Was mich an Nico berührt, ist seine Ambivalenz. Er ist da und doch nicht greifbar. Nachmittags meldet er sich zum Spaziergang, zehn Minuten später stehen alle vor der Tür, außer Nico. Sofort schwärmen die andere Praktikantin und ich aus, um ihn zu suchen. Das Nächstliegende ist natürlich sein Zimmer, doch als ich auf mein Klopfen keine Antwort bekomme und die Tür öffne, finde ich bloß ein ungemachtes Bett vor mit wahllos verstreuten Kleidern, wie von einem Flüchtigen hastig aus dem Schrank gerissen, und…
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wie von einem Flüchtigen hastig aus dem Schrank gerissen, und seinen Gebetsteppich, gen Mekka gerichtet.
Die tanzenden Vorhänge im offenen Fenster scheinen mir an Nicos statt zuzublinzeln – hat er mir wieder mal ein Schnippchen geschlagen!
Nachdem ich die Bäder und den Keller durchsucht habe, drehe ich noch eine Runde durch den Garten – keine Spur von ihm. Nun kann ich die anderen wirklich nicht mehr länger warten lassen, ich kehre um, als unversehens zwei Turnschuhe von oben in mein Blickfeld baumeln. Ich hebe den Kopf, und da sitzt Nico im Astwerk der Kastanie und schlenkert mit den Beinen, als wisse er von nichts. Wie ein Kind, das sich versteckt und mit klopfendem Herzen gehofft hat, man werde es suchen kommen.
Studienabbruch wegen Einweisung in Psychiatrie
Nico ist aber kein Kind mehr, sondern 21 Jahre alt und einer von zehn jungen Erwachsenen in der sozialpsychiatrischen Klinik für akute psychotische Krisen, in der ich mein Psychologiepraktikum absolviere. Nico hat Abitur, anschließend wählte er für ein Freiwilliges Soziales Jahr einen Bauernhof, weil er die harte körperliche Arbeit schätzte, die nicht viel Zeit zum Nachdenken ließ. Nach dem FSJ brach er zu einer Reise ohne Ziel auf – und landete in Jerusalem, wo er zu Gott beziehungsweise Allah fand.
Zurück in Deutschland musste eine Entscheidung her, also nahm er ein Studium der Islamwissenschaften auf, das er schon in der vierten Woche abbrechen musste, weil seine Mutter ihn in die Psychiatrie einwies. Sie musste die Polizei rufen, als ihr Sohn die Inneneinrichtung ihrer Wohnung zertrümmerte. Zwei Monate saß Nico mit FU auf der Geschlossenen. FU steht für ,,fürsorgliche Unterbringung‘‘, früher hieß das ,,Zwangseinweisung‘‘. Dann kam er in unsere Klinik.
Unterwegs auf dem Spaziergang bekommt man ihn nicht leichter zu fassen. Er pendelt zwischen den Grüppchen, und sobald ein Gespräch eine gewisse Verbindlichkeit erreicht hat, verabschiedet er sich zu der nächsten Gruppe. Wie ein verspielter junger Hund hüpft er im einen Moment auf den Hydranten und ahmt die Statue gegenüber nach, im nächsten fläzt er sich im Bus über zwei Sitze, für beides erntet er irritierte bis missbilligende Blicke. Zwischendurch geht die Kraft mit ihm durch, er heizt quer über die Waldlichtung und springt scheinbar mühelos über den Brunnen. Kaum ein Blinzeln später gibt er, einen Baum umarmend, ein Bild tiefsten Friedens ab.
Auf der Lauer
Während er auf Spaziergängen physisch nicht greifbar wird, entzieht er sich beim Essen auf psychologische Art. Dienstags verzichtet er tagsüber ganz auf Mahlzeiten, die anderen Tage sitzt er betend vor seinem Teller und rührt ihn erst an, wenn die Ersten schon wieder aufstehen und abräumen.
Während wir Ungläubigen unseren tierischen Trieben unreflektiert nachgeben, gelangt er im Kampf gegen und Triumph über diese auf eine höhere Stufe. Doch selbst jetzt, wo er endlich zum Löffel greift, erlegt Nico sich nach jedem Bissen eine halbminütige Pause auf – um sich in Achtsamkeit zu üben. Die Tischgemeinschaft strömt aus dem Esszimmer, vorbei an Nico, der sich wie immer der allgemeinen Fließrichtung widersetzt.
,,Nico‘‘, habe ich gesagt, ,,du musst nichts essen, aber bitte setz dich doch dazu.‘‘ Am nächsten Dienstag – Fastentag – erschien er pünktlich um zwölf im Esszimmer, ließ aber den Tisch links liegen und verzog sich auf die Fensterbank. Von dort oben belauerte er uns wie eine Katze. Mit einem Bein bei uns, mit dem anderen schon entwischt.
Kleine Tests für seine Mitmenschen
Wie gesagt, er ist 21, ein junger Mann an der Schwelle zur Welt. Und wie alle 21-Jährigen möchte er sich in diese Welt stürzen und tun, wonach ihm der Sinn steht, deshalb stinkt es ihm gewaltig, dass er auf der Akutstation für Psychosen festhockt, wo er sich auch noch jedes Mal abmelden soll, wenn er nur mal kurz frische Luft schnappen will. Fragt man ihn: ,,Wie geht’s?‘‘, lautet die Antwort stets: ,,Tipptopp!‘‘ Und doch verrät er mir eines Morgens:,,Ich wünschte, über all das könnte ich weinen, aber immer kann ich nur lachen.‘‘
Nicos ambulante Psychiaterin erzählt, an ihrem ersten Termin habe sie lange auf ihn, Herrn G., gewartet. Ein Drittel der Therapiestunde war schon verstrichen, da stand die Therapeutin auf und ging, einem Instinkt folgend, zur Tür. Als sie sie öffnete, saß auf der Treppe zu ihrer Praxis ein junger Mann – Herr G., wie er bestätigte.
Wie lange er denn schon hier warte? ,,Mindestens eine halbe Stunde‘‘, erwiderte er. Dabei konnte er sein Grinsen kaum im Zaum halten. Er hatte um einen Termin bei der Psychiaterin gebeten und es dann nicht über sich gebracht, den letzten Schritt zu tun. Stattdessen hatte er sich vor die Tür gesetzt und gehofft, dass man ihn suchen komme.
Angenommen alle Arten von Verhalten können als Versuche der Kontaktaufnahme verstanden werden: Dann sind Nicos Aktionen, mit denen er sich uns entweder psychologisch oder unmittelbar physisch entzieht, nichts anderes als seine Art, mit uns in Kontakt zu treten. Es handelt sich sozusagen um lauter kleine Tests, die Nico uns heimlich auferlegt, um zu prüfen, ob er uns wichtig genug ist, damit wir ihn suchen kommen.
Problemen auf einer Wolke davonschweben
Einzige Konstante in seinem Leben: der Glaube. Zwei Jahre ist es her, seit Nico zum Islam gefunden hat. In Jerusalem geschah das, wobei die genauen Umstände nebulös bleiben. Sobald das Gespräch in die Nähe seiner Person zu geraten droht, lenkt Nico gekonnt ab.
Ganz aus dem Nichts kam die Bekehrung jedenfalls nicht, gehört Religion doch zur DNA seiner Familie. Nur wählte der Sohn weder das Judentum des Vaters noch das Christentum der Mutter, sondern die dritte große Weltreligion.
Wohlgemerkt sieht Nico die drei Glaubenssysteme nicht im Widerspruch zueinander. ,,Im Gegenteil‘‘, versuchte er mir eines Nachmittags zu erklären, ,,sowohl das arabische als auch das israelische Volk stammen aus Abrahams Schoß und sind eine Familie.‘‘ Immer mehr bekam ich den Eindruck, dass er eigentlich von etwas ganz anderem sprach. Nicos Eltern haben sich getrennt, als er neun Jahre alt war.
Hört man ihn über seinen Glauben sprechen, kann man fast sehen, wie er sich vom Stuhl löst und auf in den Himmel steigt, wo er sanft auf einer Wolke landet und davonschwebt, bis er wirklich fast vergessen kann, dass es ihn selbst und seine Probleme gibt.
Glaube gibt Sicherheit
Wenn einem der Boden weggerissen wird, greift man nach etwas, das nach Halt aussieht. Als Nico abzustürzen drohte, war das der Glaube. Religion kann die Welt vereinfachen und Eindeutigkeit simulieren. Ab einem gewissen Punkt wurde der Druck, auf der Suche zu sein – nach sich selbst, nach einem Plan für die Zukunft –, zu heftig. Der Glaube nimmt einen Teil des Drucks.
Kehren wir noch einmal zurück zur Annahme, dass alles Verhalten, auch Nicos Pendeln zwischen Nähe und Distanz, Versuche von Kommunikation sind. Wie fühlten wir uns, als alle zum verabredeten Zeitpunkt bereit zum Spaziergang waren und nur Nico fehlte? Als wir beim Spaziergang ständig Angst hatten, ihn aus den Augen zu verlieren und nicht mehr wiederzufinden? Genau so fühlt sich Nico. Indem er sich unseren Blicken entzieht und sich suchen lässt, teilt er uns mit, wie es ist, sich selbst verloren und noch nicht wiedergefunden zu haben.
Johannes Rohwer hat gerade seinen Master in klinischer Psychologie abgeschlossen und die Ausbildung zum Psychotherapeuten an der Universität Bern begonnen. Seine Texte zu psychologischen Themen veröffentlicht Rohwer auf seinem Blog hintersinn.de.
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