„Aus dir wird mal was“

Joel gilt in der Schule als „schwieriger Fall“ – bis die angehende klinische Psychologin Johanna Odenthal bei der Potenzialanalyse auf ihn trifft

Die Illustration zeigt einen Jungen mit einer Clownsmaske am Kopf, die er nach oben geschoben hat, um auf sein Smartphone zu schauen
Was soll nur aus dem Klassenclown werden? Bei der Potenzialanalyse zeigt er sein wahres Gesicht. © Michel Streich für Psychologie Heute

Wenn ich beim Kaffeetrinken von meinem Nebenjob erzähle, werde ich häufig gefragt, was ich da eigentlich genau mache – in dieser Potenzialanalyse. Im Grunde genommen sage ich Jugendlichen, dass aus ihnen mal was wird.

Stationen der Orientierung

Aus meiner eigenen Jugend weiß ich sehr genau, welchen Einfluss dieser klei­ne Satz „Aus dir wird mal was“ haben kann. Das ist kein Wunder, denn in einer Altersspanne, in der nach externer Bestätigung für den eigenen Selbstwert Ausschau gehalten wird, hat ein solcher…

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in der nach externer Bestätigung für den eigenen Selbstwert Ausschau gehalten wird, hat ein solcher Satz die Möglichkeit, etwas zu verändern – fünf Wörter, die die Selbstwirksamkeitserwartung von Jugendlichen erhöhen und dadurch bei ihnen eine positive Einstellung zum Wachstum be­wirken können.

In der Potenzialanalyse vermitteln wir genau das. Eingebettet ist sie in das Angebot des Landes Nordrhein-Westfalen „Kein Abschluss ohne Anschluss“, mit dem ein Übergang vom Schulabschluss zum Berufsbeginn ermöglicht werden soll. Dafür werden mehrere Stationen zur Orientierung angeboten, wir sind die erste.

Fokus auf Kompetenzen, nicht auf Schwächen

In Testverfahren beobachten wir die Potenziale der Jugendlichen und besprechen sie im Auswertungsgespräch mit ihnen und ihren Eltern. Anders als das Schulsystem fokussieren wir uns dabei ausschließlich auf die Kompetenzen der Jugendlichen – nicht auf deren Schwächen.

Konkret bedeutet das: Zwei Tage in der Woche sitze ich in einem stickigen Raum mit hormonell überdosierten Jugendlichen, denen in diesem Moment nichts weniger wichtig ist als ihre berufliche Zukunft. Viel wichtiger scheint die Frage danach, ob Paula sich in Gökhan verliebt hat, wie Can auf TikTok so viele Follower bekommen hat und ob wohl die Englischhausaufgaben morgen wirklich eingesammelt werden. Diejenigen, die ihre Unlust dabei verstärkt zeigen, werden von den Lehrkräften oft als „die schwierigen Fälle“ bezeichnet. Gemeint sind damit häufig die Klassenclowns. Ich kenne und mag diese schwierigen Fälle, weil ich selbst mal einer war.

Das letzte Mal war es der Lehrkraft wichtig, mir vorab persönlich mitzuteilen, dass Joel* genau solch ein Fall sei. Ihr Briefing war allerdings überflüssig: Dass sie wenige Minuten zuvor bereits durch den Flur des Durchführungsortes lauthals „Joel, kannst du bitte einfach ein einziges Mal zuhören!“ gerufen hatte, hatte schon ausgereicht. Besonders weil Joel hörbar konterte: „Ich versuche es wirklich, aber Sie sind ein harter Gegner, Frau Kamurat.“

Stundenlang wurden an diesem Tag Papiertürme gebaut (Handgeschicklichkeit), Diskussionen geführt (Kommunikationsfähigkeit) und Aufgaben gestellt, die nur mit Teamfähigkeit gelöst werden konnten. Auf einen Jugendlichen kommen dabei fünf Mitarbeitende, die ihn abwechselnd während der Aufgaben beobachten und anhand unterschiedlicher Kompetenzen bewerten.

„Geschichten kommen mir die ganze Zeit in meinen Kopf“

Jede Aufgabe wurde von Joel humorvoll kommentiert. Ab und an lenkte er sich selbst durch sein Handy ab, tippte etwas ein und hob seinen Kopf dann wieder. Statt ihm zu befehlen, sein Handy in die Tasche zu stecken, fragte ich ihn ehrlich interessiert, was er denn andauernd darauf tippe. Da die Pause in dem Moment sowieso begonnen hatte und wir allem Anschein nach in den letzten Stunden eine Beziehung zueinander aufgebaut hatten, beugte er sich zu mir rüber und zeigte mir seine GTA-Charaktere: von ihm geschaffene Figuren des Computerspiels Grand Theft Auto, die mich weniger beeindruckten als seine begeisterte und kreative Art und Weise, mir deren ausgedachte Lebensgeschichten zu erzählen. Er musste mir meine Begeisterung angesehen haben, da er selbstbewusst in seine Notizen-App tippte. „Ich baue die Charaktere und dann schreibe ich diese ganzen Geschichten zu deren Leben.“

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Auf seinem verschmierten und in Einzelteile zersprungenen Smartphone­bildschirm waren an die hundert Kurzgeschichten zu sehen. Während er vor sich hin erzählte, scrollte er lässig durch die App, und ich stellte fest, dass es tatsächlich selbst verfasste Erzählungen waren – nicht nur Kurzgeschichten über seine GTA-Charaktere, sondern auch über Joels Freunde und Freundinnen, seine Träume und die geplatzten Träume seiner Eltern. Ich schwieg verblüfft. „Ja, keine Ahnung“, antwortete er auf mein Schweigen, „egal wo ich bin, so Geschichten kommen mir die ganze Zeit in meinen Kopf und ich schreibe die einfach auf, bevor ich sie vergesse. Zeig ich aber sonst keinem. Ich mach das nur für mich. Wissen Sie, was ich meine, Frau Odenthal?“

Zwei Perspektiven, die unterschiedlicher nicht sein könnten

In ihrem Briefing hatte mir die Lehrkraft Joel vorab als unmotiviert, störend und unkonzentriert beschrieben. Ich nahm Joel als kreativ, leidenschaftlich und sozial intelligent wahr. Zwei Perspektiven, die beide aus konstruktivistischer Sicht begründbar sind. Der Konstruktivismus beschreibt, dass wir aus jeder Situation eine subjektive Realität konstruieren und gar nicht die eine wahre objektive Realität wahrnehmen – wenn es so eine denn überhaupt gibt.

Zwei subjektive Realitäten zu ein und derselben Situation. Es wäre sinnlos, darüber zu diskutieren, welche der beiden Perspektiven wahr ist. Stattdessen ist es sinnvoll, sich zu fragen, welche Perspektive hilfreich ist. Ist es die der Lehrkraft? Ihre Perspektive ermöglicht Frau Kamurat, Joel zu sanktionieren für sein Verhalten, das bei einem Lehrer-Schüler-Verhältnis von eins zu 29 die Arbeit erschwert. Schlussendlich ist die subjektive Realität der Lehrkraft also nicht nur menschlich nachvollziehbar, sondern auch hilfreich. Denn wenn Joel das Problem ist, ist es das System nicht.

Dazu parallel ist meine Sichtweise ebenfalls hilfreich: Sie ermöglicht es Joel, seine Stärken als solche anzuerkennen, einen konstruktiven Umgang mit diesen zu entwickeln und dadurch eine positivere Einstellung zum persönlichen und beruflichen Wachstum zu erlangen. Wenn das System das Problem ist, kann aus Joel mal was werden.

Die Welt um unser System herum

In unserem Schulsystem belohnen wir nach wie vor lediglich ein systemkonformes Verhalten. Nur bedenken wir dabei nicht, dass sich die Welt um unser System herum eben weiterdreht, ob wir uns mitdrehen oder nicht. In einer Zeit, in der künstliche Intelligenz das Abfragen von Fachwissen übernehmen kann, gewinnen kreative und soziale Fähigkeiten an Bedeutung.

Joel war – wie aus meiner Erfahrung leider die meisten „schwierigen Fälle“ – im Auswertungsgespräch überrascht, von mir zu hören, dass er Potenziale habe. Wir sprachen darüber, dass er seinen Weg finden werde, ohne sich als das Problem zu betrachten. Und trotzdem will er im System funktionieren. Joel will kein Systemaussteiger sein. Niemand will das. Wir wollen alle dazugehören. Selbst die Klassenclowns. Nur muss das System eben auch immer einen Schritt auf neue Generationen zugehen – sich ein klitzekleines bisschen mit verändern. Wir müssen aus meiner subjektiven Perspektive nicht gleich ein neues Buch schreiben, aber vielleicht zumindest ein neues Kapitel aufschlagen.

Beim Verlassen meines Raums drehte sich Joel übrigens noch mal um, hob die Hand ganz lässig zur Verabschiedung und sagte mit einem verschmitzten Lächeln: „Frau Odenthal, wenn es dem Schulsystem in Deutschland so schwerfällt, ein neues Kapitel aufzuschlagen, können Sie denen ja mal eins von meinen per Fax schicken.“ Joel, aus dir wird mal was. Hoffentlich wirst du das System mehr verändern als andersherum.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die den Klienten oder weitere Personen erkennbar machen könnten, wurden verändert

Johanna Odenthal ist angehende klinische Psychologin im Masterstudium und selbständige psychologische ­Beraterin in der positiven Psychologie

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2025: Mit schwierigen Menschen leichter leben