Viele von uns lehnen Nationalismus ab – doch die Soziologin Leila Wilmers sagt, dass wir alle in nationalistischen Kategorien denken, weil wir kaum anders können. Dies manifestiere sich in Form zweier konträrer und meist unbewusster Erwartungen: zum einen der, dass es in unserem Heimatland Kontinuität gibt, also alles bleibt, wie es ist. Zugleich gehen wir fest davon aus, dass Fortschritt passiert, sich die Lebensverhältnisse also stetig verbessern.
In vor dem Ukrainekrieg durchgeführten Tiefeninterviews mit 68 Frauen und Männern in Russland im Alter von 18 bis 90 Jahren ging die Autorin der Frage nach, wie die Menschen gesellschaftliche Veränderungen anhand dieser beiden Gewissheiten für sich einordneten und welche Rolle die Nation für sie spielte.
So zitiert Wilmers eine 66-jährige Interviewpartnerin, die sich glücklich zeigte, dass Russland die Zeit der Perestroika so gut durchgestanden habe: „Ich hoffe, es wird Russland immer geben.“ Dagegen sprachen Jüngere davon, dass sie für Russland keinen Fortschritt sähen. Die vielen Veränderungen in der russischen Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte seien Teil ihrer Identität geworden, vermutet die Autorin.
Literatur:
Leila Wilmers: How we engage the principles of nationalism in making sense of uncertainty and disruptive social change. Ethnic and Racial Studies, 2022. DOI: 10.1080/01419870.2022.2032249