Das Frühwarnsystem

Therapiestunde: Nach ihrer dritten psychotischen Krise sucht eine Architektin mit ihrem Psychotherapeuten nach Strategien zur Vorbeugung.

Die Illustration zeigt eine Frau als Burgwächter vor einem dunklen Eingang, die vor sich ein Schild auch Medikamenten hält
Erkennt man die Frühwarnzeichen, ist man bei akuten Episoden besser gewappnet. © Michel Streich

Frau J. schickt mir schon einige Zeit, be­vor sie mit der Therapie beginnen möchte, eine Mail und schreibt, sie sei gerade wegen einer Psychose in einer psych­iatrischen Tagesklinik in Behandlung, und fragt nach einem Therapieplatz für in etwa acht Wochen. Wir vereinbaren schon mal einen Ersttermin zum Kennenlernen, der stattfindet, während sie noch in der Klinik ist.

Als wir zusammensitzen, erzählt sie mir, sie habe nun schon das dritte Mal eine psychotische Krise erlitten, sie habe Stimmen gehört, die ihr…

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dritte Mal eine psychotische Krise erlitten, sie habe Stimmen gehört, die ihr Aufträge erteilt hätten, habe ihren Vater für den Teufel gehalten und nicht mehr schlafen können. Sie sei schließlich nächtelang panisch durch die Stadt gelaufen, sei irgendwann von der Polizei aufgegriffen und so schließlich gegen ihren Willen in die Klinik gebracht worden. Nach fast acht Wochen auf einer psychiatrischen Akutstation sei sie nun seit zwei Wochen in der Tagesklinik. Auch die zwei vorhergehenden Krisen seien ähnlich verlaufen, eine vor zwei Jahren und die erste vor jetzt schon elf, da sei sie erst 26 gewesen. Bisher habe sie immer gedacht, sie werde krisenfrei bleiben, aber nun sei es ja zweimal hintereinander wieder passiert.

Nervösität und Misstrauen

In der Klinik habe sie viel über ihre Krankheit gelernt und auch über die Behandlung mit Medikamenten. Nach drei Krisen empfehle man ihr, die Medikamente mehrere Jahre weiter einzunehmen. Sie wolle jetzt lernen, was sie zusätzlich selbst tun könne, um sich vor Krisen zu schützen, sie wolle auf keinen Fall lebenslang auf Medikamente angewiesen sein. Ich sage ihr, dass ich ihre Motivation sehr schätze und es nach meiner Erfahrung durchaus eigene Einflussmöglichkeiten gebe, ich ihr aber eine Medikamentenfreiheit nicht versprechen könne.

Als sie sechs Wochen später zum zweiten Termin kommt, ist sie hochmotiviert. Wir beginnen damit, die bisherigen Krisen zu reflektieren und Krankheitsvorboten zu suchen. Wenn sie diese erkennt und angemessen darauf reagiert, kann sie sich vor erneuten psychotischen Episoden schützen. Und tatsächlich finden wir solche Frühwarn­zeichen: Frau J. schlief im Vorfeld einer Krise ausgesprochen schlecht, wurde sehr nervös und misstrauisch gegenüber ihren Arbeitskollegen. Während der Therapie kommt es auch zu einer Phase, in der sie innerlich extrem unruhig wird und befürchtet, dass ihre Kollegen ständig hinter ihrem Rücken über sie reden. Nach Eintritt dieses Zustands befürchtet Frau J., dass ich sie gleich in die Klinik weiterschicke. Doch genau das wollte sie ja nicht. Wir entscheiden gemeinsam, dass ein Klinikaufenthalt noch nicht notwendig ist, sondern es zunächst ausreicht, wenn sie krankgeschrieben wird und ein Schlafmittel nimmt, damit sie möglichst schnell wieder besser schläft. Frau J. gelingt es damit, langsam aus diesem vorpsychotischen Zustand herauszufinden.

Wir betrachten weiter ihre bisherigen Krisen und schauen nach Mustern, die sich wiederholen. Es waren vor allem Situationen besonderer Belastung, die diesen Zeiten vorausgingen: Stress am Arbeitsplatz, eine geplatzte Beziehung, die Krebsdiagnose ihres Vaters. Wir suchen nun nach Strategien, die sie anwenden kann, um mit Belastungen besser umzugehen. Sie entscheidet sich, regelmäßig Entspannungsübungen zu praktizieren, und wir arbeiten an ihrer Schlafhygiene, damit sie zukünftig besser schläft.

„Nach 18 Uhr keine Arbeit mehr!“

Frau J. arbeitet in Vollzeit als Architektin. Sie kommt oft spät aus dem Büro nach Hause und schaut sich dann am Abend auf dem Sofa noch mal ihre Zeichnungen und ihre To-do-Listen für den nächsten Tag an. „Nach 18 Uhr keine Arbeit mehr!“ ist ein Ergebnis unserer Suche nach Schutzstrategien, die auch tatsächlich funktioniert.

Wir schauen uns auch an, wie gut ihre Belastungsfähigkeit grundsätzlich ist, und stellen dabei fest, dass sie sich öfter mal „am Limit“ befindet. Ich frage Frau J., wie wichtig es ihr ist, nicht wieder krank zu werden. Sie sagt, dass sei mit das Wichtigste in ihrem Leben. Ich schildere ihr, dass sie zwar lernen kann, Vorzeichen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren, dass ihre Belastbarkeit aber möglicherweise reduziert ist und sie in Stresssituationen auch zukünftig wieder an den Rand einer Psychose geraten könnte. Daher muss ich ihr empfehlen, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob sie ihre Arbeitsbelastung generell reduzieren möchte.

Ein solches Thema ist in der Therapie immer eine schwierige Phase, denn natürlich wollen wir alle leistungsfähig sein und nicht schwach erscheinen. Doch wenn man dadurch seine Gesundheit gefährdet, ist der Preis verdammt hoch. Wir lassen uns mehrere Termine Zeit für dieses Thema. Anfangs lehnt Frau J. eine Teilzeittätigkeit rundweg ab. Dann sprechen wir über ihre Versagensgefühle, die damit verbunden sind, und auch über ihre Sorge, ein Teilzeitjob könne der erste Schritt in eine mögliche Frühberentung sein. Nachdem wir uns mit diesen Gefühlen beschäftigt haben, wird sie offener für die Möglichkeit einer Teilzeittätigkeit, und schließlich entscheidet sie sich, ihre Arbeit auf 80 Prozent zu reduzieren. Nach einer halbjährigen Erprobung kommt sie in die Therapie und erzählt, wie gut diese Arbeitsreduktion für sie sei, sie fühle sich irgendwie viel stärker und sie sei auch zufriedener.

Ihr Vater der Teufel?

Aber Frau J. belastet noch etwas anderes: Sie berichtet von ihren Erfahrungen während ihrer psychotischen Krisen und während der Behandlung. Dabei schildert sie, dass sie manchmal Albträume habe, sie sei dann wieder in der Klinik und werde ans Bett gefesselt. Schweißgebadet wache sie auf. Frau J. hat solche Fixierungen während ihrer stationären Behandlung tatsächlich zweimal erlebt. Die Klinik ist für sie dadurch mit negativen Erinnerungen verbunden, und natürlich hat sie Angst, dass sich eine solche Zwangs­maßnahme wiederholen könnte. Da ein erneuter Aufenthalt in der Klinik ja nicht auszuschließen ist, versuchen wir, Frau J.s Angst vor der Einrichtung zu reduzieren.

Dazu hat sie eine eigene Idee, mit der sie ins nächste Therapiegespräch kommt: Sie möchte nochmals auf die Station gehen und mit den dortigen Behandlern sprechen, ihnen ihre Sicht schildern und besser verstehen, wie es zu den Fixierungen kam. Ich unterstütze diese Idee sehr, und Frau J. setzt sie tatsächlich um. In der Therapiestun­de nach dem Klinikbesuch erzählt sie, es habe sie wirklich große Überwindung gekostet, aber die Mitarbeiter hätten sich viel Zeit für sie genommen. Sie habe gemerkt, dass alle ihre Arbeit gut machen wollten und die Pfleger und Ärzte auch darunter leiden, Fixierungen als letztes Mittel wählen zu müssen.

Darüber hinaus belastet Frau J. auch ihre psychotische Idee, dass ihr Vater der Teufel sei und die Nachbarn vergiften wolle. Sie habe in der Krise sogar Anzeige gegen ihn erstattet. Als es ihr besser ging, ist die Familie einfach wieder zur Tagesordnung übergegangen. Über das, was in der Krise passiert war, verlor niemand mehr ein Wort. Frau J. schämt sich abgrundtief für ihre verwirrten Gedanken und vermied deshalb sogar über Monate den Kontakt zu ihren Eltern. Wir sprechen darüber, wie belastend dieses Gefühl der Scham im Kontakt mit ihren Eltern weiterhin ist. Und auch diesmal trifft sie wieder eine mutige Entscheidung: mit ihren Eltern über die damaligen Erlebnisse zu sprechen und ihnen zu erklären, welche abstrusen Gedanken zu der Anzeige geführt hatten.

Andreas Knuf ist Psychologischer Psychotherapeut mit Praxis in Konstanz und Autor. Er hat gemeinsam mit Anke Gartelmann einen Ratgeber zum Thema herausgegeben: Bevor die Stimmen wiederkommen. Vorsorge und Selbsthilfe bei psychotischen Krisen (Balance Buch + Medien)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2021: Sehnsucht nach Verbundenheit