„Keine Spur von Resignation“

Können Menschen, die in ihrem Körper eingeschlossen sind, glücklich sein? Ja, sagt der Hirnforscher Niels Birbaumer.

Eine Locked-in-Patientin liegt bewegungslos im Bett und ist in ihrem Körper eingeschlossen
Komplett eingeschlossen – locked-in. Das klingt für einen gesunden Menschen nach dem absoluten Super-GAU. © Wavebreakmedia/Getty Images

PSYCHOLOGIE HEUTE Komplett eingeschlossen – locked-in. Das klingt für einen gesunden Menschen nach dem absoluten Super-GAU. Wie muss man sich das Leben eines Locked-in-Patienten vorstellen?

NIELS BIRBAUMER Das Problem besteht darin, dass wir uns das als gesunde Menschen eben nur sehr schwer vorstellen können. Denn wir finden es selbstverständlich, mit unserem Gehirn die Muskeln zu steuern, unseren Willen in Bewegung umzusetzen und mit anderen Menschen zu sprechen. Doch der Locked-in-Patient kann das alles…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

in Bewegung umzusetzen und mit anderen Menschen zu sprechen. Doch der Locked-in-Patient kann das alles nicht. Es ist wie bei einer Lähmung mit dem Giftstoff Curare, nur mit dem Unterschied, dass sich dieser Zustand bei Locked-in-Patienten wohl niemals bessern wird. Der Gedanke daran macht uns Angst, aber wir können uns nur schwerlich dort hineinversetzen.

PH Welche Erkrankungen münden denn ins Locked-in?

BIRBAUMER Es sind weniger spontane Schlaganfälle als vielmehr solche Krankheiten, die sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte entwickeln, wie etwa ALS (amyotrophe Lateralsklerose), multiple Sklerose und Parkinson. Was einerseits bedeutet, dass sich das Grauenvolle langsam steigert und die Hoffnung auf Besserung immer wieder vom zunehmenden Verfall des Körpers geschluckt wird, anderseits aber auch, dass man sich gewöhnen kann. Der letzte Aspekt wird oft ignoriert, man sieht nur die Katastrophe.

PH Ihnen ist es ja gelungen, mit solchen Patienten durch sogenannte brain-machine interfaces in Kontakt zu treten. Mit einer solchen Verständigungshilfe kann etwa ein komplett Gelähmter dem Pfleger mitteilen, dass er gewendet werden will. Aber das heißt ja nicht automatisch, dass er glücklich ist, oder?

BIRBAUMER Das heißt es in der Tat nicht. Wer wissen will, ob jemand auch unter extrem miserablen Umständen noch glücklich ist, muss ihn konkret danach fragen. Was natürlich bei einem Locked-in-Patienten nicht einfach ist, weil er auf Fragen wie „Gehst du gerne mit Freunden essen?“ oder „Hast du Spaß am Sex?“ keine sinnvolle Antwort geben kann. Also haben wir einen neuen Fragebogen ohne Bewegungsbezug konzipiert, den auch gelähmte Menschen beantworten können. Die Antworten zeigten, dass ihre Lebensqualität ungefähr ähnlich hoch ist wie bei Gesunden. Bei einigen Patienten ist sie manchmal sogar höher, das hängt vom aktuellen Stadium ihrer Erkrankung ab.

PH Aber kann es nicht sein, dass die Patienten sich nur kooperativ zeigen wollten, also ihre Antworten gar nicht ihrer Befindlichkeit entsprachen?

BIRBAUMER Ja, das kann man nicht völlig ausschließen. Wir haben daher Locked-in-Patienten in eine Kernspinröhre platziert, um ihre Hirnaktivitäten, beispielsweise in dem fürs Erkennen fröhlicher und freundlicher Gesichtsausdrücke zuständigen Gyrus supramarginalis, zu protokollieren. Gleichzeitig wurden sie mit Bildern – für die noch sehenden Probanden – und Tonfolgen – für die nur noch hörenden Probanden – konfrontiert, die bei ihnen positive oder negative Emotionen auslösen sollten.

Das Bild- und Tonmaterial stammte aus einem Standardverfahren, das Psychologen weltweit zum Auslösen und Erfassen emotionaler Reaktionen verwenden. Es zeigte sich: Die Locked-in-Probanden reagierten stärker auf positive Reize und schwächer auf negative Reize. Sie wurden also durch das, was uns alle glücklich macht, noch glücklicher als wir, während sie das, was uns unglücklich macht, weitaus weniger beeindruckte als uns. Was unter dem Strich nichts anderes bedeutet, als dass ihre Lebensqualität höher ist als die unsrige.

PH Also keine Spur von Resignation?

BIRBAUMER Sofern der Patient gut betreut wird und Zuwendung von seinen Freunden und Angehörigen erhält, anstatt dass man an seinem Bett darüber diskutiert, ob man die lebenserhaltenden Maßnahmen abstellt: keine Spur von Resignation.

PH Was ist nun, wenn ein Patient in einer Patientenverfügung angeordnet hat, dass er im Falle etwa eines Locked-in-Zustandes wünscht, nicht mit Maschinen am Leben erhalten zu werden?

BIRBAUMER Was ist eine Patientenverfügung wert, die wir in einem Zustand der Unkenntnis unterschreiben, in dem wir nicht einmal annähernd ahnen, wie es uns später, wenn die Verfügung in Kraft treten soll, tatsächlich gehen wird? Wie gesagt: Das Locked-in macht uns Angst, aber wir können uns nicht wirklich dort hineinversetzen. Und trotzdem unterschreiben wir eine Verfügung, dass man uns „abstellt“, wenn uns dieses Schicksal mal ereilen sollte.

PH Nichtsdestoweniger wurden in Ländern wie den Niederlanden und einigen Bundestaaten der USA die Gesetze zur Euthanasie erheblich gelockert, und es gibt Stimmen, die das auch für Deutschland wünschen.

BIRBAUMER Davor kann ich nur warnen. Denn das fördert vermutlich nur die negativen Erwartungen der Patienten, die sie im Hinblick auf ihre künftige Lebensqualität haben. Nach dem Muster: Wenn alle eine Lockerung der Sterbehilfe fordern, kann ja die Alternative, wie etwa ein Leben als fortgeschrittener Alzheimer- oder ALS-Patient, nur eine Katastrophe sein. Tatsache ist jedoch: Unser Gehirn ist plastisch genug, auch in solchen Situationen noch zu einem Lebensglück zu finden. Was nicht heißen soll, dass wir jemandem, der wirklich sterben will, diesen Wunsch nicht erfüllen. Doch dazu müssen wir es schaffen, dass er uns seinen aktuellen Wunsch dazu mitteilt – und nicht blindlings einer Verfügung gehorchen, die er lange vorher unterschrieben hat.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2014: Richtig entscheiden