Die letzte Bastion

Der Schlaf hat einen schlechten Stand in einer Welt, die nie zum Stillstand kommt. Dabei brauchen wir ihn dringend: als Kraftquelle und als Refugium.

Foto zeigt eine Frau im Bett, die sich der Welt entzieht.
Wer schläft, entzieht sich dem permanenten Druck, etwas zu leisten oder zu konsumieren. © Walstrom Susanne/Getty Images

Schlaflos im Spätkapitalismus, wie der amerikanische Essayist Jonathan Crary in seinem gleichnamigen Buch 24/7 – Schlaflos im Spätkapitalismus insinuiert, sind gerade viele. Ein guter Anlass, einen näheren Blick auf Crarys Streitschrift zu werfen. Sie zeichnet mit polemisch spitzer Feder die schädlichen Effekte einer „permanent eingeschalteten Welt, für die es keinen Ausschaltknopf gibt“, nach – einer von Marktlogik und Digitalisierung durchdrungenen Welt, in der es rund um die Uhr etwas zu shoppen, zu erfahren, zu erleben gibt.

Seine Kritik geht dabei über die schlafhemmenden Alltagswirkungen der Spätmoderne hinaus: die Schlafstörungen erzeugenden, blaues Licht verströmenden Fernsehschirme; die künstlich erleuchteten Großstädte, die nicht nur Menschen, sondern auch die Vogelwelt aus dem Tritt bringen; die bis in die späten Abendstunden pingenden Mitteilungstöne der Smartphones. Crary geht es um etwas noch Fundamentaleres: darum, dass uns unser zyklisches Zeitgefühl abhandenkommt. Gab es seit der Antike in den unterschiedlichsten Kulturen einen Wechsel zwischen Werk- und Ruhetagen, löst sich dieser nun auf in die immer gleiche Monotonie – eine „halluzinatorische Präsenz, die dauerhafte Abfolge unaufhörlicher, reibungsloser Operationen“.

Subversives Potential

Nun könnte man es bei der Feststellung bewenden lassen, in kapitalistischen Gesellschaften werde der Schlaf ebenso wenig geschätzt wie der Müßiggang und die romantische Tagträumerei, und wir alle hätten nun einmal damit zu leben. Aber so einfach ist es nicht. Denn es formiert sich eine Gegenbewegung. Nun, da der Imperativ des unterbrechungsfreien Konsumieren- und Funktionierenmüssens herrscht, entfaltet der Schlaf subversives Potenzial: Gerade weil es heute einen so schlechten Stand hat, wird das Schlafen zum Fluchtpunkt und Hoffnungsträger.

Es scheint wieder en vogue zu werden, auf ausreichend Schlaf und Schlafqualität zu achten, allein schon aufgrund der damit verbundenen Gesundheitsvorteile. Die Schlafapologetinnen und -apologeten der heutigen Zeit bedienen sich dabei all jener Schlafhilfen, die die digitalisierte Welt seit kurzem bereithält – von Bildschirmen, deren Lichttemperatur abends wärmer wird, über Podcasts mit allen erdenklichen Beruhigungsgeräuschen und Apps, die Schlafphasen aufzeichnen, bis hin zu Weckern, die innerhalb eines definierten Zeitfensters den ideal-sanften Aufwachzeitpunkt bestimmen.

Die Crux an alledem: Verbissen darauf bedacht zu sein, seine „Schlafeffektivität“ oder „Schlafperformance“ zu verbessern, ist nicht gerade ein Anzeichen dafür, aus dem Hamsterrad der Optimierung ausgestiegen zu sein. Für ein gesundes Verhältnis zum Schlaf braucht es eben nicht nur die richtigen Werkzeuge, sondern auch – Zeit.

Reflektieren, loslassen, den Tag verarbeiten: All das geht nicht auf Knopfdruck. Der Schlaf, er braucht Luft zum Atmen, wenn er uns neues Leben einhauchen soll.

Lesen Sie den kompletten Artikel von Franz Himpsl in unserem aktuellen Themenheft der Reihe Psychologie Heute compact: Besser schlafen: Warum wir wachliegen. Wie wir zur Ruhe finden. Was Träume uns sagen

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 65: Besser schlafen
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