Die Droge Selbstverständlichkeit

"Die psychotische Gesellschaft" heißt Ariadne von Schirachs Buch über die Folgen einer durchökonomisierten Welt. Mangelnde Aufmerksamkeit ist nur eine davon

„Die Zeit ist aus den Fugen; Fluch der Pein, muss ich sie herzustelln geboren sein!“ So schrieb bereits Shakespeare in Hamlet über die verrückte Welt seinerzeit. Daher ist der Leser neugierig, ob die Autorin eines Buches über Die psychotische Gesellschaft  dem Thema neue Aspekte abgewinnen kann.

Es gelingt Ariadne von Schirach trotz einiger Schwächen in fulminanter Weise. Sie sieht Die psychotische Gesellschaft als Resultat einer kollektiven Identitätskrise: Die Mitglieder dieser Gesellschaft wüssten weder, wer sie sind, noch, was sie sollen. Daher seien sie unfähig, mit sich und miteinander bewusst, wertschätzend und angemessen umzugehen.

Die wichtigste Schwäche des Buches wird dem Wissenschaftler zuerst auffallen: Es ist eine krass simplifizierende und obendrein veraltete Hypothese über die Entstehung von Psychosen durch eine „Dopaminflut“, die durch die Synapsen kranker Gehirne „tobt“. Es hätte genügt festzuhalten, dass die Menschen mehr Angst und mehr Probleme mit der Realität haben.

Realitätsverlust, der zu Gier treibt

Psychosen haben tiefe biografische Wurzeln und sind alles andere als ein chemisch inszenierter Trip. Später wird die differenzierte Beschreibung der Realitätsverluste in von Geltungssucht und Gier getriebenen Biografien zu einer ausgesprochenen Stärke des Buches.

Die Autorin, eine studierte Philosophin mit einem scharfen Blick auf Zeitphänomene, scheut sich nicht vor gelegentlichem Pathos: „Das Band zwischen Sprache und Sache ist das heiligste Band, das wir kennen.“ Sie stützt sich auch auf Karl Marx: „Geld nimmt den Platz ein, den früher Gott hatte.“ Aber sie wird nie besserwisserisch, nie dogmatisch und verzichtet ganz auf eitle Selbstdarstellung, die sonst Ärzte und Psychologen anfliegt, wenn sie ausziehen, die Gesellschaft wie einen ihrer Patienten zu analysieren, und vorgeben, sie wüssten um die richtige Behandlung.

Beeindruckt hat mich die von Heideg­ger übernommene Unterscheidung zwischen Zerstörung und Verwüstung. Zerstörung betrifft Naturphänomene wie einen Waldbrand, der zwar viele Bäume vernichtet, aber auch dafür sorgt, dass Samen austreiben, die sonst keine Chance hätten. Verwüstung hingegen macht unbrauchbar; sie gleicht jenem „heiligen“ Krieg der Antike, in dem nicht Beute gemacht und Sklaven verkauft wurden, sondern alles Leben vernichtet, Salz auf die Äcker gestreut und Fruchtbäume umgehauen wurden. Die Menschheit ist auf dem Weg, den Planeten zu verwüsten; er droht im Dienst der Profitbeschleunigung zu einem für menschliches Leben ungeeigneten Ort zu werden. Wenn das nicht verrückt ist!

Die Wirtschaft übernimmt alle Bereiche

Die kulturelle Psychose entsteht, weil ein Subsystem – das Ökonomische – alle anderen Subsysteme überwuchert und vereinnahmt. Die hier drohende Gefahr haben Dichter erkannt: J. R. R. Tolkien, der in den Gestalten Saurons und der Orks eine lebensfeindliche Welt erfunden hat, die einzig und allein auf Zerstörung angelegt ist, Sciene-Fiction-Autoren (etwa der Terminator- und der Matrix-Reihe), welche die Zerstörungskraft des beschleunigten Kapitalismus in eine Tyrannei der Maschinen übersetzen.

Besonders tückisch ist die betäubende Dynamik des Wohlstandes in den westlichen Zivilisationen – symbolisiert als die Wahl zwischen einer beruhigenden blauen und einer roten Pille, die es erlaubt, hinter die gefällige Oberfläche zu blicken. „Selbstverständlichkeit ist die härteste Droge, die es gibt“, erläutert die Autorin, die in eingestreuten Erzählungen die inneren Spannungen der digital beschleunigten Gesellschaft sehr anschaulich machen kann. So wird der Text nie langweilig oder oberlehrerhaft.

Das Problem mit der Selbstverständlichkeit

Von Schirach verzichtet konsequent auf Rezepte und Tipps. Damit hilft sie dem Leser am meisten, seine eigene Gegenerzählung zu finden. An sich besorgnismachende Gegebenheiten würzt von Schirach mit einem Schuss Humor, wie etwa den Hinweis auf den Verlust der Aufmerksamkeit für das Selbstverständliche durch die Anekdote von der Begegnung zweier junger Fische mit einem alten. Dieser grüßt und fragt: „Na, wie ist das Wasser heute?“ Die jungen Fische grüßen zurück und schwimmen weiter. Nach einer Weile sagt der eine zum anderen: „Was zum Teufel ist Wasser?“

Ariadne von Schirach: Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden. Tropen, Stuttgart 2019, 260 S., € 20,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2019: Werden, wer ich bin
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