Das Leid der Heiler

​Ärzte erkranken besonders oft am Erschöpfungssyndrom. Die Ursache liegt in den Arbeitsbedingungen, sagt Götz Mundle, und in ihrem Selbstbild.

Die Illustration zeigt mehrere Ärzte die gestresst von einem Termin zum nächsten laufen, während das Privatleben zu kurz kommt
Ärzte sind immer im Stress – physisch und psychisch. © Marianna Gefen

Herr Mundle, Studien und Medienberichte legen den Eindruck nahe, dass es vielen Ärzten seelisch nicht besonders gut geht, Depressionen, Sucht und Suizidalität in dieser Berufsgruppe sehr häufig auftreten. Verwunderlich, dass gerade die professionellen Helfer selbst seelische Probleme haben.

Darüber sind die Ärzte ebenso überrascht. Sie verstehen nicht, warum sie sich ausgelaugt und zutiefst erschöpft fühlen, lieben sie doch ihren Beruf, denn was gibt es Sinnstiftenderes, Erfüllenderes als anderen helfen zu…

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fühlen, lieben sie doch ihren Beruf, denn was gibt es Sinnstiftenderes, Erfüllenderes als anderen helfen zu können. Doch genau das ist der Punkt: Mediziner lernen im Studium und im Beruf ihren Fokus auf den Patienten auszurichten, Symptome, Krankheiten, Probleme anderer wahrzunehmen. Aber auf die eigenen Symptome und Beschwerden zu achten gelingt vielen nicht. Sie überschreiten die eigenen Grenzen, arbeiten bis zur äußersten Belastung, verdrängen ihre Bedürfnisse.

Ist ihnen die Wahrnehmung für die eigene Gesundheit abhandengekommen?

Das kann man schon so sagen – obwohl die Daten zur Häufigkeit von Sucht und Depression, auch Sui­ziden widersprüchlich sind. Es gibt Studien, die weisen einerseits auf eine erhöhte Häufigkeit von Depressionen hin, andererseits sind die Fehltage insgesamt niedriger als in der Allgemeinbevölkerung. Bei allen Studien stellt sich stets die Frage, welche Kriterien angelegt werden. Geht es beispielsweise bei Alkohol um Abhängigkeit oder Missbrauch? Daher bin ich zurückhaltend mit Aussagen, dass diese Erkrankungen häufiger auftreten. Anders verhält es sich jedoch beim Burnout. Da gehen wir von überdurchschnittlich hohen Fallzahlen aus.

Weshalb mangelt es ihnen so sehr an eigener Fürsorge?

Wer wird denn Arzt? Es sind zumeist diejenigen, die früh gelernt haben, Leistung zu erbringen, Aufgaben zu erfüllen, komplexe kognitive Fähigkeiten zu entwickeln. Was sie häufig nicht gelernt haben, ist, für sich selbst zu sorgen. Hinzu kommt der Wunsch, anderen zu helfen. Bei manchen steigert sich dieser Wunsch zur Sucht: Leute mit dem sogenannten Helfersyndrom benötigen das Gefühl, gebraucht zu werden, um ihr eigenes Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Wenn sie sich so sehr nur um andere kümmern, dass sie sich selbst nicht mehr wahrnehmen, wenn sie Schmerzen haben und ausgelaugt sind, wird es kritisch. Sie fliehen dann vor der Ohnmacht, sich selbst nicht mehr helfen zu können, und verleugnen sie, indem sie für andere da sind.

Das ist kein Phänomen, das nur bei Ärzten auftritt.

Nein, aber es ist in dieser Berufsgruppe besonders erstaunlich. Man denkt doch, der Arzt muss es eigentlich wissen. Mitnichten. Wenn Sie sich das Gesundheitsverhalten von Ärzten anschauen, zeigen die meisten zwar ein gesundheitsbewusstes Verhalten, achten auf ausgewogene Ernährung, treiben Sport, trinken nur wenig Alkohol. Aber Hilfe anzunehmen, wenn sie sich schwach fühlen, das fällt ihnen sehr schwer.

Übrigens begeben sich Ärzte auch viel später in Behandlung als andere Patienten. Mit der Begründung: Ich kenne die Medikamente, habe Zugang zu ihnen, kann im Lehrbuch alles über die entsprechenden Symptome nachlesen. Manch einer fragt noch einen befreundeten Kollegen, doch im Grunde sind sie der festen Überzeugung, dass sie es allein schaffen, wieder gesund zu werden. Das ist eine falsche Grundannahme.

Warum?

Man kann sich nicht selbst therapieren. Wenn man krank ist, geht es darum, sich einzugestehen, selbst Patient zu sein. Und das widerspricht häufig dem Selbstbild eines Arztes, der glaubt, unverwundbar und immer stark zu sein, anderen immer helfen zu können. Aber auch Ärzte können nicht immer für andere da sein und auf allerhöchstem Niveau arbeiten, ohne mal schwach zu sein. Mit der permanenten Verantwortung und Arbeitszeiten, die nicht selten über 50 Stunden pro Woche liegen, hat der Arztberuf hohe Herausforderungen.

Dazu kommen innere Ansprüche und das Bestreben, sich noch mehr anzustrengen, wenn die Kräfte schwinden. Dann sind diese Ärzte – und auch Therapeuten – im Hamsterrad und treiben sich weiter an bis zum Burnout. Das sind keine bewussten Entscheidungen. Diese Menschen haben früh gelernt, Schwierigkeiten durch noch mehr Arbeit zu lösen. Doch die körperliche und seelische Belastbarkeit ist eben begrenzt.

Hat die geringe Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, ihre Wurzeln also auch in einem überhöhten Selbstbild?

Sicherlich, verbunden mit dem Bestreben, immer alles im Griff zu haben. Doch es steckt mehr dahinter. Zum Beispiel können frühkindliche Wunden eine Ursache dafür sein, etwa dass niemand wirklich half, wenn es einem nicht gutging. Man musste sich stets allein durchbeißen und bekam in der Familie nur dann Anerkennung, wenn entsprechende Leistung erbracht wurde. Dabei spielten Gefühle wie Überforderung, Schmerz oder Traurigkeit keine Rolle, diese durften nicht sein.

Der elterliche Fokus lag klar in der Stärkung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Eine emotionale Annahme, Hilfe ohne Gegenleistung, Geborgenheit und, wie wir sagen, eine sichere emotionale Bindung ohne Leistung waren nicht oder nicht ausreichend vorhanden. So manifestierte sich ein Gefühl: Wenn es mir nicht gutgeht, bin ich allein. Wer solche Erfahrung gemacht hat, wird später kaum auf andere zugehen und sich Hilfe holen.

Was jedoch ist im Vergleich zu anderen Berufsgruppen anders? Manager arbeiten auch viel und tragen Verantwortung für ihr Unternehmen.

Der Unterschied zu Managern, die auch in einer Leistungsspirale stecken, ist, dass Ärzte es mit menschlichem Leid zu tun haben. Dieses Leid wird ein Stück Normalität, Krankheiten gehören zum Arbeitsalltag. Ein Chirurg, der operiert, schneidet in den Körper des anderen hinein – man muss sich einmal vorstellen, was es bedeutet, einem Menschen in die Haut zu schneiden. Dieses Gefühl jedoch muss abgespalten werden, damit der Chirurg in der Lage ist, gut arbeiten zu können. Das ist die professionelle Rolle des Arztes.

Einerseits muss ein Arzt negative Emotionen und Leid ignorieren können. Andererseits muss er aber auch in der Lage sein, sich anzuschauen, womit er sich den ganzen Tag beschäftigt hat. Dazu gehört auch seelisches Leiden.

Das kommt zu kurz?

Ja, diese Themen müssen psychisch verarbeitet werden. Oft werden Krankheiten und Symptome zwischen den Ärzten lediglich auf der fachlichen Ebene besprochen, nicht auf der menschlichen. Die Frage ist aber auch: Was macht das mit einem? Es ist immer wieder notwendig, die professionelle Rolle zu verlassen und sich auf die eigene Gefühlsebene zu begeben. Das ist schwierig, wenn es zum Beispiel um Tumor­erkrankungen und Todesfälle geht. Die lösen etwas aus beim Arzt. Wenn er sich nicht auch um sein seelisches Befinden kümmert, ist die Gefahr des Ausbrennens groß. Wenn der Arzt immer in der Arztrolle bleibt, dann ist er darin so gefangen, dass er irgendwann überrascht ist über seine „menschlichen“ Züge, wenn er beispielsweise selbst krank wird oder sich matt fühlt.

Und das stört?

Oh ja, wenn das Selbstbild einem vorschreibt, immer stark und für andere da sein zu müssen, dann ist die Gefahr groß, im Hamsterrad weiterzumachen und Frühwarnzeichen der Überforderung und der eigenen Erschöpfung zu übersehen beziehungsweise zu verleugnen. Die Betroffenen geraten in eine Spirale, in der sie nur noch funktionieren, eigene Bedürfnisse oder Überforderungen und Verletzungen nicht mehr wahrnehmen und nur noch arbeiten, ohne Pausen zu machen. Eine Ärztin berichtete, dass sie kaum die Möglichkeit hatte, Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Selbst auf die Toilette zu gehen war vor lauter Arbeit oft nicht möglich.

Das sind doch Basisbedürfnisse!

Eben. Wir Menschen können kurzfristig Schmerzen verleugnen und Überforderungen verdrängen. Das ist zunächst eine positive Fähigkeit, die wir brauchen, um zu überleben. Man denke an lange Wanderungen, wenn die Füße fast blutig gescheuert sind und man dennoch durchhält. Dieses Vermögen, das kurzfristig hilfreich ist, verursacht langfristig Probleme.

Die bestehende Überforderung wird verdrängt, typische Stresssymptome wie chronische Erschöpfung, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und Gefühle der inneren Leere stellen sich ein. Folge können dann auch körperliche Erkrankungen sein, beispielsweise chronische Magen-Darm-Beschwerden, chronische Rückenschmerzen, Spannungskopfschmerz und Tinnitus oder Herzbeschwerden inklusive Hypertonie. Nicht selten kommt es zu einem körperlichen Zusammenbruch mit Klinikaufenthalt.

Macht das Gesundheitssystem die Ärzte krank?

Kostendruck, Ökonomisierung und die Zunahme der Verwaltungstätigkeiten, sprich der nichtmedizinischen Aufgaben, stellen Ärzte heute vor besondere Herausforderungen. Ihre Autonomie wird immer mehr eingeschränkt, das originär ärztliche Handeln und Gestaltenkönnen haben deutlich abgenommen. Es gibt immer weniger ärztliche Entscheidungsmöglichkeiten bei sehr viel Verantwortung. Das führt zu inneren Konflikten.

Für Ärzte stellen heute nicht komplexe Erkrankungen oder schwierige Patienten die großen Herausforderungen dar. Untersuchungen zeigen klar, dass neben den langen Arbeitszeiten die Zunahme der nichtärztlichen Tätigkeiten als sehr belastend erlebt wird. Ich habe beobachtet, dass sich Ärzte in der Folge innerlich zurückziehen, emotional abschalten und nicht mehr in Kontakt mit sich sind. Eigene Frustrationen werden ausgeblendet, eine Entlastung durch Austausch mit anderen Ärzten oder Pflegepersonal findet nicht mehr statt.

Wie ergeht es im Vergleich dazu Psychotherapeuten oder Krankenpflegern – sie arbeiten ja im gleichen System?

Andere helfende Berufsgruppen im Medizinsystem haben ganz ähnliche Schwierigkeiten. Gerade in den Pflegeberufen sind die Belastungen und daraus folgend die Erkrankungsraten beziehungsweise die Anzahl der Krankheitstage aufgrund von psychischen Erkrankungen besonders hoch. Psychotherapeuten haben häufig Supervisionen und Intervisionen, in denen sie lernen, über ihre eigenen Gefühle und Grenzen zu sprechen – eine wichtige Burnoutprophylaxe.

Was ist in Ihrer Arbeit der Fokus?

Liegt eine schwere Burnoutsymptomatik vor, geht es zunächst einmal darum, wieder zu körperlichen Kräften zu kommen – trinken, essen, schlafen. In der anschließenden Psychotherapie ist es für Ärzte und Therapeuten die größte Hürde, die Patientenrolle zu akzeptieren und Hilfe anzunehmen. Ist sie genommen, gelten dieselben therapeutischen Prinzipien wie für alle anderen Patienten.

Innere Antreiber und überhöhte Selbstbilder müssen angeschaut, akzeptiert und soweit möglich in Schach gehalten oder korrigiert werden: „Ja, es geht jetzt auch mal ohne mich weiter in der Klinik!“ Es gibt Vertretungen. Und was niemand gerne hört, doch es ist so: Jeder ist ersetzbar. Aus dem Berufsalltag herauszutreten ist eine ganz wichtige Erfahrung.

Im präventiven Sinne spielt Achtsamkeit eine große Rolle; genau wahrnehmen und akzeptieren, was einen antreibt und was das auslöst, ist die Grundlage für Veränderung. Darauf aufbauend werden in der Therapie konkrete Maßnahmen der Selbstfürsorge am Arbeitsplatz besprochen.

Es geht also rundum um die eigenen Bedürf­nisse.

Ja, es geht darum: Was brauche ich jetzt? Was tut mir gut? Wie kann ich meine Freizeit gestalten? Dann sollte man am Arbeitsplatz schauen, wo man Grenzen setzen kann. Das kann man nicht für sich allein machen, man muss darauf achten, was im Team möglich ist.

Es funktioniert nicht, dass ein Arzt jeden Tag unabhängig von seinen Patienten pünktlich Feierabend macht. Aber er kann sich vornehmen und seinen Arbeitsalltag so organisieren, dass er eben an zwei Abenden in der Woche rechtzeitig gehen kann, dann bleibt der Schreibtisch so, wie er ist. Übrigens, wer als Arzt so lebt, ist auch ein Vorbild für Patienten. Die spüren, ob da jemand ist, der authentisch lebt und arbeitet oder im Hamsterrad rennt.

Was hält Ärzte gesund?

Zuerst einmal müssen die Rahmenbedingungen angesehen werden, denn es liegt ja nicht nur am Einzelnen, sondern auch am System: Wie ist die Arbeitszeit, wie die Bezahlung, wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, gibt es Ausgleichsaktivitäten? Hat man Zeit, Freunde zu treffen? Das ist wichtig, um sich nicht nur als Arzt, sondern auch außerhalb des Berufes als Mensch zu erleben und da aktiv zu sein wie jeder andere auch.

Zweitens sollte das Miteinander am Arbeitsplatz genauer betrachtet werden. Für eine gute Kommunikation ist es notwendig, sich regelmäßig auszutauschen, in Teamsitzungen, bei Supervisionen oder einfach beim gemeinsamen Kaffeetrinken. Durch die Ökonomisierung der Medizin ist das alles deutlich schwerer geworden, diese Zeiten sind oft als unproduktiv wegrationalisiert worden.

Der dritte Aspekt ist die Sinnhaftigkeit. Das ist sehr individuell, doch jeder muss immer wieder für sich prüfen, wohin er sich entwickeln möchte. Meiner Erfahrung nach gibt es nach einigen Jahren, häufig alle fünf bis zehn Jahre, gewisse Veränderungen. Es müssen keine großen Schritte sein – wie der des Hausarztes, der seine Praxis aufgibt –, sondern kleine Korrekturen. Es gilt zu prüfen, was die eigenen Interessen sind und welche Weiterbildung oder Spezialisierung reizvoll erscheint.

Also die Neugier erhalten?

Nicht nur das! Die Gefahr ist, trotz Überlastung genauso weiterzumachen wie bisher, unter dem Motto: Das war damals gut, also wird es auch für die Zukunft gut sein. Nehmen Sie das Beispiel, das jeder kennt: partnerschaftliche Beziehungen. Kein Mensch geht davon aus, dass eine Beziehung, weil sie mal gut war, die nächsten zwanzig Jahre auch gut sein wird. Beziehungen bedeuten auch Arbeit, ein aufmerksames Schauen, wie sich was verändert.

So ist es im beruflichen Kontext auch. Es ist wichtig, auf die eigene innere Stimme und die eigenen inneren Werte und Ziele zu achten, die sich im Laufe der beruflichen Laufbahn, aber auch im Laufe des Lebens ändern können. Als junger Assistent steht vielleicht zunächst die berufliche Karriere im Vordergrund, als Familienmensch womöglich die Partnerschaft und eigene Kinder.

Und im Alter müssen sich die allermeisten nichts mehr beweisen, sondern können gelassener sehen, was ihre wahren Interessen sind. Zu der Gelassenheit gehören auch Freundlichkeit und Selbstmitgefühl. Die eigenen Fähigkeiten und Grenzen an­zuerkennen ermöglicht auch eine bessere Beziehung zu anderen. In der Arbeit kann das einen wohlwollenderen Umgang mit den Patienten bedeuten.

Prof. Dr. Götz Mundle hat viele Jahre für die Oberbergkliniken gearbeitet, eine Klinikgruppe, die auf seelische Belastungen bei Ärzten spezialisiert ist. Der Experte für Burnout, Suchterkrankungen und Ärztegesundheit ist Mediziner und Psychotherapeut

Zum Weiterlesen

Petra Beschoner u.a.: Psychische Gesundheit von Ärzten. Der Nervenarzt, 90/9, 2019, 961–974

Lisa S. Rotenstein u.a.: Prevalence of burnout among physi­cians: A systematic review. Jama, 320/11, 2018, 1131–1150DOI: 10.1001/jama.2018.12777

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2020: Männer und ihre Mütter