Sehnsucht nach Dominanz

Wir alle können den Wunsch nach einer dominanten Führungsperson entwickeln. Warum, sagt der Politikwissenschaftler Michael Bang Petersen.

Ich will, dass jemand entscheidet - in Gruppenkonflikten kommt das häufiger vor. © Skynesher/Getty Images

Laut der verschiedenen Theorien zur autoritären Persönlichkeit wünschen sich vor allem autoritätsfixierte Menschen eine starke Führung. Sie sagen, dass es auch andere Gründe gibt, sich eine dominante Führung zu wünschen.

Es gibt in der Tat Evidenz in der Forschung dafür, dass Menschen mit autoritären Persönlichkeitszügen sich dominante Politikerinnen und Politiker wünschen, um sich ihnen dann zu unterwerfen. Aber heutzutage zeigen Untersuchungen auch, dass es ganz anders sein kann: Manchmal wünschen sich Menschen eine dominante Führung, wenn sie sich plötzlich in einem politischen Konflikt wiederfinden. Sie wollen sich nicht unterwerfen, sondern sie möchten, dass diese Person ihre Ziele erfüllt, also den Konflikt zwischen der eigenen und einer anderen Gruppe löst. Das bedeutet: Diese Personen haben nicht unbedingt eine aggressivere Persönlichkeit als andere. Es ist der Konflikt, der sie aggressiv macht und der in ihnen den Wunsch entstehen lässt, dass in ihrer Partei oder ihrer ethnischen Gruppe jemand die Führung übernimmt, der bei der Lösung des Konfliktes zielstrebig vorgeht, der oder die das kann, dem sie das zutrauen.

In einem solchen Moment stellt sich bei einigen eine bestimmte Haltung ein, die wir conflict-related mindset nennen (deutsch: konfliktbezogene Einstellung). Das heißt, die Menschen fühlen sich unvermittelt aggressiv, das Konfliktereignis aktiviert dieses spezielle Mindset in ihnen. Dann stellt sich der Wunsch ein, diesen Konflikt zu lösen, und dafür wünscht man sich, wie gesagt, eine Person an die Spitze der Bewegung oder der Partei, die dazu fähig ist, die sich durchsetzen kann, die stark ist, die weiß, was zu tun ist.

Unsere Untersuchungen haben gezeigt: Wer sich dominante Führung wünscht, tut das eben nicht aus Angst oder dem Wunsch nach Schutz, sondern weil sie oder er selbst sich in diesem Moment aggressiv fühlt. Diese Menschen benutzen die dominanten Führungspersonen als „Tool“ für ihre eigene Aggression, sie delegieren diese Aggression symbolisch ausgedrückt an diese Person und wünschen sich, dass die Person den Konflikt in ihrem Sinne löst.

Manche von ihnen sind tatsächlich selbst relativ dominant, sie neigen stärker als andere dazu, die Welt als einen Ort zu betrachten, der voller Konflikte ist. Aber anders als es die Theorie der autoritären Persönlichkeit besagt, die davon ausgeht, dass die Aggressivität das Verhalten dauerhaft und stabil prägt, kann diese aggressive Haltung auch ganz schnell wieder verschwinden und für lange Zeit „inaktiv“ bleiben.

Wie können Menschen, die sonst nicht aggressiv sind, dieses konfliktbezogene Mindset entwickeln?

Ich habe das am 24. Februar dieses Jahres – dem Beginn des Ukraine-Kriegs – bei mir selbst erlebt. In dieser Situation wurde diese Haltung in mir selbst aktiviert. Und ich habe es in den Social Media beobachtet, es muss sehr vielen Leuten so gegangen sein. Alle haben plötzlich Dinge gedacht, die sie vorher noch nie gedacht hatten, sie empfanden ein Bedürfnis, etwas gegen den Krieg zu tun, eine intensive Erfahrung von Wut und Ärger. Sie treibt uns in eine solche Haltung. Dieses Mindset ist mehr als einfach nur Ärger, es ist ziemlich komplex.

Was meinen Sie damit?

Wenn zwei Gruppen miteinander in Konflikt geraten, dann entstehen innerhalb der Gruppen allerhöchste Anforderungen an die Kooperation der Mitglieder untereinander. Wenn man den Wunsch hat, dass aggressives Vorgehen gegen die anderen der Weg zur Konfliktlösung ist, dann wünscht man sich eine Person an der Spitze, die genau weiß, was zu tun ist und was wer zu tun hat, damit die sozialen Ziele erfüllt werden. Diese Person muss durchsetzungsfähig sein, Strategien haben und diese umsetzen. Kriege sind gerade in dieser Hinsicht extrem komplexe Situationen. Ein Krieg bedeutet aus sozialpsychologischer Sicht, dass zwei Gruppen ein bewaffnetes „Wettrennen der Kooperation“ begonnen haben. Je besser die Kooperation innerhalb einer Gruppe ist, desto höher ihre Erfolgsaussichten.

Lässt sich das auf den Krieg in der Ukraine übertragen?

Das ist schwer zu sagen. In unseren Forschungen ging es um Konflikte zwischen Ethnien, die plötzlich ausgebrochen waren und vor deren Hintergrund wir Menschen befragt haben. Putin ist aber in Russland schon sehr lange an der Macht. Ich bin mir nicht sicher, ob es die Vorstellung, dass es zwischen Russland und der Ukraine ein Konflikt besteht, in Russland überhaupt gibt.

Was ich mir vorstellen kann: In Russland werden manche Menschen Putin wegen des Kriegs noch mehr unterstützen und darauf zielt die Kriegskommunikation auch ab. In der Ukraine hingegen nehmen Menschen einen Konflikt zwischen Russland und dem Westen wahr, dies vor allem im östlichen Teil des Landes.

Wenn ein solches konfliktbezogenes Mindset doch ein Teil der Persönlichkeit ist – wie entwickelt sich das?

Es gibt Evidenz dafür, dass Menschen, die eine harsche Erziehung erlebt haben, dazu neigen, die Welt eher als einen Ort voller Konflikte zu sehen, einen competitive jungle, wie Forscherinnen und Forscher es nennen. Außerdem ist bekannt, dass es genetische Dispositionen für erhöhte Aggressivität gibt, Menschen, die diese Veranlagung haben, reagieren aggressiver als andere. Wenn solche Menschen dann ihre Kinder eher harsch und unfreundlich erziehen, können die Kinder das übernehmen. Es ist also beides, eine genetische Veranlagung und es sind eigene Erfahrungen.

Ob im späteren Leben dieses konfliktbezogene Denken aktiviert wird, hängt von der Situation ab – befinden sich Menschen sehr plötzlich in einem Konflikt, kann das schnell passieren. Ein Beispiel: Vor ein paar Jahren, 2014, haben wir in der Ukraine mit einer Studie begonnen, um die Präferenzen für dominante Führung zu untersuchen. Wir planten, Menschen danach zu befragen, auch auf der Krim. Kurz nachdem wir beginnen wollten, startete die Invasion. Es war Zufall. Wir haben dann noch einige Fragen ergänzt, um den aktuellen Hintergrund mit zu erfassen. So konnten wir herausfinden, wie sich Präferenzen für Dominanz während eines realen Konflikts zeigen würden.

Das Ergebnis: Menschen, die auf die Vorfälle mit Wut reagierten, gaben an, eine dominante Person als ihren Führer zu bevorzugen. Diejenigen aber, denen die Invasion Angst machte, wollten das nicht, sie bevorzugten eine neutrale Führung. Das scheint uns ein Zeichen dafür zu sein, dass vor allem Menschen, die sich selbst aggressiv fühlen, sich für ihre Partei oder Bewegung eine dominante Führung wünschen.

Ihrer Auffassung nach nehmen Menschen, die Dominanz bevorzugen, dabei unter Umständen auch Nachteile in Kauf, etwa das Risiko, von der dominanten Person benutzt zu werden. Wie meinen Sie das?

Dominante Personen, die Macht haben, neigen meistens dazu, Regeln zu ihrem Vorteil zu verbiegen oder zu brechen. Ein simples Beispiel ist der ehemalige US-Präsident Donald Trump, der im seinem Golfresort in Florida Lobbyisten aus der Wirtschaft Zugang gewährte und dafür sehr viel Geld verlangte, was es bei allen US-Präsidenten davor nie gegeben hatte. Eines muss man sich bewusst machen: Menschen, die sich auf diese Weise ausnutzen lassen, damit die führende Person ihre eigenen Ziele erfüllt, zählen nicht zu den moralisch Besten. Im Normalfall sind die meisten Menschen sehr skeptisch gegenüber aggressiven Führungspersonen. Ist ein Konflikt beigelegt, also beispielsweise ein Krieg beendet, verschwindet die Präferenz meistens sehr schnell, das zeigt das Beispiel von Winston Churchill. Nur drei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zu dessen Ende er maßgeblich beigetragen hatte, wurde er nicht wiedergewählt, er erlebte ein Debakel.

Wünschen sich Menschen, die während eines Konflikts dominante Führung bevorzugen, auch immer zugleich Krieg?

Einige ja, dafür haben wir Hinweise gefunden.

Warum?

Sie lehnen Kompromisse ab, wie sie in der Diplomatie immer nötig sind. Der Grund ist, dass sie nicht möchten, dass der Gegner auch nur den geringsten Vorteil hat. Der Vorteil des Gegners ist für manche ein psychologischer Verlust. Das geht mit dem Gefühl einher, dass Status verloren wurde, dass man als schwach wahrgenommen wird und das ist kompromittierend. Kommt es dann zu einem Nullsummenspiel, das heißt, setzt sich die Idee durch, dass der „Feind“ aus diesem Grund gar nichts gewinnen darf, dann ist das wirklich ein Problem.

Kann die Bevorzugung von dominanten Personen auch auf die Wirkung von bestimmten Narrativen zurückgeführt werden, die im Kriegsfall als Propaganda bezeichnet werden?

Ja, diese Geschichten wirken am besten, wenn bei den Menschen schon eine Disposition vorhanden ist. Ein gutes Beispiel für die Wirkung von Narrativen ist wieder Donald Trump, der angesichts des Wahlsiegs von Joe Biden verbreitet hat, dass ihm die Wahlen gestohlen worden seien. Diese Falschinformation bekräftigte bei seinen Anhängern bestehende Ideen, dass das System in den USA korrupt sei, und verstärkte auch die Unterstützung für Trump.

Werden diese Narrative denn wirklich geglaubt?

Das ist die falsche Frage! Wir glauben an Sachverhalte oder Geschichten, von denen wir denken, dass sie stimmen, aber viele unserer Überzeugungen haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Unsere Überzeugungen haben weniger eine epistemische, sondern vor allem eine soziale Funktion: Sie erlauben uns, Dinge zu tun, sie ermöglichen uns etwas. Im Fall von Trump hat die Geschichte der gestohlenen Wahl seinen Anhängerinnen und Anhängern erlaubt, den Protest und den Sturm auf das Kapitol zu organisieren.

Michael Bang Petersen ist Professor für Politikwissenschaft an der dänischen Aarhus University. Er erforscht, wie Menschen über Politik denken und befasst sich mit der Psychologie der Demokratie.

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