„Ich halte das alles nicht mehr aus“

Therapiestunde: Eine junge Patientin mit Drogenproblemen leidet unter emotionalem Chaos. Wie gelingt es ihr, eine Sprache für Gefühle zu finden?

Die Illustration zeigt eine blonde junge Frau, schläft unter einem Hanfblatt, darüber schweben ihre Gedanken, die ein wildes Chaos sind
Für Christine legte der Marihuana-Konsum eine schützende Decke über sie. © Michel Streich

Die 18-jährige Christine, so möchte die Patientin bei der Anonymisierung ihrer Behandlungsgeschichte genannt werden, „stürzt immer wieder ab und findet keinen Halt“. Ein Kinderpsychiater hatte nach einer heftigen Auseinandersetzung mit ihr „entnervt“ angerufen, damit ich mich ihr annehme. In dem Erstgespräch wirkt Christine zunächst „lammfromm“, als habe sie etwas gutzumachen. Sie erzählt von ihrer Lustlosigkeit, alles sei langweilig und die Schule sei „blöd“.

Auch sonst interessiere sie gar nichts. Ich…

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und die Schule sei „blöd“.

Auch sonst interessiere sie gar nichts. Ich versuche, irgendeinen Anknüpfungspunkt zu finden, etwa Freundschaften, Lesen, Bewegung. Sie lehnt ab, die beständigen Ratschläge gingen ihr auf die Nerven, Sport hasse sie und Lernen gehe gar nicht. Ich frage nach, es müsse doch irgendwann einmal auch etwas Interessantes gegeben haben. Sie antwortet mit schnellem Atem, Zittern, Unruhe und Widerwillen. Binnen nur weniger Sekunden gerät sie in einen Erregungszustand und ich kann sie nicht mehr erreichen.

Besorgt versuche ich, sie durch gutes Zureden zu beruhigen. Ich rate ihr, sich ihrer diffusen Erregung nicht einfach auszuliefern. Christine kann sich daraufhin etwas besser kontrollieren, um bald wieder „abzudriften“. Ich versuche sie im Kontakt zu halten und schlage ihr eine Atemübung vor, die sie widerwillig annimmt. Zuerst findet sie das unangenehm, kann sich jedoch nach einer Weile etwas entspannen. Am Ende der Sitzung erläutere ich ihr einige Achtsamkeitsübungen, die sie zu Hause ausprobieren kann.

Marihuana vor dem Frühstück

Die nächste Sitzung verläuft ähnlich. Christine versucht mich zu überzeugen, dass alles keinen Sinn habe und sie mir nichts Zusammenhängendes erzählen könne. Dabei spüre ich jedoch auch eine anhängliche Seite und einen sanfteren Unterton, den ich mir angesichts ihres provokanten Auftretens zunächst nicht erklären kann. Sie schildert widerwillig ihre chaotische Alltagsgestaltung. Sie rauche Marihuana schon vor dem Frühstück und abends komme sie ohne einen Joint gar nicht runter. Dann sei sie wenigstens ruhig und die Gedanken verflüch­tigten sich: „Der Preis ist, dass man nichts mehr auf die Reihe bekommt.“ Ob sie Ideen habe, warum sie sich selbst so schädige? „Keine Ahnung.“ Meine mir selbst hilflos erscheinenden Verhaltensratschläge nimmt sie mit gelassenem Desinteresse auf. Das habe sie alles schon einmal während ihrer vor zwei Jahren durchgeführten Verhaltenstherapie ge­hört.

Nach einigen Wochen wird Christi­ne, durch die regelmäßigen Gespräche unterstützt, gelassener. Sie hat sich von mir überreden lassen, ihre Schullektüre Steppenwolf in die Hand zu nehmen. Die wechselhaften Stimmungen von Harry Haller hätten sie beschäftigt. Ich selbst empfinde eine gewisse Genugtuung, dass es Christine zunehmend gelingt – wenn auch indirekt –, Gefühlen und Erregungen eine Sprache zu geben. Dies scheint sie zu stabilisieren und sie erzählt mir einen Traum: „Ich bin mit Freundinnen und verschiedenen anderen Leuten zusammen. Alle konsumieren Drogen. Jemand flüstert mir ins Ohr: ‚My love is your addiction.‘ Ich kann mich nicht bewegen, möchte weglaufen.“ Wir verstehen den Traum als Ausdruck ihres Wunsches, sich aus dem Drogenmilieu zu lösen. Aber dann befürchtet sie, dadurch ihre Freundinnen und Freunde aufgeben zu müssen.

Die Stunden beginnt sie immer mit Schilderungen von Stress in der Schule, Erschöpfung und Übelkeit sowie Kreislaufproblemen. Ich ermutige sie, auf ihre Alltagsrituale mit Lernen, Achtsamkeitsübungen und viel Bewegung zu achten. Sie lehnt das energisch ab, ihren Körper möchte sie am liebsten überhaupt nicht spüren. Nur mit Rauchen und Cannabis werde das Leben erträglich und Sex sei nur mit viel Alkohol möglich. Manchmal wirkt Christine wie eine erfahrene Frau, die in einem Kinderkörper steckt. Sie spricht souverän über die Drogenszene und Liebschaften, um bei kleinsten Missverständnissen wütend und verzweifelt zu werden. 

„Diffuser Lustnebel"

Sie atmet dann überschnell, beginnt zu zittern und stößt wimmernd wie ein noch sehr kleines Kind hervor: „Ich halte das alles nicht mehr aus.“ Den schnellen Wechsel zwischen kleinkindhaftem Erleben und souveränem Erwachsensein illustriert ein Traum: „Ich habe meine Psychologielehrerin geheiratet, aber weiterhin in Polyamorie gelebt. Mit meinem Freund habe ich Oralverkehr gehabt und mich nach meiner Mutter gesehnt.“ Christine ist dieser Traum zunächst sehr unangenehm, bis sie versteht, wie sehr sie sich ihre persönliche Weiterentwicklung wünscht und wie stark sie gleichzeitig von einem „diffusen Lustnebel“ zurückgehalten wird.

Der psychodynamische Prozess vertieft sich. Christine verbindet die Ablehnung ihres Körpers, besonders ihrer weiblichen Rundungen, mit der Art und Weise, wie ihre Mutter ihren eigenen Körper betrachtet. Während Chris­tine ihrer Lebensgeschichte und sich selbst näherkommt, wird sie in ihrem Sozialverhalten achtsamer und auch gegenüber flüchtigen Beziehungen vorsichtiger. Ihre therapeutisch verstärkte Selbstwahrnehmung führt dazu, dass sie sich selbst besser annehmen kann. Nach etwa neun Monaten mit einer Behandlungsfrequenz von einer Stunde alle ein bis zwei Wochen ist eine große Veränderung eingetreten. Sie hat in der Schule wieder Anschluss gefunden und plant ihr Abitur. Nachdem sich bei einem Freund eine Drogenpsychose entwickelt hat, entschließt sie sich, Cannabis gänzlich zu vermeiden.

Ihre Träume werden lebendiger und Christine kann sie nutzen, um sich selbst und ihre Umwelt besser zu verstehen. Als Beispiel diene das folgende Traumfragment: „Ich werde von einem Lehrer geküsst… Später war mein Freund dabei, als ich ihn mit jemand anderem betrogen habe…“ Dieser Traum zeigt ihr, dass sie sich von ihrem „toxischen Freund“ befreien möchte, dabei aber zweifelt, ob sie dies ohne eine sexuelle Nebenbeziehung bewerkstelligen könne. Vielleicht sehne sie sich auch nach einem „guten Lehrer“, zu dem sie eine kreative Beziehung ohne Sex aufbauen könne. Die Unsicherheit und Hilflosigkeit ihrer Mutter erklärt sich Christine mit deren Aufwachsen in prekären Familienverhältnissen. Ihre Mutter hat sich als Kind als ungewünscht erlebt und war peinlich darauf bedacht, bloß keine Fehler zu machen. „Mutter konnte einfach nichts machen, wenn ich ausgerastet bin und rumgeschrien habe.“ Christine verbindet diese Erinnerungen mit starken Schamgefühlen.

„Christine das Busenwunder“

In der Pubertät habe sie als erstes Mädchen aus ihrer Klasse weibliche Formen entwickelt, das sei ganz grauenhaft gewesen. Sie kann sich erinnern, dass sie „gezittert hat vor Scham“. Sie empfindet bis heute Nacktsein als beschämend, „ich lehne meinen Körper zutiefst ab“. Sie brauchte als Erste einen BH und war bekannt als „Christine das Busenwunder“. In dieser Zeit begann sie sich zu piercen. Es gab ständig Streit mit der Mutter, weil „ich mir irgendwo wieder ein Loch durch den Körper geschossen habe“.

Während Christine sich ein zusammenhängendes Bild ihrer Lebensgeschichte, ihrer Beziehungen und ihres Selbst erarbeitet, wird sie in ihrer alltäg­lichen Lebensgestaltung organisierter und zielgerichteter. Sie ironisiert zwar meine wiederholten Ratschläge, auf die für sie notwendigen Arbeitsrhythmen zu achten und ihre Freizeit bewusst zu gestalten. Sie leidet zwar weiterhin unter Stimmungsschwankungen, findet jetzt aber Ausdruck für ihre Konflikte. Durch die therapeutischen Gespräche, Lesen und Nachdenken hat sie den Eindruck, dass sie „sich selbst besser findet“. Nach etwa 60 Sitzungen nähert sich unsere Therapie dem Ende, weil Christine nach ihrem erfolgreichen Abitur einen interessanten Studienplatz im Ausland erworben hat.

Prof. Dr. Rainer M. Holm-Hadulla ist Psychotherapeut, Psychiater und Lehranalytiker. Sein integratives Behandlungsmodell hat er anhand von dreizehn exemplarischen Behandlungsgeschichten aus der Praxis dargelegt (Integrative Psychotherapie, Psychosozial 2021, 2. Auflage) – Christines Geschichte ist eine davon

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2021: Raus aus alten Mustern