Unser Umgang mit Gefühlen bleibt ein kniffliges Thema – es ist eine Herausforderung, wenn man sich in einem unpassenden Moment heftig ärgert und dann nicht weiß, wie man damit umgehen soll. Es mag tröstlich sein, zu wissen, dass wir damit nicht allein sind: Ärger kann jeden treffen. Emotionen wie Wut, Trauer oder Freude erleben wir alle ähnlich, davon gehen Psychologen aus. Was Emotionen inhaltlich bedeuten, unterscheidet sich zwar zwischen Kulturen, aber es gibt auch universelle Gemeinsamkeiten darin,…
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sich zwar zwischen Kulturen, aber es gibt auch universelle Gemeinsamkeiten darin, woran wir Gefühle erkennen und wie wir sie voneinander unterscheiden. Dies ergab die erste umfassende Analyse der kulturellen Bedeutungen von Emotionen weltweit.
Der Psychologe Joshua Conrad Jackson von der University of North Carolina, der deutsche Computerlinguist Johann-Mattis List vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und viele weitere Forscher gingen in einer großangelegten Studie der Frage nach, wie sich die Bedeutungen von 24 Emotionen in mehr als 3000 Sprachen aus 20 Sprachfamilien unterscheiden. Dabei nutzten die Forscher zum ersten Mal eine weltweit einzigartige Datenbank, in der eine Fülle von Begriffen aus all diesen Sprachen abgelegt ist, und zwar – nach der Ähnlichkeit ihrer Bedeutungen – geclustert in Sprachfamilien.
Unter einer Sprachfamilie verstehen Linguisten eine Gruppe von Sprachen, die aus einer gemeinsamen Ursprache entstanden sind. Sie erstrecken sich teilweise über tausende Kilometer, wie etwa die indogermanische Sprachfamilie, zu der neben den germanischen und romanischen Sprachen auch Hindi gehört.
Ärger kann Neid oder Streit heißen
Tatsächlich zeigte die Analyse, dass die Bedeutungen der Begriffe zwischen den Sprachfamilien stark variieren. „Liebe“ beispielsweise wird bei uns häufig romantisch definiert. Oft verstünden Menschen unter Liebe jedoch nur so etwas wie Zuwendung, Zuneigung oder Mitleid, erklärt der Linguist Johann-Mattis List. Oder es gibt für die romantische Liebe einen anderen Begriff, der dann so etwas bedeutet wie „ich brauche dich“.
Angst kann in der einen Kultur mit dem gleichen Wort wie dem für Gefahr benannt werden, in einer anderen eher mit dem für Sorge. Und das Wort für Ärger kann in manch einer Sprachgemeinschaft für Streit stehen, während es in einer anderen auch Neid bedeuten kann. Solche kulturell und sprachlich verschieden kodierten Bedeutungen sind keineswegs selbstverständlich: Farben zum Beispiel nehmen Menschen sehr ähnlich wahr und verbinden ähnliche Themen damit, egal wo sie leben. Das zeigte eine Analyse von Farbkonzepten aus den verschiedenen Sprachfamilien, die die Forscher zum Vergleich vornahmen.
Die Wissenschaftler vermuten, dass die unterschiedlichen Bedeutungen unserer Emotionen sozial gelernt sind. Wir übernehmen sie von klein auf von unseren Mitmenschen. Die Analyse zeigte, dass sich die Variabilität der Bedeutungen zwischen den Sprachfamilien nahezu ausschließlich mit der regionalen Nähe der einzelnen Sprachen erklären ließ. Warum in einer Kultur Ärger eher Hass bedeutet und in der anderen eher Neid, darüber kann man wohl derzeit nichts sagen. „Vermutlich ist es Zufall“, meint List.
Wenn das Herz rast
Unabhängig von der konkreten Bedeutung sind wir aber alle fähig, ein Gefühl zu erkennen, das in uns hochkommt, und Menschen tun dies offenbar auf dieselbe Art und Weise. Vor allem zwei psychologisch-physiologische Mechanismen scheinen dafür verantwortlich zu sein: die Bewertung des Gefühls (Valenz) – ob wir es also angenehm oder unangenehm finden – und das Ausmaß der körperlichen Erregung, wenn etwa bei Ärger das Herz vor Aufregung schnell zu schlagen beginnt.
Um das herauszufinden, ließen die Wissenschaftler die 24 Emotionskonzepte zunächst von 200 Teilnehmern anhand von insgesamt sechs häufigen psychologischen Mechanismen einschätzen (neben der Valenz und der körperlichen Erregung waren das beispielsweise Annäherung und Vermeidung). Dann prüften sie, ob sich die Mechanismen dazu eigneten, Emotionskonzepte von neutralen Begriffen zu unterscheiden.
Unsere Sprache spiegele, wie wir denken und was Gefühle für uns bedeuten, erklärt List. Die inhaltlichen Bedeutungen zu verstehen reicht aber noch nicht aus, um unser Verhalten oder unsere Reaktionen auf eigene Gefühle wie Ärger zu verstehen. Dazu braucht man dann den konkreten Kontext. Wenn man beispielsweise in einer Sprache keine Hinweise auf patriarchalische Strukturen findet, muss das noch lange nicht heißen, dass es diese nicht gibt. Johann-Mattis List erklärt das an einem Beispiel: In China, wo ein strikt patriarchalisches Rollenverständnis bis heute die Beziehungen der Geschlechter prägt, gebe es seit jeher in keinem der vielen verschiedenen Dialekte eine sprachliche Unterscheidung von „er“, „sie“ oder „es“. Dagegen hat das Deutsche neben „er“, „sie“ und „es“ sogar alle Substantive einem grammatischen Geschlecht zuordnet.
Quellen
Joshua Conrad Jackson u.a.: Emotion semantics show both cultural variation and universal structure. Science, 366, 2019. 10.1126/science.aaw8160
Christoph Rzymski u.a: The database of cross-linguistic colexifications, reproducible analysis of cross-linguistic polysemies. Nature Scientific Data, 2020. DOI: 10.1038/s41597-019-0341-x