Gemeinsam statt einsam

Neue Formen des gemeinschaftlichen Wohnens bieten viel Lebensqualität. Gerade auch für Menschen, die die Einsamkeit scheuen und Anschluss suchen.

Passivhaus des gemeinschaftlichen Wohnprojekts im Vauban-Viertel in Freiburg im Breisgau.
Gemeinschaftliches Wohnen im Vauban-Viertel in Freiburg im Breisgau. © picture alliance/imageBROKER/Daniel Schoenen

Zweiunddreißig Grad: Es ist heiß an diesem Sonntagvormittag im Möckernkiez. Drei, vier Familien sind trotzdem unterwegs, die Kinder toben auf Kletternetzen, ein Vater hat sich mit seiner Tochter unter den kühlenden Schatten eines Baumes gerettet. Am Eingang des Quartiers steht in großen Lettern aus bunter Transparentfolie: „Exit Racism“. Im ersten Innenhof: Regenbogenfahnen, Greenpeace-Aufkleber, ein „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“-Plakat. Im Durchgang zum zweiten Innenhof: Fahrräder mit Lastenanhängern. Und wieder Banner: „Energiesystemwende“, „Leave no one behind“. Ein Biotop für linke Aussteiger?

Eher eine Insel der Seligen für das arrivierte linksliberale Bürgertum: Die Lage des Kiezes im Szenebezirk Kreuzberg ist schick, die Balkone sind akkurat begrünt, der vom Gartenflieder gerahmte Kiezaufgang wirkt herrschaftlich. Es ist für alles gesorgt: Entlang des Quartiers finden sich zahlreiche Geschäftsräume. Ein „Zentrum für Lebenskompetenz“, das Co-Working anbietet; ein Deli-Café, die Altböhmische Honigtorte mit Walnüssen für 4,50 Euro; ein Biomarkt, der mit dem Slogan „Organic soul food, made in Berlin“ für sich wirbt.

Genossenschaftliches Wohnen

Wer im 2018 fertiggestellten Modellprojekt Möckernkiez leben will, muss sich einkaufen: Das Quartier beruht auf dem Prinzip der Genossenschaft. Das heißt, die Menschen, die dort wohnen, haben vorher Genossenschaftsanteile erworben; dadurch wurden sie Anteilseigner des Wohnungsunternehmens und erhielten zugleich ein Nutzungsrecht an einer Wohnung. Ungefähr 2000 solcher Wohnungsgenossenschaften gibt es in Deutschland, etwa fünf Millionen Menschen leben in den genossenschaftlichen Wohnungen. Im Möckernkiez mit seinen 14 Wohngebäuden reicht das Spektrum von der Einzimmerbude bis zur 150-Quadratmeter-Residenz.

Genossenschaften haben viele Vorteile: sicherer Wohnraum, nachbarschaftliche Angebote, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Ist der Möckernkiez also ein Zukunftsmodell, gerade angesichts steigender Mieten, überhitzter Immobilienmärkte und zunehmender Diskussionen über das potenziell klimaschädliche Einfamilienhaus?

Fragt man Annette Spellerberg, dann gehört der Kiez jedenfalls zu den bemerkenswertesten gemeinschaftlichen Wohnprojekten Deutschlands. Spellerberg, die Soziologieprofessorin an der TU Kaiserslautern ist, hat zum Thema geforscht und konstatiert in einem bald erscheinenden Buchbeitrag, das gemeinschaftliche Wohnen stelle eine wachsende Nische auf dem Wohnungsmarkt dar: von den Bau-, Haus- und Wohngemeinschaften über Mehrgenerationenhäuser, Wohnquartiere, Siedler- und Dorfgemeinschaften bis hin zu Genossenschaften und der Idee des inklusiven Wohnens. Welche Form kommt für wen infrage?

Der Einsamkeit entkommen

Die Antwort hat nicht nur etwas mit Geld zu tun. Wer gemeinschaftlich wohnt, will oft einfach der Einsamkeit entkommen. Die Coronakrise hat das Problem gerade für Alleinstehende auf die Spitze getrieben. Doch auch wenn gerade keine Pandemie tobt, lockt die Gemeinschaft: „Eine gestiegene Lebenserwartung, die vergleichsweise kurze Familienphase im gesamten Lebenslauf und der mit der Bildungsexpansion verbundene Auszug von Kindern aus dem Herkunftsort haben vor allem nach der aktiven Elternphase das Bedürfnis geweckt, verbindliche Beziehungen außerhalb des Familien- und Verwandtschaftskreises aufzubauen“, glaubt Annette Spellerberg.

Das gemeinschaftliche Wohnen solle die Vereinzelung überwinden, die Menschen erleben, die in klassischen Eigenheimen oder in einer Mietwohnung leben. Aber auch die höhere Müttererwerbstätigkeit sieht die Soziologin als Grund für die zunehmende Attraktivität solcher gemeinschaftlicher Wohnprojekte an: Doppelverdienerfamilien suchen oft händeringend nach Entlastung bei der Kinderbetreuung im näheren Umfeld. Sie finden sie im Schutz des Quartiers.

Den vollständigen Artikel über neue Formen gemeinschaftlichen Wohnens „Unter uns“ finden Sie in unserem aktuellen Themenheft der Reihe Psychologie Heute compact: Meine Wohnung und ich: Was wir brauchen, um uns wohlzufühlen. Was unsere vier Wände über uns erzählen. Wie wir den Ort fürs Leben finden

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 66: Meine Wohnung und ich
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