Die Mutter eines Dreijährigen kommt verstört in meine Praxis. „Mein Sohn ist schwer krank“, berichtet sie. „Er hat Autismus.“ Das erscheint mir merkwürdig – eine so ernste Diagnose? Der Junge hat sich bisher ganz normal entwickelt. Bis vor kurzem war er in einer Kinderkrippe gut integriert. Jetzt ist er in den Kindergarten gekommen, in eine große Gruppe – und ist der kleinste Junge neben vielen Mädchen, einige davon mehrere Jahre älter als er. Seine Mutter hat zunehmend Mühe, ihn zu überzeugen, in den Kindergarten zu gehen. Sie ist alleinerziehend und fürchtet, ihre Arbeit zu verlieren, wenn sie zu viele Fehlzeiten hat.
Schnelldiagnose der Leiterin des Kindergartens
Schließlich erzählt der Junge, dass die Mädchen sich über ihn lustig machen, wenn er sich ungeschickt verhält. Warum sagt er der Fachkraft nichts? Nach und nach kommt heraus, dass die Erzieherin ihn offenbar nicht in Schutz nimmt, wenn er verspottet wird.
Und noch bevor die Mutter mit einer der überlasteten Erzieherinnen sprechen kann, wird sie schon zum Elterngespräch bestellt. Ihr Sohn sei sichtlich gestört. Er nehme wenig Kontakt auf, halte sich beim Spielen abseits und habe neulich ein Mädchen geschlagen. Die Leiterin des Kindergartens stellt die oben erwähnte Diagnose und empfiehlt eine kinderpsychiatrische Abklärung. Die Mutter versucht eine Gegenrede. Könne es nicht sein, dass ihr Kind Probleme mit der Umstellung habe? Ihr Sohn sei in der Krippe nie aggressiv gewesen. Sei Autismus nicht ein viel zu schwerwiegendes Wort für einen Streit im Kindergarten? Sie stößt auf kühle Abwehr. Die Leiterin spreche aus jahrlanger Berufserfahrung, es sei weder der Erzieherin noch ihr gelungen, das Kind zu erreichen.
Die Rest von Verstörung bleibt
Eine Schwangere kommt verstört vom Frauenarzt in meine Praxis. Dieser hat bei der Ultraschalluntersuchung einen Schatten im Gesicht des Ungeborenen entdeckt. Es könnte, sagt er der Mutter, eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte sein. Er schlägt eine Spezialuntersuchung mit einem höher auflösenden Gerät vor. Die werdende Mutter ist erschüttert, verängstigt, verbringt schlaflose Nächte, grübelt über Abtreibung, über die Ehekrise durch ein Kind mit Behinderung. Nach einer Woche seelischer Qual findet der Spezialist mit dem höher auflösenden Gerät keinen Hinweis auf eine Missbildung. Die Schwangere ist etwas beruhigt, aber ein Rest von Verstörung bleibt und verschwindet erst, als sie ihr gesundes Kind in den Armen hält.
Ich finde es nicht nur gedankenlos, sondern auch ärgerlich und unprofessionell, wenn Experten mit dem besten Gewissen der Welt ihnen anvertraute Personen in Angst und Schrecken versetzen. Sie machen sich wichtig auf Kosten Dritter, plustern sich mit einem Halbwissen auf und denken keinen Augenblick daran, wie locker ausgestreute Verdächtigungen auf Menschen wirken, die Halt und Trost brauchen. Wenn dann der erst gedankenlos und nicht selten besserwisserisch ausgestreute Verdacht bestätigt oder entkräftet ist, hat sich nicht nur das Opfer sinnlos gequält, es fällt auch ein Schatten auf Experten schlechthin, den wir in Zeiten populistischer Ignoranz nicht gebrauchen können.
Wolfgang Schmidbauer ist Psychoanalytiker und Psychotherapeut für Einzel- und Paartherapie in München und Autor zahlreicher Sachbücher.
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