Hirn unter Strom

Die Elektro­therapie erlebt einen Boom. Depressionen, Psychosen oder chronischer Schmerz sollen damit therapiert werden. Doch das birgt Risiken.

Im Labor von Michael Nitsche sieht es ein wenig aus wie beim Zahnarzt. „Bitte leise eintreten“ steht an der breiten Holztür, dahinter ein Flur, von dem vier Zimmer abgehen: alle gleich hoch, weiß, schmucklos. Die Fenster sind bis zur halben Höhe mit weißem Papier abgeklebt, sodass der Blick nicht auf Parkplatz und Garten des Dortmunder Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung fallen kann. Jedenfalls nicht, wenn man in einem der großen schwarzen Stühle sitzt, die ebenfalls aussehen wie der beim Zahnarzt. Statt…

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Stühle sitzt, die ebenfalls aussehen wie der beim Zahnarzt. Statt der Kopfstütze gibt es ein aufblasbares Kissen, das den Kopf fixiert. Nitsche, der hier den Bereich Psychologie und Neurowissenschaften leitet, erforscht Methoden zur elektrischen Stimulation des Gehirns.

Zuerst hält er eine Magnetspule, ein flaches herzförmiges Gerät, an einem langen Griff über seinen eigenen Kopf und drückt einen Knopf. Es klickt, der Zeigefinger seiner rechten Hand zuckt. Er rückt das Gerät ein wenig zur Seite, ein weiterer Klick, der Mittelfinger zuckt, dann der Ringfinger. „Ich habe früher Saxophon gespielt, deshalb reagieren die Finger schön differenziert“, sagt Nitsche: „Wollen Sie?“ Mir ist ein bisschen unheimlich, aber dazu bin ich schließlich gekommen. Ein Klick, am Kopf spüre ich nichts, aber die Finger meiner rechten Hand zucken heftig, alle zugleich, der Blockflötenunterricht in der Kindheit hat offenbar keine großen Spuren in meinem Gehirn hinterlassen.

Dann legt mir Min-Fang Kuo, Mitarbeiterin in Nitsches Labor, zwei breite Gummibänder um den Kopf, zieht mit Salzwasser befeuchtete Stoffhüllen über zwei Elektroden und schiebt sie unter die Bänder. Sie stellt die Stromstärke auf ein Milliampere. „Keine neurologischen Erkrankungen?“ Nein, es kann losgehen. Dieses Mal spüre ich ein leichtes Kribbeln unter der kleineren Elektrode, sonst nichts. „Das war’s schon“, sagt Nitsche nach einer kleinen Weile und bittet in sein Büro, um zu erklären, was da gerade vor sich gegangen ist.

Am Anfang war der Zitterrochen

Bereits in der Antike war bekannt, dass das Gehirn auf Strom reagiert. So empfahl der römische Arzt Scribonius Largus im 1. Jahrhundert, hartnäckige Kopfschmerzen mit Stromstößen eines Zitterrochens zu behandeln, der dem Patienten dazu an einem Seil über den Kopf gehalten wurde. Seit dem 18. Jahrhundert wurde die Elektrotherapie systematisch erforscht und weiterentwickelt. Damals galt der Strom als geheimnisvolles Fluidum, ähnlich dem Magnetismus oder der Schwerkraft, und man traute ihm zu, die Grenzen zwischen Materiellem und Immateriellem, zwischen Körper und Seele zu überwinden. Bei zahlreichen Erkrankungen, physischen wie psychischen, galt die Elektrotherapie als sanftere Alternative zu Schröpfen, Aderlass oder Opium. Als Elektrokrampftherapie, bei der Krampfanfälle bewusst ausgelöst werden, war sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann eher gefürchtet.

Aktuell erlebt die Elektrotherapie einen neuen Boom. Weltweit werden verschiedene Verfahren erprobt, die Aktivität des Gehirns mit Strom zu beeinflussen, und kaum eine Woche vergeht, ohne dass über eine neue Studie berichtet wird: Von der Schlaganfallrehabilitation über chronische Schmerzen, therapieresistente Depressionen, Schizophrenie, Autismus, Müdigkeit, Migräne und Rechenschwäche bis hin zum Enhancement, der Verbesserung von kognitiven oder motorischen Fähigkeiten über das normale Maß hinaus, sollen Stromimpulse wirken. Auch von Auswirkungen auf moralische Urteile und die Wahrnehmung anderer Menschen wird berichtet.

„Dass die Anwendungsfelder so unterschiedlich sind, liegt einfach daran, dass wir es hier mit ganz grundlegenden Vorgängen im Gehirn zu tun haben, die für die verschiedensten kognitiven Leistungen eine Rolle spielen“, erklärt Nitsche. Die Stromzufuhr beeinflusst die neuronale Plastizität, also die Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern. Die Neuronen des Gehirns sind untereinander dicht vernetzt, und diese Vernetzung bilden sie ständig um, je nach den Anforderungen, die an sie gestellt werden. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn der Mensch etwas lernt: ein Musikinstrument etwa oder einen neuen Weg zur Arbeit. Ohne die Neuroplastizität könnten wir uns nicht auf neue Situationen einstellen.

Ein Magnet über dem Schädel

Hier setzt die Elektrotherapie an. Bei der Magnetstimulation wird durch eine Magnetspule ein elektrisches Feld über dem Schädel erzeugt, das stark genug ist, um die Neuronen in den darunterliegenden Arealen feuern zu lassen. Wird die Spule dann über der richtigen Stelle des motorischen Kortex entladen, zuckt zum Beispiel die Hand. Die Gleichstromstimulation, bei der über Elektroden ein gleichmäßiger Strom durch den Kortex geleitet wird, ist schwächer: Sie lässt die Neuronen nicht feuern, sondern verändert lediglich ihr Ruhemembranpotenzial. Das heißt, wenn ein Reiz die so stimulierten Neuronen erreicht, reagieren sie empfindlicher oder unempfindlicher als sonst. Bei Nitsches Verfahren hält der Effekt bis zu einer Stunde nach der Stimulation an. In dieser Zeit bearbeiten die Probanden Testaufgaben oder lernen Bewegungsabläufe, damit die Forscher sehen können, ob der Strom etwas bewirkt hat.

Mit einer Ausnahme befinden sich alle Formen der Elektrotherapie im Experimentalstadium. Lediglich ein Verfahren namens repetitive Magnetstimulation ist in den USA und in Europa zur Behandlung schwerer Depressionen zugelassen. Auch Nitsche und sein Team betreiben Grundlagenforschung: Sie nutzen die verschiedenen Stimulationstechniken, um besser zu verstehen, was im gesunden Gehirn bei bestimmten Aufgaben vor sich geht und was bei Erkrankungen anders ist.

Für die Stimulation verwenden die Forscher Stromstärken von ein bis zwei Milliampere. Diese dringen durch den Schädelknochen wenige Zentimeter tief in das Gehirn ein, wirken also nur in der Großhirnrinde. Tiefer im Gehirn gelegene Areale sind mit dieser Technik nicht zu erreichen, zumindest nicht direkt: „Die neuronalen Netzwerke des Gehirns kommunizieren natürlich miteinander, und wenn man an einer Stelle einen Reiz gibt, setzt sich das in weitere Regionen fort“, erklärt Nitsche. Außerdem arbeiten die Forscher an Techniken, mit denen sie gezielter und tiefer auf das Gehirn einwirken können, ohne den Schädel öffnen zu müssen.

Unbegrenzte Anwendungsfelder

Viele neurologische und psychiatrische Erkrankungen werden inzwischen mit einer Über- oder Untererregbarkeit der Neuronen in Verbindung gebracht. „Bei der Depression zum Beispiel ist der linke präfrontale Kortex weniger aktiv als normal, und der rechte ist etwas aktiver. Wenn man das ausbalancieren könnte, die eine Seite ein wenig puschen, die andere ein wenig bremsen, könnte das helfen“, sagt Nitsche. Auch akustische Halluzinationen und Probleme, das Ich als kontinuierlich wahrzunehmen, wie sie bei Schizophrenie auftreten, gehen mit einer Überaktivierung bestimmter Hirnregionen einher. „Auch hier befinden wir uns im Experimentalstadium“, so der Neurophysiologe, „aber es scheint zu helfen, die entsprechenden Regionen zu bremsen oder zu stören.“

Roi Cohen Kadosh von der Universität Oxford interessiert sich vor allem für mathematisches Denken und untersucht, ob die Gleichstromstimulation Menschen mit Lernschwächen in Mathematik helfen kann. In einer Studie ließ er Versuchspersonen sechs Tage lang erfundene Zahlzeichen lernen. Die Leistung der Gruppe, die während der Trainingszeit eine Elektrostimulation erhielt, war auch nach sechs Monaten noch signifikant besser als die der Kontrollgruppe.

Forscher um Christoph Nissen vom Universitätsklinikum Freiburg konnten in einer Studie mithilfe der Gleichstromstimulation das Schlafbedürfnis ihrer Probanden reduzieren. Sie hoffen, mit dem Verfahren in Zukunft Patienten mit krankhaft gesteigertem Schlafbedürfnis therapieren zu können.

Ein anderer Anwendungsbereich: Nach einem Schlaganfall müssen die Patienten oft mühsam wieder lernen, betroffene Gliedmaßen zu gebrauchen. Heidi Johansen-Berg und ihre Kollegen an der Universität Oxford ließen Patienten, die nach einem Schlaganfall Hand und Arm nicht mehr richtig bewegen konnten, neun Tage lang mit einer Gleichstromstimulation ihres motorischen Kortex trainieren. Noch drei Monate später konnten sie sich besser bewegen als die Probanden der Kontrollgruppe, ihr motorischer Kortex war aktiver, und die graue Hirnsubstanz hatte zugenommen. Zudem berichteten die Probanden, ihnen sei das Training leichter gefallen.

Allerdings fassen die Forscher ungern in Prozentzahlen, welche Verbesserungen damit zu erzielen sind – vor allem weil die Ergebnisse von Aufgabe zu Aufgabe, von Person zu Person, von Studie zu Studie so unterschiedlich ausfallen. In Einzelfällen kann die Verbesserung zwischen 20 und 30 Prozent liegen. Das klingt viel. „Aber meistens sprechen wir über Reaktionszeiten in Millisekunden“, warnt Cohen Kadosh: „Eine Verbesserung um 100 oder 200 Millisekunden beim Lösen einer Rechenaufgabe wird Ihr Leben nicht auf den Kopf stellen.“ Einzelne Studien haben immerhin eine Verbesserung um mehr als eine Sekunde beim Rechnen, drei Sekunden bei Logikaufgaben und eine fünfzigprozentige Reduktion des Tremors bei Parkinson gezeigt.

Sorgen bereitet dem Forscher die wachsende Szene der Garagenbastler, die Geräte zur Hinstimulation nach Bauanleitungen aus dem Internet herstellen oder mit den frei verkäuflichen Exemplaren hantieren, um ihre Leistungsfähigkeit auf eigene Faust zu verbessern. „Diese Leute tun dem Forschungsfeld keinen Gefallen“, sagt Kadosh. „Wer es ausprobieren möchte, sollte sich als Proband an einer der vielen Studien beteiligen.“ Denn für die Gleichstromstimulation benötigt man zwar keine teuren Geräte, und sie gilt als sicher und weitestgehend frei von Nebenwirkungen. Allerdings nur, wenn sie fachgerecht, unter Aufsicht und mit den richtigen Geräten ausgeführt wird. Denn ganz so einfach ist das Verfahren nicht. Es gilt nicht nur, die Stromstärke richtig zu bestimmen und das passende Hirnareal zu finden. Man muss Rechts- und Linkshändergehirne unterscheiden und Anode und Kathode richtig platzieren, denn manche Aufgaben gelingen besser, wenn die Aktivierung der Neuronen ausgebremst, andere, wenn sie verstärkt wird.

Hilfe oder Optimierungsdruck?

Und man muss wissen, wie weit man die Kapazität des eigenen Gehirns in Bezug auf eine bestimmte Aufgabe bereits ausreizt. Studien von Cohen Kadosh haben ergeben, dass Menschen mit Lerndefiziten von der Stimulation profitieren, Menschen, die schon nahe am Optimum ihrer kognitiven Möglichkeiten sind, hingegen keinen Nutzen davon haben oder sich sogar verschlechtern. Er konnte zudem zeigen, dass das Verbessern des Lernens eine Verschlechterung der Automatisierung des Gelernten nach sich zieht. Bei Erkrankungen seien Patienten vielleicht bereit, für eine Verbesserung an einer Stelle eine Einbuße an einer anderen hinzunehmen, so Kadosh. Bei Gesunden rät er zur Vorsicht.

Dennoch ist auch das Militär naturgemäß sehr an dieser Technologie interessiert, und aus dem Leistungssport werden ebenfalls erste Experimente mit der Elektrotherapie gemeldet: zur Rehabilitation nach Verletzungen, aber auch zum Training. Skifahrer der amerikanischen Ski and Snowboard Association haben getestet, ob das Gleichgewichts- und Krafttraining mit Elektrostimulation effektiver ist. Forscher um Alexis Mauger von der Universität Kent probierten, ob mit einer Stimulation des motorischen Kortex Sportler beim Radfahren länger durchhielten und weniger Schmerzen empfanden. Wenn es funktionierte, wäre die Elektrostimulation ein Dopingmittel, dessen Spuren im Körper nur schwer auszumachen sind.

Und dann ist da die Frage nach langfristigen Risiken. „Es gibt bislang keine Studien über Langzeitwirkungen“, sagt Saskia Nagel, Philosophin und Kognitionswissenschaftlerin von der Universität Twente. Behutsamkeit sei insbesondere bei Kindern geboten. Zwar profitierten sie möglicherweise stärker von einer Elektrotherapie als Erwachsene, weil ihre Gehirne plastischer sind und sich entwickeln. Aus diesem Grund sind sie aber auch verletzlicher.

Roi Cohen Kadosh hat bereits eine Pilotstudie mit zwölf Kindern einer britischen Schule durchgeführt, die auf die Förderung bei Lernschwierigkeiten spezialisiert ist. Eine Kappe mit Elektroden auf dem Kopf, spielten die Kinder ein spezielles Computerspiel. Die Hälfte von ihnen erhielt dabei eine Stimulation, die anderen nicht. Die Ergebnisse der Studie sind noch nicht publiziert. Würde er die Technik an seinen eigenen Kindern erproben? „An mir selbst habe ich das natürlich oft ausprobiert“, sagt der Forscher. „Meine Kinder haben glücklicherweise keine Lernschwierigkeiten, und einfach so würde ich es auf keinen Fall verwenden. Aber wenn sie solche Probleme hätten und nichts anderes helfen würde, wäre dies eine Möglichkeit.“

„Bei Lernschwächen geht es immer um Grenzfälle“, sagt Saskia Nagel. „Während die einen argumentieren, damit könne man Benachteiligten helfen, beklagen andere, dass diese Techniken dazu führen, die Norm immer höher zu schrauben.“

Die Elektrotherapie ist ein Feld im Aufbruch. Derzeit wird viel experimentiert, die Ergebnisse der Studien sind nicht immer kompatibel und selten repräsentativ. Dennoch trauen die Forscher ihr einiges zu.

Zum Weiterlesen

  • Roi Cohen Kadosh: The stimulated brain. Cognitive enhancement using non-invasive brain stimulation. Elsevier, Amsterdam 2014

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2016: Heimat finden