Doktorspiele 2.0

Kindliche Sexualität ist ein Tabuthema für Mütter und Väter. Doch Kinder können im Internet schnell und leicht an eindeutiges Material gelangen.

Kita geschlossen. Krisenstab. Fristlose Kündigung der Mitarbeiter. Die Gründe für diese drastischen Maßnahmen schienen triftig. Über Wochen hinweg sollte es in der Mainzer Kindertagesstätte „Maria Königin“ zu aggressivem und sexuell übergriffigem Verhalten gekommen sein. Und zwar unter den Kindern, und ohne dass Erwachsene eingeschritten wären. Als besorgte Eltern diese Vorwürfe im vergangenen Jahr öffentlich machten, war die mediale Aufmerksamkeit groß, die Fassungslosigkeit überregional. Doch einige…

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war die mediale Aufmerksamkeit groß, die Fassungslosigkeit überregional. Doch einige Monate später eröffneten die Ermittler: Belastbare Indizien fehlen. Die Eltern hätten überreagiert, heißt es in den nun weniger zahlreichen Berichten. Kein Skandal, keine Story.

So ungreifbar diese Geschichte ist: Sie verdeutlicht das Spannungsfeld, in dem sich kindliche Entwicklungs- und erwachsene Erziehungsaufgaben heute befinden. Einerseits sollen Mädchen und Jungen einen entspannten und selbstbewussten Umgang mit ihrem Körper lernen. Andererseits denken ihre Eltern bei kindlicher Sexualität schnell an Missbrauch. Das hat die Kölner Psychologin Elisabeth Raffauf registriert. Sie berichtet, Mütter und Väter würden bei diesem Thema zuerst auf das böse Ende schauen, auf mögliche Gefahren. Dabei sei kindliche Sexualität „neugieriges Forschen und Entdecken – also etwas Schönes!“. Jungen und Mädchen erkunden ihren Körper genauso wie einen neuen Raum oder ein neues Spielzeug. Erwachsene müssten verstehen, dass dieses neugierige Explorieren zur gesunden Entwicklung eines Kindes gehört, meint Raffauf.

Im Nachhinein hat sich die Schließung der Mainzer Kita als überzogen herausgestellt. Ob Eltern und Betreiber mit mehr Hintergrundwissen umsichtiger gehandelt hätten? Um die Grenzen zwischen normaler Entwicklung und Missbrauch deutlich zu machen, hält die Psychologin Raffauf ein sexualpädagogisches Konzept für sinnvoll: „Nur damit gibt es Klarheit. Dann kann das Team jederzeit erklären, dass und warum es Kuschelecken gibt oder wie mit Nacktheit umgegangen wird.“ In der Realität fehlen solche Leitlinien jedoch meist, mehr noch: Mütter, Väter, Erzieher und Erzieherinnen klammern das tabubesetzte Thema lieber aus. Raffauf jedoch meint, es sei enorm wichtig, dass die Erziehungspartnerschaft zwischen Kindertagesbetreuung und Eltern auch das Thema Sexualität umfasst.

Ein transparenter Umgang mit dem sensiblen Gegenstand sollte eigentlich selbstverständlich sein. Schließlich gehört Sexualerziehung gemäß den Bildungs- und Erziehungsplänen für Grundschulen und Kindergärten sowie den Lehrplänen der weiterführenden Schulen zum institutionell verankerten Bildungsauftrag. Doch in der Praxis ist das oft schwierig. Nicht immer liegt die Schuld dafür bei der Einrichtung. Manchmal verweigern sich auch die Eltern dem Dialog, etwa wegen strenger religiöser Vorschriften. Im Kindergarten treffen daher zum Bereich Sexualität die unterschiedlichsten Einstellungen von entspannt über verklemmt bis überfordert oder nachlässig aufeinander.

„Komm, wir ficken“

Am Beispiel der evangelischen Kita Rosengarten, die in einem sozialen Brennpunkt in Frankfurt-Nied liegt, lässt sich ablesen, welche Herausforderungen aus diesem Mix erwachsen. Zu den immer wiederkehrenden Aufgaben gehört hier der Umgang mit sexuell aufgeladenen Spielen und Vokabular. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Vorschulkinder den Geschlechtsakt nachspielen, berichtet Leiterin Ulrika Ludwig: „Da sehen wir einen Jungen und ein Mädchen unter dem Tisch. Die sind natürlich angezogen, ziehen sich aber dennoch eine Decke über, und der Junge führt entsprechende Bewegungen durch.“ Letztlich spielten sie altersgemäße Rollenspiele – aber in einer eben nicht altersgemäßen Variante.

Explizit sexuelles Vokabular wird in der Kita Rosengarten nicht geduldet. Trotzdem musste das Team lernen zu verstehen: „Die Kinder spielen nach, was sie beschäftigt, und geben wieder, was sie gehört haben. Also auch Sätze wie ‚Komm, wir ficken‘“, sagt die Leiterin.

Der Umgang mit Sexualität habe sich auch gegenüber Kindern stark verändert, hat die 61-Jährige beobachtet: „Wörter auszusprechen wie ‚ficken‘ war für meine Generation noch undenkbar. Bis vor ein paar Jahren konnte man davon ausgehen, dass Kindergartenkinder solche Vokabeln nur nachplappern, ohne zu wissen, was sie bedeuten.“ Heute dagegen verstehen Kinder den Inhalt ebenso – und sie merken, dass sie bei Erwachsenen damit unterschiedliche Reaktionen auslösen können. Doch woher kennen Jungen und Mädchen solche Begriffe? Ulrika Ludwig vermutet, dass die Vorlagen von älteren Geschwistern stammen, aus den Medien oder „durch einen Umgang der Eltern mit diesem Thema, den ich als lax bezeichnen würde“.

Darauf angesprochen reagierten manche Mütter und Väter erschrocken, andere wischten das Thema zur Seite. Es gebe sogar Eltern, die anböten, mal einen Porno auszuleihen. Zwar bringt Ulrika Ludwig nach 30 Jahren Berufserfahrung so schnell nichts aus der Fassung. Doch sie macht deutlich: „Vorschulkinder mit Pornografie zu konfrontieren ist eine Form von sexuellem Missbrauch, also Kindeswohlgefährdung.“

Eltern wie diese sind sicher nicht die Regel. Zwar gibt es nur wenige Daten zu Art und Umfang der Mediennutzung bei Kindergartenkindern, doch dürfte es die Ausnahme sein, dass sie an Pornografie geraten. Leider ist es aber auch eine Ausnahme, dass Eltern sich darum kümmern, welche digitalen Inhalte Kinder in ihren eigenen Zimmern, bei Freunden oder bei den Geschwistern konsumieren. Dabei ist die Erziehung zu Medienkompetenz heute eine unerlässliche Grundlage, um sexualisierte, betrügerische und unaufrichtige Inhalte in sozialen Netzwerken oder andernorts im Internet zu erkennen. Oder um Heranwachsenden klarzumachen, dass das Ins-Netz-Stellen von intimen Handybildern und -videos – Sexting Pics genannt – tabu sein sollte.

Doch sowohl Eltern als auch Pädagogen sträuben sich vor dieser Aufgabe. 2014 wurden für eine Allensbach-Erhebung im Auftrag der Telekom-Stiftung 1500 Eltern von Klein- und Grundschulkindern sowie Kitapersonal und Grundschullehrkräfte zur Medienpädagogik befragt. Dabei stieß die Medienfrüh­erziehung auf viel Ablehnung. Vor allem wollte sich niemand darum kümmern. Erzieherinnen sahen die Mütter und Väter in der Pflicht; diese wiederum sagten, Medienfrüherziehung müsse nicht unbedingt sein.

Zwar nutzen der Umfrage zufolge Kindergartenkinder kaum digitale Medien, sondern am liebsten Bücher, Kassetten und Filme. Das jedenfalls antworteten die Eltern. Gleichzeitig zeigen Erhebungen durch die Landesmedienanstalten, dass Kinderzimmer flächendeckend mit Fernsehern ausgestattet sind und dass Grundschüler und teilweise auch schon Kindergartenkinder über Handys und Tablets verfügen.

Im Internet stoßen Kinder ohne größeren Aufwand auf sexualisierte Inhalte. Zugleich fristet die frühe Sexual- und Medienerziehung ein Schattendasein. Wo finden Jungen und Mädchen eigentlich Antworten auf die Fragen, die sie zu Hause nicht zu stellen wagen? Paradoxerweise oft auch: im Internet. Der Verband pro familia etwa unterhält die Online-informationsportale sexundso.de – für Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren – sowie sextra.de für ältere Jugendliche. Ein weiteres Angebot für diese Altersgruppe verantwortet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter loveline.de.

Doch auch jüngere Kinder haben Fragen. Das zeigt jede Woche die WDR-Kinderradiosendung Herzfunk, die mittlerweile seit fast 15 Jahren läuft und von der Psychologin Elisabeth Raffauf zusammen mit den Journalistinnen Katrin Sanders und Monika Frederking geleitet wird. Das Besondere daran: Kinder beantworten als Experten die Fragen anderer Kinder.

Die Fragen, die dem Herzfunk-Team bisher gestellt wurden, sind erstaunlich konkret. Die Kinder wollen etwa wissen, „was in den Hoden drin ist“, wie man sich verliebt oder ob Sex wehtut. Sogar Fragen zum Thema Missbrauch werden gestellt – und in der vorgegebenen Länge von drei Minuten beantwortet. Sind Kinder heute frühreif? Raffauf, die auch Autorin von Entwicklungs- und Erziehungsratgebern ist, verneint: „Nicht, was die Fragen zum Thema Sexualität betrifft.“ Da habe sich in den vergangenen Jahren wenig geändert. Allerdings seien Kinder heute früher geschlechtsreif. Auf der Ebene der körperlichen Entwicklung und Reifung hat sich der Zeitplan verschoben, das zeigen Daten des Robert-Koch-Instituts. Die typischen Anzeichen der Pubertät – Mädchen werden rundlicher und haben ihre erste Regelblutung, Jungen bekommen mehr Muskeln und haben ihren ersten Samenerguss – stellen sich mittlerweile schon ab 11 Jahren ein. „Dass die Seele da mithält“, bezweifelt die Psychologin. „Unsere Aufgabe als Erwachsene ist, Kindern dabei zu helfen, ihre Gefühle einzuordnen.“

Und diese Hilfestellungen scheinen prinzipiell zu funktionieren. Die Statistiken der BZgA dokumentieren bei Jugendlichen seit Jahren ein zunehmendes Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit Sexualität. Auch Teenagerschwangerschaften gehen stetig zurück. Möglicherweise zeigt die Sexualerziehung in Schulen und Kindergärten langfristig Wirkung. Allerdings hat diese Auslagerung der Aufklärung auch unerwünschte Begleiterscheinungen mit sich gebracht. Offenbar haben sich die Eltern vom Thema entfremdet. Ein Beispiel: 2014 wandten sich aufgebrachte Baden-Württemberger mit einer Petition gegen die Neufassung des schulischen Sexualkundeunterrichts für Jugendliche. Mit 200 00 Stimmen sprachen sich die unterzeichnenden Mütter und Väter dagegen aus, dass Homosexualität in Schulen thematisiert wird. Im selben Jahr traf die Soziologin Elisabeth Tuider, Professorin an der Universität Kassel, ein Shitstorm. Sie hatte in einem Interview gesagt, dass sexualpädagogisch Tätige oftmals die ersten Personen seien, „mit denen sich Jugendliche trauen, ihre Fragen und Irritationen zu besprechen“. Im Zweifelsfall eben auch über Analverkehr, Homosexualität und Sexspielzeuge.

Kinder und Jugendliche scheinen also im Großen und Ganzen gar nicht so schlecht zurechtzukommen. Doch wie die Aufregung um die Mainzer Kita im vergangenen Jahr gezeigt hat, sind da ja noch die besorgten Erwachsenen. Aber wie berechtigt sind deren Ängste überhaupt, gerade was Kindergartenkinder angeht?

Gefährliche Gleichaltrige

Marc Allroggen, Oberarzt am Ulmer Universitätsklinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, sagt, tatsächlich gebe es sexuell problematisches Verhalten auch bei Kindergartenkindern. Die Ursachen seien individuell verschieden: „Diskutiert wird ein Zusammenhang mit eigenen Missbrauchserfahrungen. Wir wissen jedoch, dass solche Verhaltensweisen auch bei Kindern auftreten können, die emotional nicht gut versorgt sind.“ Allroggen schränkt allerdings ein, ihm seien nur Einzelfälle bekannt. Wie viele Kinder in Deutschland insgesamt betroffen sind, lasse sich nicht sagen.

Als potenzielle Täter sexuellen Missbrauchs werden meist klischeehaft „fremde Männer“ vermutet. Womöglich geht die Gefahr jedoch viel häufiger von Gleichaltrigen als von Erwachsenen aus. Zu diesem Schluss kommen Forscher um Marc Allroggen und Jörg Fegert in einer aktuellen empirischen Untersuchung. Im Fokus standen dabei jedoch nicht Kindergartenkinder, sondern Jugendliche in Einrichtungen der Jugendhilfe und Internaten. Allroggen und Fegert halten fest, dass sexuell übergriffiges Verhalten „eine der häufigsten Formen aggressiven Verhaltens ist, dem Schüler ausgesetzt sind“. Beunruhigend an diesen Ergebnissen ist, dass mildere Formen von sexuell belästigendem Verhalten von einem Großteil der Mädchen und Jungen als normal empfunden werden.

Absichtlich wurde der Begriff „sexueller Übergriff“ weit ausgelegt. Ob ungewolltes Geküsstwerden, Nötigung oder gar Vergewaltigung – keine Form sexueller Belästigung sollte als „jugendtypisch bagatellisiert“ werden. Je nach individueller Sensibilität könne auch weniger schwerwiegendes sexuell übergriffiges Verhalten zu erheblichen Schwierigkeiten wie Leistungsabfall, Schulschwänzen sowie „internalisierenden und externalisierenden Problemen“ führen.

Was meint der Experte –könnte hier eine früh ansetzende Sexualerziehung helfen? Allroggen bremst: „Offensichtlich zeigt die Mehrheit der Kinder kein problematisches sexualisiertes Verhalten. Also funktioniert die Erziehung in diesem Bereich überwiegend gut. Was wir brauchen, ist eine Bestandsaufnahme: Wie viele Kinder betrifft es?“ Die nächste Frage müsse sein: welche Kinder? Allroggen: „Danach erst kann man überlegen: Was können wir tun?“ Ein besonnener Fahrplan.

Besonnenheit könnte auch dazu taugen, Gerüchte zu entlarven. Das wirklich Bedrückende an der Mainzer Geschichte ist, dass sich Eltern und Journalisten gegenseitig in ihrer Aufregung befeuert haben. Die Leitung der Kindertagesstätte „Maria Königin“ wurde wegen unterlassener Aufsichtspflicht angeklagt und der Pfarrer vor Ort wegen Missbrauch. Nichts davon war wahr.

Grundsätzlich unterscheidet sich Sexualität in Zeiten des Internets ja nicht von der in Zeiten analogen Aufwachsens. Wichtig ist auch heute, dass Kinder, aber ebenso Eltern Antworten auf ihre Fragen erhalten. Dafür braucht es Ruhe, Vertrauen und Besonnenheit.

Literatur

  • Anja Henningsen, Elisabeth Tuider, Stefan Timmermanns (Hg.): Sexualpädagogik kontrovers. Beltz Juventa, Weinheim 2016

  • Silke Hubrig: Sexualerziehung in Kitas. Beltz, Weinheim 2014

  • Elisabeth Raffauf: So schützen Sie Kinder vor sexuellem Missbrauch. Prävention von Anfang an. Patmos, Ostfildern 2012

Jugend online

Nach den aktuellen Statistiken des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (2015) zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen nutzen 63 Prozent der Sechs- bis 13-Jährigen zumindest selten das Internet. Ab zehn Jahren verfügen fast alle Kinder über ein Handy, ab 14 gehört die Internetnutzung bereits zum Alltag. Das Medium Internet birgt nicht nur die Möglichkeit, sich zu vernetzen, oder das Risiko, auf pornografische Inhalte zu stoßen, sondern auch die Gefahr, Ziel von unerwünschten Annäherungsversuchen seitens Erwachsener zu werden.

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, www.mpfs.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2016: Drüber stehn!