare und wenig durchlässige Grenzen. Dass immer mehr entstehen, deutet darauf hin, dass offenbar vielen Menschen psychologische Grenzen fehlen – sie scheinen in der globalisierten und digitalisierten Welt verlorengegangen zu sein. Die neuen Mauern drücken ein Bedürfnis nach Übersichtlichkeit und einfachen Lösungen in der komplexer werdenden Welt aus. Sie sind „mächtige Organisatoren der inneren psychischen Landschaften des Menschen, aus denen sich kulturelle und politische Identitäten speisen“, schreibt die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown. Sie sollen psychischen Schutz bieten.

Beim heutigen Bau von Mauern, Zäunen und Grenzvorrichtungen handele es sich um politische Reaktionen auf das, was in einer globalisierten Welt psychologisch, wirtschaftlich und politisch nicht zu bewältigen sei: „Sichtbare Mauern reagieren auf das Bedürfnis nach Einhegung und Begrenzung in einer allzu global gewordenen Welt.“ Diese „psychische Sehnsucht“ nach solchen steinernen Schutzwällen verstärke sich umso mehr, je globaler, vernetzter und komplexer die Welt werde, so Brown. Dahinter verberge sich die Sehnsucht danach, die Verletzbarkeit und Hilflosigkeit zu überwinden, die die globalisierte Welt erzeugt habe. Insofern trage der „Schrei nach Mauern“ eine psychologische und sogar eine theologische Dimension in sich. Dies erkläre auch, warum die oft enormen Kosten, die mangelnde Wirksamkeit oder sogar die Schädlichkeit von Mauern von vielen als irrelevant oder gar nicht wahrgenommen würden.

Psychische Abwehrmechanismen

In der als entgrenzt, offen und komplex wahrgenommenen Welt – auch der digitalen – sind wir außerdem stärker mit dem Leid anderer konfrontiert. Physische Mauern helfen dabei, dieses Leid und Elend anderer nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, sondern es ausblenden zu können. Sie erleichtern es, Probleme nicht wahrzunehmen und gedanklich nach außen zu verlagern. Hier bezieht sich Brown auf die psychoanalytische Abwehrtheorie von Sigmund Freud. Mauern funktionieren demnach wie psychische Abwehrmechanismen: Sie verschonten das Ich des Einzelnen davor, auf etwas zu treffen, das sein Selbstbild stören könnte. Brown überträgt diese Theorie auf ganze Nationen: Unerwünschte Personen wie Geflüchtete oder skeptisch beurteilte Entwicklungen wie die Globalisierung könnten in der kollektiven Fantasie außen gehalten werden und Nationen sich deshalb rechtschaffen und stark fühlen – unbehelligt von störenden und beunruhigenden Fantasien und Ängsten.

Mauern stellen eine seelische Projektionsfläche für Wünsche nach Unterscheidung und Abgrenzung dar. Sie geben denjenigen, die sie befürworten, das Gefühl einer wiederhergestellten souveränen Macht und sogar „nationalstaatlicher Reinheit“, führt Brown aus. Solche Fantasien der Unschuld des eigenen Landes würden durch Mauern und sogar durch nur geplante Mauern bestens bedient und bestätigt. Dies passiere auch dann, wenn Mauern real versagen, Konflikte verschärfen und Probleme vergrößern. Brown sieht ihre These etwa durch US-Präsident Donald Trump bestätigt, dem es gelungen sei, „Begeisterungsstürme“ für seine Idee zu wecken, die Grenze zu Mexiko mit einer neuen Mauer zu verstärken, die die bereits installierten, mehrere Milliarden teuren Sicherungssysteme noch übertreffen soll.

Es wird etwas getan

Politiker, die Mauern bauen, können damit offenbar ihre Wähler beruhigen. Trumps Wähler möchten beispielsweise, dass er ihre Situation in ihrem Sinn verbessert, und dafür reicht sogar schon die Idee, eine Mauer zu errichten. Das gebe den Menschen „die wollen, dass etwas getan wird“, das Gefühl, dass tatsächlich etwas getan werde, schreibt der Journalist Tim Marshall in seinem Buch Abschottung. Die neue Macht der Mauern. Zumindest in den Augen seiner Wähler, so Marshall, bekräftige beispielsweise Donald Trump mit seinen Mauerplänen die Idee des „Make America great again“ oder „America First“. Dies erkläre auch, warum der US-Präsident ungeachtet erheblicher rechtlicher, finanzieller und anderer Hindernisse, die einem solchen Mauerbau entgehenstehen, unverändert seinen Anhängern gegenüber an der Idee festhalte.

Umgekehrt allerdings widerspreche die Mauer in den Augen ihrer Gegner sämtlichen zentralen Werten, die für sie Amerika ausmachten: Freiheit, Unabhängigkeit, Gleichberechtigung und „Amerika für alle“. Die Mauer steht für den Kern der politischen Differenzen der US-Amerikaner.

Das falsche Rezept?

Werden die neuen Mauern der Aufgabe einer psychischen Einhegung gerecht? Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen sehen keine Belege dafür. So hält etwa der Geowissenschaftler Manlio Graziano die aktuelle „obsessive Fixierung“ auf Mauern und Grenzen für falsch, wie er in seinem Buch What is a border? schreibt. Diese Besessenheit trage dazu bei, Probleme zu vergrößern, anstatt sie zu beheben. Graziano zieht einen drastischen Vergleich: Psychologisch gesehen ähnele das Errichten von Grenzen als Schutz vor den mit der Globalisierung einhergehenden Ängsten einem Suizid, der aus Angst vor dem Sterben begangen werde. Länder, die sich abgrenzten, schadeten sich immer selbst. Dies illustriert der Geowissenschaftler am Beispiel des Brexits, der nicht nur die Wirtschaft Großbritanniens schwäche, sondern dort auch zu einer Identitätskrise geführt habe, wie es sie davor noch nicht gegeben habe.

Auch die Mauerpläne von US-Präsident Donald Trump verpuffen. Seinen Landsleuten geht es seit seinem Amtsantritt psychisch nicht besser, sondern schlechter. Sie sind zunehmend gestresst, ermittelte der US-Psychologenverband APA in der jüngsten seiner jährlichen Stressumfragen im August 2018. Demnach bezeichneten 82 Prozent der insgesamt 3458 Befragten das gegenwärtige politische Klima in den USA als bedeutsamen Stressfaktor in ihrem Leben. US-Psychologen erklärten, dass die politische Polarisierung, die Trump unter anderem mit seiner Maueridee vorantreibt, die Menschen psychisch krank mache.

Aggressionen und Unverschämtheiten leben

Würden keine Mauern mehr gebaut, stellte sich die Frage, wie Menschen mit ihrem Wunsch nach Grenzen oder mit ihrer Ablehnung derselben umgehen. Völliges Fehlen von Grenzen würde viele psychisch überfordern. Und die Widersprüche in der Wahrnehmung und im Umgang mit Grenzen liegen in uns selbst: Menschen brauchen sie, um sich emotional von anderen abzuheben oder zu wissen, zu welcher sozialen Gemeinschaft sie gehören. Manche benötigen sie, um sich sicher zu fühlen und um das Leid derjenigen, die außen vor sind, wie die weltweit Millionen Geflüchteten, nicht wahrnehmen zu müssen. Andere fühlen sich erst frei, wenn sie persönliche, emotionale oder reale Grenzen überwunden haben. Wie der Philosoph Liessmann sagte, überschreiten manche durchaus auch Grenzen, um ihre „Aggressionen und Unverschämtheiten“ zu leben. Der Philosoph schlägt vor, zwischen „guten und schlechten“ Grenzen zu unterscheiden. Gute Grenzen förderten Respekt und ließen doch Nähe zu, wie unter Nachbarn. Das hieße auf internationaler Ebene, dass Länder zusammenarbeiten, Kompromisse eingehen und die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigen – also über den eigenen Grenzzaun hinausschauen.

Tausende von Kilometern

Die neuen Mauern richten sich gegen Migration, Schmuggel, Kriminalität oder Terrorismus  

  • Ungarn: Um Geflüchtete abzuhalten, baute das Land einen 177 Kilometer langen Grenzzaun an der Grenze zu Serbien.
  • Griechenland: 2012 wurde an der Grenze zu Mazedonien der 10,5 Kilometer lange Evroszaun gebaut, um Geflüchtete fernzuhalten.
  • Mit dem gleichen Ziel errichtete die Türkei an der Grenze zu Syrien eine 911 Kilometer lange Mauer inklusive Überwachungsvorrichtungen.
  • Die zwei in Marokko liegenden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla sind von hoch­gesicherten, viele Meter hohen Hightechzäunen umgeben.
  • Der 2700 Kilometer lange marokkanische Sandwall, der von Landminen gesäumt ist, trennt die West­sahara in eine von Marokko kontrollierte Zone und in eine Zone, die von Rebellen und der international nur zum Teil anerkannten Demokratischen Arabischen Republik Sahara kontrolliert wird. 
  • US-Präsident Donald Trump versprach seinen Wählern, eine 3000 Kilometer lange Mauer an der Grenze zu Mexiko zu bauen, damit Einwanderer nicht ins Land könnten und um illegalen Waffen- und Drogenhandel zurückzudrängen.
  • 759 Kilometer ist die Mauer lang, die Israel rund um das besetzte Westjordanland erstellte. Kritiker halten sie für unvereinbar mit internationalem Völkerrecht. Israel beruft sich auf die Notwendigkeit, sich vor palästinensischen Terroranschlägen zu schützen.
  • Indien errichtete einen mehr als 3000 Kilometer langen Stacheldrahtzaun rund um Bangladesh, um Einwanderer fernzuhalten. Beide Länder schlossen 2015 einen Vertrag ab, der den genauen Verlauf der Grenze festlegte, und tauschten Gebiete aus. Auch die Grenze zwischen Indien und Pakistan ist teilweise abgezäunt, aber wegen Gebirgen und Flüssen nicht komplett.
  • Saudi-Arabien errichtet an seiner Grenze zum Irak eine 885 Kilometer lange Sperranlage, die aufwendig überwacht wird. Auch an der Grenze zum Jemen errichtet Saudi-Arabien solche Anlagen.
  • China baut im Internet digitale Mauern und versucht so, den Informationsfluss zu kontrollieren. 

Quellen und Literatur

Wendy Brown: Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität. Suhrkamp, Berlin 2018

Martin Heintel u. a. (Hg.): Grenzen. Theoretische, konzeptionelle und praxisbezogene Fragestellungen zu Grenzen und deren Überschreitungen. Springer, Wiesbaden 2018

Manlio Graziano: What is a border? Stanford University Press, Stanford 2018

Konrad Paul Liessmann: Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft. Zsolnay, Wien 2012

Jan Zielonka: Grenzen – Wir brauchen keine Mauern mehr. Gastbeitrag auf Zeit online, 9. November 2018

Tim Marshall: Abschottung. Die neue Macht der Mauern. Dtv, München 2018

Christoph Kleinschmidt: Semantik der Grenze. Bundeszentrale für politische Bildung, 13. Januar 2014

Marianne Gronemeyer: Die Grenze. Was uns verbindet, indem es trennt. Nachdenken über ein Paradox der Moderne. Oekom, München 2018

American Psychological Association: Stress in America. Survey, 2018

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2019: Die Kraft des Atmens