Frau Sellschopp, warum sind viele Menschen mit der Situation überfordert, wenn jemand in ihrem Umfeld schwer erkrankt?
Bei den Kranken und ihren Angehörigen lösen Krankheiten Panik aus, sie haben das Gefühl, der Situation nicht gewachsen zu sein. Hinzu kommen Gedanken wie: Nicht auch noch das! Alles ist nun aus! Das ist kaum auszuhalten! Deshalb gibt es – in der Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht so schlimm ist – Tendenzen, zu bagatellisieren und die Situation herunterzuspielen. Dadurch stellt sich ein…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
so schlimm ist – Tendenzen, zu bagatellisieren und die Situation herunterzuspielen. Dadurch stellt sich ein sogenanntes vorübergehendes Doppelgänger-Lebensgefühl ein. Es ist charakterisiert durch das Gefühl, neben sich zu stehen oder in zwei Welten zu leben; häufig ist man auch permanent damit beschäftigt, abzuwägen, wem man was sagt.
Woher eigentlich kommt die Angst vor Kranken?
Vorab sollte man unterscheiden: Nicht der Kranke macht Angst, sondern seine Krankheit. Ein Grund dafür ist, dass Krankheiten häufig schleichende Prozesse sind und ihr Ausmaß erst nach und nach deutlich wird. In dem Fall einer plötzlichen und unerwarteten Diagnose, zum Beispiel bei der Feststellung eines Karzinoms, kann die Angst sogar noch weiter ansteigen. Erkrankungen, deren Ausmaß und Konsequenzen für das Leben zunächst nicht abschätzbar sind, erzeugen eine Art Fremdwerden in Bezug auf die eigene Lebenssituation. Die Angst erfasst nicht nur den Patienten, sondern auch jene Menschen, die mit ihm verbunden sind. Etwas Neuartiges, teils Unheimliches – gerade in Bezug auf die Konsequenzen – bricht in das gemeinsame Leben ein.
Wie erleben Patienten die Unsicherheit anderer?
Unsicherheit ist immer dann problematisch, wenn sie im Raum stehenbleibt. Sie führt dann zur inneren Isolierung des Erkrankten und löst das Gefühl aus, aufgegeben zu sein. Ich sehe es als eine Verpflichtung für Angehörige und enge Freunde, eben keine Distanz zum Kranken aufkommen zu lassen. Das schließt nicht aus, dass man auch mal sagen kann, was einem auffällt, zum Beispiel wenn sich der Kranke gehenlässt. Der Patient sollte aber auch, so gut es geht, aktiv mitmachen und ein mündiger Patient sein. Das heißt, er sollte nicht alles den Ärzten und Angehörigen überlassen.
Wie kann man der Unsicherheit im Umgang mit den eigenen Gefühlen begegnen?
Die Gefühle müssen sortiert werden, dabei muss nicht alles kommuniziert werden. Das will ich erklären: Ich begleitete eine Frau, die an Brustkrebs erkrankt war, etwas später kam noch ein Verdacht auf einen Tumor in der Lunge hinzu. Sie sagte es nicht ihrem Sohn, der dann sofort Angst bekommen hätte, dass sie stirbt. Sie wollte ihn nicht belasten, sondern wartete alle Befunde ab, um dann selbst zu entscheiden, ob sie sich einer weiteren Chemotherapie stellen würde und ob es an der Zeit wäre, ihre Familie zu informieren.
Es gibt im Leben, insbesondere bei Krankheiten, immer eine Gabelung, wo man neu entscheiden muss, was die nächsten Schritte sein werden, Schritte, die man bereit ist zu gehen. Von daher ist es gut, auch in noch so dramatischen Situationen innezuhalten und diese zu prüfen. Denn Krankheiten bringen viel Unbekanntes in das Leben, was auch mental bewältigt werden muss. Es braucht Zeit, sich neu kennenzulernen, Ohnmachtsgefühle zu überwinden und mit der veränderten Situation zurechtzukommen.
Sollten sich auch Familie und Freunde sortieren?
In gewissem Sinne schon. Manchmal gab es im Leben des Kranken bereits Vorahnungen, ebenso vonseiten der Angehörigen, die nicht selten von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen geplagt sind, so als hätten sie zur Krankheit beigetragen. Gerade weil realistische Gründe dafür fehlen, können solche Gefühle sehr quälend werden und belasten. Diese Menschen brauchen manchmal psychotherapeutische Hilfe, denn mitunter tritt eine schicksalhafte Ergebenheit auf oder gar eine Passivität, mit der Haltung: „Ist eben so in unserer Familie.“
Kann man gegenüber einem Kranken etwas falsch machen?
Das Einzige, was man vielleicht falsch machen kann, wäre, sich komplett zurückzuziehen und sich nicht mehr zu melden. Es ist aber auch nicht gut, wenn man den Patienten entweder zu sehr gewähren lässt oder überfürsorglich einengt. Es ist notwendig, sich an die Krankheit anzupassen und die entstehenden Veränderungen zu berücksichtigen, sonst kann es trotz besseren Wissens zu einer Vernachlässigung der Krankheit kommen. Dann werden Symptome nicht wahrgenommen, Termine verschoben oder Medikamente nicht eingenommen, unter der fadenscheinigen Beruhigung, dass alles eben nicht so schlimm sei.
Wichtig ist in jedem Fall, die Ärzte zu kontaktieren, um Informationen über den Zustand des Patienten in Erfahrung zu bringen. Dem Patienten sollte aber auch nichts verschwiegen werden, aus Angst, dass er die Wahrheit nicht verkraften würde.
Womit hat es zu tun, wenn sich ein nahestehender Mensch plötzlich zurückzieht?
Manch einer erlebt in der neuen Situation, dass Traumata eigener Erkrankungen hochkommen, diese plötzlich wieder erinnert werden. Statt sie zu verdrängen oder sich von dem Betroffenen zu distanzieren, sollte das Eigene zugelassen und verarbeitet werden. Durch die Fähigkeit, selbst etwas zu verarbeiten, kann man die gewonnene Stärke weitergeben und so dem Kranken souveräner begegnen. Es ist ein schmaler Grat, auf dem der Einzelne entscheiden muss, wie weit das, was in seinem Leben unerwartet an Belastendem auftaucht, einen neuen, erinnernden Platz bekommen soll.
Das gilt auch für Ärzte und Krankenschwestern, die in einem langen Berufsleben viele schwere Erfahrungen gemacht haben, aber auch wissen, was ein Mensch überleben kann und wie seine Resilienz dadurch wächst. Es tut gut zu wissen, was ein Mensch alles seelisch überleben kann! Man kann einerseits dem Kranken sehr viel mehr an Auseinandersetzung mit seiner Situation zumuten. Andererseits weiß dieser auch, wie dünnhäutig er im Verlauf wird und wie kleine Signale – etwa eine neue gesundheitliche Belastung – einen emotionalen Erdrutsch auslösen und zu tiefer Verzweiflung führen können.
Wie sollten sich Freunde verhalten?
Schwierig sind jene, die dem Kranken das Gefühl vermitteln, dass seine Erkrankung sehr, sehr schwer und schlimm ist. Er kann dadurch das Gefühl bekommen, von allen verlassen zu werden, da man ihn sozusagen aufgibt. Freunde sollten sich Zeit nehmen und Informationen einholen, um sich zu sammeln und die Situation zu verarbeiten – aber dabei nicht den Kranken im Stich lassen. Manch einer bricht im Gefühl der Überforderung die Beziehung ab, was furchtbar für den Betroffenen ist und ihn kränkt. Dabei sollte man nicht vergessen, dass der Erkrankte kein neuer Mensch ist, sondern immer noch der alte, wie man ihn kennt. Für eine gewisse Zeit zumindest ist das Vertraute seiner Persönlichkeit und der bekannte Umgang mit ihm möglich. Es wäre nun die Aufgabe, daran anzuknüpfen, um zu zeigen, dass sich nicht alles verändert, sondern das Leben – auch seines – erst einmal weitergeht.
Was raten Sie Angehörigen?
Wichtig ist der Zugang zu validen Informationen. Es ist eines der gesichertsten Ergebnisse der medizinpsychologischen Forschung, dass bestätigte und nachprüfbare Information Angst verringert. In jedem Klinikum gibt es Tumorzentren, psychoedukative Gruppen, die über Krankheiten Angehörige oder Patientengruppen informieren und Tipps geben. Zu berücksichtigen ist dabei, nicht in einen hilfesuchenden Aktivismus zu verfallen, um so beständig zu versuchen, das Gefühl innerer Machtlosigkeit zu betäuben. Gleichgesinnte zu finden ist auf jeden Fall ratsam, denn der Austausch mit anderen, die dasselbe oder Vergleichbares erlebt haben, fördert die Kraft zur Bewältigung am allermeisten.
Und wenn jemand im Sterben liegt?
Wenn möglich sollte man dem Kranken ein Gespräch über Tod und Sterben anbieten und fragen, ob er darüber reden möchte. Wir sollten stets bedenken, dass die Phase des Sterbens immer auch eine des Lebens ist. In dieser äußerst sensiblen Zeit erfahren Angehörige und Kranke vieles im Umgang miteinander. Auch Kinder sind ihrem Alter entsprechend miteinzubeziehen. Man kann ihnen sagen, wie die Krankheit heißt und was gemacht wird. Eltern wissen am besten, wie viel – je nach Entwicklung dosiert – möglich und vor allem auch nötig ist. Der Umgang mit dem Sterben ist ein besonderes Thema und kann nicht kurz mal abgehandelt werden, dennoch sollten die Gespräche dosiert erfolgen.
Kinder nehmen sehr sensibel wahr, was in der Familie durch Krankheit anders wird. Wenn sie keine Hintergründe erfahren, fühlen sie sich ausgeschlossen. Fachleute raten, mit Kindern so früh wie möglich über Krebs zu sprechen und dabei Raum für Fragen zu geben. Ältere Kinder brauchen auch Hilfen, wie sie zum Beispiel mit Mitschülern reden können. Der Hausarzt ist hierfür ein wichtiger Ansprechpartner und kann auch Kontakte zu geeigneten Fachleuten vermitteln.
Wenn es dem Kranken möglich ist, sollte auch über das gesprochen werden, was er sich wünschen würde, nicht nur in Bezug auf die Beerdigung, sondern auch für das Leben der Familie nach seinem Tod. Hier gibt es viele Facetten, die nicht in nur einem Gespräch zu lösen sind, sondern ein behutsames, schrittweises Vorgehen erfordern.
Was ist, wenn der Kranke Familie und Freunde vor seiner Erkrankung und seiner Unsicherheit schützen möchte?
Dies kann zu einer Art Immunisierung gegenüber der Situation führen, die zu ritualisierten Abläufen beiträgt, die signalisieren, dass man sich abschotten will. Das aber vergrößert die Hilflosigkeit der anderen und kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass keiner mehr wirklich Bescheid weiß über den Stand der Diagnose und des ärztlichen Handelns – weil man sich gegenseitig etwas vorspielt. Da wird Hoffnung aufrechterhalten, wo keine mehr ist, jedenfalls nicht im Sinne einer konkreten Besserung.
Gerade Ärzten kommt hierbei die Aufgabe zu, diese Unsicherheit anzusprechen und die Behandlung in ein neues, inneres Versprechen für den Kranken umzuformulieren: ihn zu begleiten und für ihn in jeder Phase seines Leidens da zu sein. Besonders dann wenn der Patient, der bereits länger behandelt wurde, einen neuen Befund bekommt – und man nichts mehr für ihn im Sinne der Heilung der Erkrankung tun kann. Dennoch ist die Zeit bis zu seinem Tod Lebenszeit, die gestaltet werden muss. Selbst Sterbenskranke schauen zum Beispiel vielleicht sogar gern Fernsehen und interessieren sich für ihr Umfeld.
Wie können Ärzte helfen?
Es ist nötig, Strukturen zu schaffen, die es in jeder noch so unsicheren Situation gibt. Ärzte sollten einen Rahmen vorgeben, in dem alle Beteiligten mit ihrer Unsicherheit vertrauter werden. In diesem Rahmen wird festgelegt, was als Erstes gemacht wird, was noch nicht dran ist, was später kommt. Es gibt diesbezüglich eine Art Zeitplan, in dem Fragen der Unsicherheit einen Platz haben. Dadurch soll eine Beruhigung für den Patienten und seine Familie entstehen. Im besten Fall entwickelt sich so ein Gefühl des Aufgehobenseins. Die psychischen und sozialen Daten eines Kranken sowie Vorkenntnisse in Bezug auf die Krankheit müssen für Ärzte und Pfleger bekannt sein, ebenso seine psychische Verfassung und familiäre Situation, damit gezielt auf ihn eingegangen werden kann.
Der Kranke muss in das ärztliche Vorgehen einbezogen werden und sollte unbedingt Offenheit und Verlässlichkeit erleben. Beispielsweise ist es sehr belastend, wenn zu einer Terminvereinbarung, etwa der Verabredung zu einem Telefonat, vonseiten des Arztes hinzugefügt wurde: „Wenn ich es heute noch schaffe.“ Warten zehrt an den Nerven. Wenn der Anruf ausbleibt, steigt die Angst und lässt die Gedanken kreisen: Was bedeutet es, dass er nicht anruft?
Welche unterstützende Funktion kommt den Hausärzten zu?
Sie kennen den Kranken und seine Familie meistens sehr gut und sind in der Lage, Verbindungen herzustellen, zur Familie des Patienten und zur medizinischen Institution. In anderen Ländern, zum Beispiel in den USA, gilt es als selbstverständlich, bei schweren seelischen und körperlichen Belastungen durch eine Erkrankung fachliche psychotherapeutische Hilfe anzubieten. Und das so früh wie möglich, auch als Familienkonsultation, besonders bei schweren Erkrankungen wie Tumorerkrankungen in fortgeschrittenem Stadium, multipler Sklerose, Epilepsie, aber auch bei schweren seelischen Erkrankungen wie Depressionen mit Suizidalität oder schweren Angst- oder Suchterkrankungen.
Haben auch Ärzte Angst vor Kranken oder fürchten ganz bestimmte Erkrankungen?
Man kann angesichts der guten medizinischen Ausbildung heute, die auch die intensive Schulung der Arzt-Patient-Beziehung umfasst, davon ausgehen, dass Ängste vor kranken Menschen erst einmal nicht bestehen. Sollten sie dennoch auftreten, ist der Arzt fähig, sie zu bewältigen, unter anderem auch indem er sich kollegiale Hilfe sucht und über seine Gedanken redet. Anders ist es in Bezug auf die Angst vor Erkrankungen, zum Beispiel die Angst vor Ansteckung bei Hepatitis, die zu Schutzmaßnahmen zwingt, oder bezüglich der Unsicherheit über die Krankheitsursachen seltener Tumore oder auch bei MS, bei der man die Ursachen nicht alle kennt. Natürlich gibt es bei dieser Angst vor Erkrankungen auch eigene lebensgeschichtliche Einflüsse durch das, was ein Arzt in seiner Familie und im Freundeskreis an Krankheiten erlebt hat.
Sie sprachen gerade schon ansteckende Krankheiten an, bei denen die Angst ja Sinn hat. Was können Sie in Bezug auf Angst vor Coronakranken beobachten?
Blicken wir zum Beispiel auf die psychotherapeutische Arbeit. Hier sind die Maßnahmen für die Beziehung, die ja im Zentrum steht, von besonderer Bedeutung: das Maskentragen, keine Hand zu reichen, Abstand zu halten. Hinzu kommt, dass jüngere Patienten sich oft bemühen, ihre Therapeuten zu schonen, wenn diese älter sind. Ähnlich wie bei den Eltern möchten sie auf keinen Fall den anderen anstecken, falls sie selbst unbemerkt das Virus tragen. Dieses Ausmaß an Selbstbetroffenheit aufseiten des Therapeuten führt zu einer Veränderung der Gegenseitigkeit und der Rücksichtnahme, die eine andere – demokratischere – Wertekultur in die Begegnung einführt.
Warum fällt es generell den meisten leichter, mit einer physischen Krankheit umzugehen als mit psychischen Erkrankungen?
Psychische Erkrankungen sind nicht so greifbar, nicht so vertraut für jemanden, der seelisch gesund ist. Angehörige müssen erst lernen, nicht nur damit umzugehen, sondern auch Mitgefühl zu entwickeln, auch wenn sie vieles nicht nachvollziehen können. Der Kranke durchleidet etwas, das andere nicht kennen. Psychische Krankheiten erschüttern im Sinne einer infrage gestellten „seelischen Normalität“, damit meine ich den ganz normalen Alltag, selbstverständliche Dinge wie Einkaufen oder ins Kino gehen, die wir brauchen, um daran zu glauben, dass das Leben immer weitergeht, auch wenn es schwer ist. Wer sich jedoch von psychisch Erkrankten fernhält, weil er sich selbst schützen will, grenzt sie aus.
Almuth Sellschopp hat die Psychoonkologie in Deutschland bekanntgemacht. Sie ist Psychoanalytikerin und emeritierte Professorin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar.