„Die Impfpflicht könnte nach hinten losgehen“

Für Schule und Kita ist die Masern-Schutzimpfung Gesetz. Warum diese Pflicht zu Trotzreaktionen führen kann, verrät Cornelia Betsch.

Ein Kind sitzt weinend auf dem Schoss des Vaters, während der Arzt in weißem Kittel dem Kind ein buntes Pflaster nach einer Impfung auf den Arm klebt
Unwissenheit und Skepsis sind die Säulen der Anti-Impffront. © DEEPOL by plainpicture/Mareen Fischinger

Frau Professorin Betsch, im März ist das neue Masernschutzgesetz in Kraft getreten. Reagiert der Bund damit auf eine wachsende Impfskepsis?

Nein, denn es gibt keineswegs immer mehr Impfgegner. Das ist ein Satz, mit dem Zeitungsartikel gern anfangen, selbst im ersten Gesetzesentwurf stand das drin. Aber es stimmt nicht.

Das überrascht mich. In den letzten Monaten bin ich immer wieder auf kontroverse Beiträge zum Thema Impfen gestoßen.

Ein Kind wurde geimpft und schon wieder ist nichts passiert: Das ist kein…

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zum Thema Impfen gestoßen.

Ein Kind wurde geimpft und schon wieder ist nichts passiert: Das ist kein Vorfall, über den es wert wäre zu berichten. Der gegenteilige Fall schon eher. Oft erlebe ich eine falsch balancierte Berichterstattung in den Medien. In vielen Beiträgen spricht sich der eine für das Impfen, der andere dagegen aus. Am Ende hat man das Gefühl, Befürworter und Skeptiker seien etwa gleichauf. Dabei können hierzulande nur zwei bis vier Prozent als echte Impfgegner bezeichnet werden.

Was wissen Forscher über diese Menschen?

Es gibt keine Studien über deutsche Impfgegner. Aus den USA sind aber statistische Zusammenhänge bekannt. Dort sprechen sich Impfgegner häufiger generell gegen staatliche Regulierung aus. Sie möchten selbst entscheiden, was gut für ihre Kinder ist. Außerdem neigen sie häufiger zu Verschwörungsdenken. Wer beispielsweise glaubt, Lady Diana sei einem Komplott zum Opfer gefallen, lehnt auch häufiger Impfungen ab. Man muss da aber sehr vorsichtig sein: Nicht jeder, der sich nicht impfen lässt, hat sich aktiv dagegen entschieden.

Sondern?

Oft spielen praktische Barrieren eine Rolle. Das heißt: Ich bin bester Absicht, mache es aber trotzdem nicht. Vielleicht wurde ich nicht richtig aufgeklärt und weiß überhaupt nicht, wie gefährlich es ist, sich nicht impfen zu lassen. Oder der Zugang ist erschwert, weil ich einen Arzttermin nur innerhalb von schmalen Sprech­zeitfenstern bekomme.

In einem Industriestaat wie Deutschland sollte das doch eigentlich kein Thema sein.

Doch. Wenn Sie sich das deutsche Impfsystem genauer anschauen, fragen Sie sich sogar, warum überhaupt so viele Leute geimpft sind. Den Impfpass kann kaum ein Laie richtig lesen. Und wir werden nicht automatisch an anstehende Impfungen erinnert – außer wir haben einen Hausarzt, der es auf eigene Kosten tut.

Warum kümmern sich die Gesundheitsämter nicht darum?

Der öffentliche Gesundheitsdienst hat kaum noch Personal. Um die Umsetzung des Masernschutzgesetzes voranzutreiben, müssen seine Mitarbeiter nun Bußgeldbescheide ausfüllen. Da denke ich mir: Sollen sie sich lieber um die Impfungen kümmern!

Selbst das beste Versorgungssystem nützt nichts, wenn Menschen den Impfungen misstrauen. Die britische Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte 1998 eine Studie, die einen Masernimpfstoff mit Autismus in Verbindung brachte – doch die zugrunde liegenden Daten waren gefälscht.

Nach diesem Medizinskandal sind die Impfraten gesunken – und die Neuerkrankungen mit Masern in die Höhe gegangen. Vertrauen ist der stärkste Faktor für das Impfverhalten. Aber es ist nicht der einzige. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir sagen: Die, die sich weigern, müssen wir zwingen. Stattdessen sollten wir uns fragen: Was am System verhindert, dass Menschen sich impfen lassen, obwohl sie es eigentlich wollen?

Gibt es neben Vertrauen und praktischen Barrieren noch andere Gründe, aus denen Menschen auf eine Impfung verzichten?

Einige Menschen schätzen das Risiko einer fehlenden Impfung nicht richtig ein: der Typ Hanns Guck-in-die-Luft. Manche wissen etwa nicht, dass eine Grippe für Menschen über 60 Jahren leicht gefährlich werden kann. Außerdem spielt eine Rolle, wie wir neue Informationen verarbeiten. Wir haben herausgefunden: Wer sich stärker informiert, entscheidet sich eher gegen das Impfen.

Das klingt paradox. Warum ist das so?

Genau wissen wir das nicht. Aber wenn Sie sich im Internet kundig machen wollen, dann landen sie schnell auf impfkritischen Websites – und werden dort verunsichert. Möglicherweise sind Menschen, die sich informieren wollen, aber auch von Anfang an skeptischer gegenüber dem Impfen eingestellt.

Schon bei einer kurzen Suche auf Facebook und Twitter stoße ich auf zahlreiche Anti-Impf-Seiten. Auch YouTube zeigt eher kontroverse Videos an. Droht dem Impfwesen eine neue Vertrauenskrise durch Social Media?

Bei sehr vielen Themen sind Falschmeldungen im Internet leicht verfügbar. Facebook und Twitter haben darauf reagiert und versuchen gegenzusteuern. Wenn ich dort „impfen“ eingebe, erscheint mittlerweile ein Infofenster, etwa mit einem Link zur Website der Weltgesundheitsorganisation. Auf dem Buchmarkt sieht es übrigens fast noch schlimmer aus. Da finden sich zahlreiche impfkritische Bücher, die aber neutral daherkommen, weil sie etwa „Pro und Kontra“ auf dem Titel stehen haben.

Ist Impfskepsis ein modernes Phänomen?

Nein, schon aus dem 19. Jahrhundert sind impfkritische Kupferstiche überliefert. Auf einem ist die Impfung als gefräßiges Monster dargestellt, dem die Kinder in den Rachen geschoben werden. Impfen hat schon immer Gegner auf den Plan gerufen. Das Internet ist also nicht schuld daran.

Woher stammt dann diese scheinbare Urangst vor dem Impfen?

Impfen hat etwas Magisches: Irgendeine Substanz kommt in den gesunden Körper und hinterher soll er immun sein. Wir sehen nicht, was passiert. Wir sehen auch nicht, wie es wirkt. Da sind wir besonders skeptisch.

Das erklärt noch nicht, warum Impfungen immer wieder so heftigen Protest anziehen.

Meist geht es ja nicht um uns selbst, sondern um unsere Kinder. Man hat da so ein zartes Wesen vor sich und dann hört man, dass eine lange Nadel durch die Haut gestochen werden soll. Da kann einem schon der Gedanke kommen: Das Kind ist doch so perfekt, das braucht gar nichts von außen. Dahinter steckt die Angst davor, dem Kind einen Schaden zuzufügen. Studien zeigen auch: Wenn wir für andere entscheiden, wollen wir besonders Risiken vermeiden.

Dabei ist es doch eher das Ausbleiben einer Impfung, die für ein Kind gefährlich werden kann.

Stimmt. Aber nehmen wir an, ein Kind bekommt einen Fieberkrampf. Tritt dieser als Folge einer Impfung auf, haben Eltern schnell das Gefühl: Ich bin schuld daran. Tritt er einfach so auf, würden sie eher sagen: Das ist eben Schicksal. Dasselbe Ereignis wird also völlig unterschiedlich bewertet.

Warum werden die Debatten ums Impfen oft so emotional geführt?

Dabei geht es um moralische Einstellungen, die tief in unserer Identität verankert sind. Wenn ich mein Kind nicht impfen lassen will, weil ich zum Beispiel gegen Regulierung und für das Recht auf freie Entscheidung bin, und jemand versucht mich vom Gegen­teil zu überzeugen, fühle ich mich schnell angegriffen. Unsere Identität verteidigen wir mit Klauen und Zähnen. Da können die Gefühle schnell hochkochen.

Wer geimpft ist, schützt damit auch andere Menschen in seinem Umfeld, die nicht geimpft sind. Impfen ist folglich auch eine gesellschaftliche Verantwortung, oder?

Ja, es hat etwas von einem sozialen Vertrag. Eine Hand wäscht die andere. Wenn ich mich an den Vertrag halte und mich impfen lasse, erwarte ich, dass die anderen es auch tun. Ansonsten fühle ich mich hintergangen. Tatsächlich zeigen unsere Studien: Wer sich impfen lässt, reagiert sehr empfindlich, wenn andere sich weigern. Deswegen verstehe ich, dass Impfbefürworter ihre Erwartungen kommunizieren.

Trotzdem habe ich den Eindruck, dass auch gut gemeinte Vorstöße für das Impfen manchmal nach hinten losgehen.

Auf der Seite der Impfbefürworter gibt es leider wenig gutes Material oder es ist kaum bekannt. Viele Kampagnen bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück. Oft findet man wenig Informationen über Nebenwirkungen. Menschen fühlen sich verschaukelt, wenn sie erst pauschal hören: Alles sicher, da passiert nichts, und später lesen sie, dass hin und wieder auch Nebenwirkungen auftreten. Impfen geht eine Abwägung von Risiken voraus, meist zugunsten des Impfens. Aber als Patient habe ich ein Recht, über meine Risiken aufgeklärt zu werden. Das passiert nicht immer so, wie es sein sollte.

Nehmen wir an, ich bin auf einer Familienfeier. Plötzlich wirft ein Onkel in die Runde, Impfungen seien eine gefährliche Verschwörung der Pharmaindustrie. Wie soll ich reagieren?

Fragen Sie doch erst einmal nach: Erklär mir bitte, wie genau hängt das denn alles zusammen? Oft merkt der Angesprochene dann, dass er selbst nicht so genau weiß, warum er das glaubt.

Das klappt nicht immer. Einige haben sich tief in die Materie eingelesen.

Trotzdem lassen sich rhetorische Techniken aufdecken. Denn die sind immer wieder dieselben: Zitiert er falsche Experten? Zieht er unlogische Schlussfolgerungen? Betreibt er Rosinenpickerei? Er könnte beispielsweise eine Studie herausziehen, die einen Zusammenhang zwischen Autismus und Masernimpfungen nahelegt, aber hundert andere außen vor lassen, die keinen oder einen negativen Zusammenhang finden. Die Argumente können wir demaskieren.

Das würde meinen Onkel aber kaum von seiner Meinung abbringen.

Es hilft aber den umstehenden Cousinen, die sich nun vielleicht fragen: Soll ich meine Kinder wirklich impfen lassen?

Auch Ärzte und Arzthelfer sind schnell überfordert, wenn sich ihre Patienten nicht impfen lassen wollen. Wie kann man sie besser unterstützen?

Unser medizinisches Personal wird in der Kommunikation mit Patienten leider noch nicht ausreichend ausgebildet. Dabei gibt es Studien, die zeigen, dass die sogenannte motivierende Gesprächsführung sehr gut funktioniert. Das ist eine wertschätzende Form der Beratung: Ich gehe respektvoll mit Ängsten und Befürchtungen um und biete behutsam an, Informationen mit dem Patienten zu teilen – statt auf meiner eigenen Meinung zu beharren und den scheinbar unwissenden Patienten damit zu konfrontieren. In Kanada wird die Technik schon erfolgreich in Geburtsstationen angewendet – mit hervorragenden Effekten auf die Impfraten.

In Deutschland wird jetzt aus einer medizinischen Empfehlung gesetzliche Pflicht. Was löst das in Menschen aus, die ohnehin nicht so gut auf Impfungen zu sprechen sind?

In einem Experiment haben wir uns mit der Frage beschäftigt: Wenn ich zu einer Impfung gezwungen werde, wie gehe ich dann mit den übrigen um? Denn alle anderen Impfungen bleiben weiterhin freiwillig. Wir fanden heraus: Menschen, die eine eher mittelmäßige Einstellung zum Impfen haben, zeigten nach einer Pflichtimpfung Reaktanz, das heißt, sie ärgern sich. Bei einer zweiten, freiwilligen Impfung entschieden sie sich zu fast 40 Prozent häufiger dagegen als die übrigen Teilnehmer.

Eine teilweise Impfpflicht führt also zu einer Art Trotzreaktion und könnte so aus Unentschlossenen echte Impfgegner machen?

Es ist nicht klug, nur eine Impfung verpflichtend zu machen. Das legen unsere Befunde nah. Darüber habe ich sogar vor dem Bundesgesundheitsausschuss gesprochen. Leider hat es nur wenig bewirkt. Wir werden beobachten, was passiert.

Was erwarten Sie denn?

Im besten Falle geht alles gut, die Masern-Impfrate geht nach oben. Und Eltern fragen den Kinderarzt: Wenn ich schon mal hier bin, was fehlt denn noch? Denn die überwiegende Mehrheit befürwortet die Impfpflicht. Aber rund 14 Prozent der Bevölkerung stehen dieser Maßnahme skeptisch gegenüber. Im schlimmsten Fall könnte das Gesetz also nach hinten losgehen.

Lässt sich der mögliche Schaden eindämmen?

Wir haben in Untersuchungen herausgefunden, dass Menschen aufgeschlossener reagieren, wenn man sie auf den Gemeinschaftsschutz hinweist, etwa: „Die Impfung schützt auch andere, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können.“ Wer das weiß, ärgert sich nicht so stark über die Pflicht. Das ist ein Lichtblick. Leider sieht das Gesetz aber zu wenig Geld für die Kommunikation der Impfpflicht vor.

Wäre es möglich gewesen, die Impfrate auch ohne eine gesetzliche Pflicht zu erhöhen?

Die Forschung zeigt, dass eine Widerspruchslösung beim Impfen hilfreich wäre. Das hieße: Die Impfung wird zum Standard. Wer das nicht möchte, muss der Maßnahme aktiv widersprechen. Man nutzt die Erkenntnisse aus den Verhaltenswissenschaften bloß nicht.

Gesetze zielen häufig darauf ab, menschliches Verhalten zu ändern. Politiker ignorieren aber oft die psychologischen Aspekte ihrer Maßnahmen. Wie lässt sich das ändern?

Psychologen werden allmählich zu diesen Themen eingeladen, finden aber noch zu wenig Gehör. Wir sollten aber unsere eigene Forschung ernst nehmen – und stärker in die Politik einbringen. Psychologen können die Entscheidungsträger noch besser über Forschungsergebnisse informieren. Dafür müssen wir als wissenschaftliche Disziplin ein neues Selbstbewusstsein entwickeln.

Dr. Cornelia Betsch ist Psychologin und Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt. Sie berät die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Akzeptanz von Impfungen

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2020: An Krisen wachsen