Und statt aber

Therapiestunde: Frau S. hat unerträgliche Zahnschmerzen – und noch größere Angst vor dem Zahnarzt. Wie soll sie es schaffen, den Mund zu öffnen?

Ein Mann mit Einfahrt-Verboten-Verkehrsschild als Gesicht, sitzt als Patient auf einem Zahnarztstuhl
Die Patientin hatte Bilder eines zahnärztlichen Gemetzels im Kopf, das sie nicht überleben würde. © Michel Streich

Würde Frau S. den Mund aufmachen? Das war die entscheidende Frage. Wenn sie den Mund aufmachen würde, dann könnte alles gut werden. Tat sie es nicht, gab es in der Behandlung kein Fortkommen, dann war ihr nicht zu helfen. Und sie brauchte doch Hilfe.

Als ich noch in meiner Ausbildung war, hörte ich einmal den Vortrag eines renommierten Kollegen an, der von einer Therapie berichtete, in der über viele Sitzungen hinweg kein einziges Wort gefallen war. Patient und Therapeut hat­ten sich 50 Minuten lang…

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über viele Sitzungen hinweg kein einziges Wort gefallen war. Patient und Therapeut hat­ten sich 50 Minuten lang angeschwiegen. Ich kann mich noch an meine damaligen Gedanken erinnern: Würde ich die Geduld für ein solches Vorgehen aufbringen? Und war das wirklich hilfreich für die Patientinnen und Patienten?

Und jetzt saß Frau S. vor mir und ihr Mund war ein schmaler Strich aus fest zusammengekniffenen Lippen. Sie zeigte nicht das geringste Anzeichen einer Bereitschaft, daran etwas zu ändern. Allerdings befanden wir uns nicht im Therapieraum meiner Praxis, sondern im Behandlungszimmer eines Zahnarztes. Frau S. war seit vielen Jahren nicht beim Zahnarzt gewesen, ihr Gebiss war in einem desolaten Zustand und sie hatte schier unerträgliche Zahn­schmerzen. Frau S. musste den Mund aufmachen, damit der Zahnarzt seine Arbeit tun konnte, und meine Aufgabe war, sie darin zu unterstützen, sich trotz der Panik, die ihr jetzt ins Gesicht geschrieben stand, behandeln zu lassen.

Angst vor allem

In den Therapiesitzungen, die diesem gemeinsamen Zahnarztbesuch vorausgegangen waren, hatte Frau S. durchaus den Mund aufgemacht, auch wenn sie oft die Hand davorgehalten hatte, um das, was von ihren Zähnen übrig war, zu verbergen. Sie hatte den Mund aufgemacht und davon erzählt, wie sie ein Leben lang herumgeschubst worden war.

Hatte von einem lieblosen Elternhaus erzählt, in dem viel Alkohol getrunken wurde, jeder irgendwie mit sich selbst beschäftigt war und die einzige Erziehungsmaxime lautete: Wer nicht hören will, muss fühlen. Niemand hatte ihr den Rücken gestärkt oder ihr Mut gemacht. So hatte sich eine enorme Lebensangst entwickelt. Sie hatte einfach Angst vor allem: vor Menschen, vor Leistungssituationen, vor Krankheit und Tod und davor, dass sie „das alles“ nicht schaffen würde.

Dabei hatte sie durchaus einiges geschafft. Sie war intelligent, hat­te trotz der mangelnden Unterstützung durch ihr Eltern­haus Abitur gemacht und ein Studium begonnen. Dann hatte sie sich in eine Ehe geflüchtet, und die Schubserei hatte wieder begonnen. Ihren Ehemann musste sie genauso bedienen wie zuvor ihre Eltern, fünf Kinder brachte sie zur Welt – da blieb weder Zeit noch Kraft für die Abschlussarbeit. Zwar war sie noch an der Universität eingeschrieben und hielt den Kontakt zu ihrer Professorin, allerdings kam sie kaum vorwärts.

Wir hatten keine Zeit

Wir hatten eine Reihe von Therapiezielen formuliert und eine Langzeittherapie beantragt. Frau S. wollte selbst­bewusster werden, mutiger. Sie wollte noch einmal einen Anlauf machen, ihre Abschlussarbeit fertigzustellen, und dazu von ihrem Mann Hilfe im Haushalt und bei der Betreuung der Kinder einfordern. Sie wollte auch lernen, sich nicht in Panikzustände hineinzusteigern, deretwegen sie regelmäßig den Notarzt kommen ließ. „Wenn die Angst kommt“, sagte sie, „dann hilft nichts – dann würde ich mich am liebsten in ein künstliches Koma versetzen lassen.“

Auch die Angst vor Ärzten im Allgemeinen und vor Zahnärzten im Speziellen stand auf unserer Liste, aber eher auf einem der hinteren Plätze. Dann aber kamen die Zahnschmerzen, die sich kaum noch durch Schmerzmedikamente in Schach halten ließen. Andererseits war die Angst vor der Behandlung unermesslich groß. Die Patientin hatte Bilder eines zahnärztlichen Gemetzels im Kopf, das sie nicht überleben würde. Hätten wir genügend Zeit gehabt, hätten uns verschiedene Vorgehensweisen aus dem verhaltenstherapeutischen Repertoire zur Verfügung gestanden, die eine allmähliche Annäherung an die gefürchtete Situation ermöglicht hätten.

Wir hätten mit Vorstellungen und Entspannung arbeiten können, mit positiven Selbstgesprächen, hätten versuchen können, die inneren Bilder zu entkatastrophisieren und vieles andere mehr. Aber wir hatten keine Zeit. Die Verzweiflung wuchs, und aus dem Wunsch der Patientin, in ein künst­liches Koma versetzt zu werden, begann sich eine alarmierende Todessehnsucht zu entwickeln. Was tun? Da eine Behandlung unter Vollnarkose zu dem Zeitpunkt nicht infrage kam, musste eine psychologische Lösung her. Und zwar schnell!

Wird sie den Mund öffnen?

Einer der Slogans der Akzeptanz- und Commitmenttherapie lautet: Gefühle sind keine Ursachen für Handeln. In Bezug auf die Angst bedeutet das beispielsweise, dass wir eine Situation nicht vermeiden, weil wir Angst vor ihr haben, sondern weil wir nicht bereit sind, die Angst zu spüren, die wir hätten, wenn wir uns in die Situation begeben würden. Eine sprachliche Umsetzung dieses Prinzips besteht in der Umwandlung von Aber-Sätzen in Und-Sätze. Aus: „Ich würde ja zum Zahnarzt gehen, aber ich habe solche Angst vor der Behandlung“ wird beispielsweise: „Ich gehe zum Zahnarzt und ich habe Angst vor der Behandlung.“

Nachdem ich ihr auf ihre Bitte hin zugesagt hatte, sie zum Zahnarzt zu begleiten, vereinbarte sie einen Termin, und wir übten in der verbleibenden Zeit die „Und-statt-aber-Technik“. So suchten wir nach Erfahrungen aus ihrem früheren Leben, in denen sie verängstigt war und dennoch Dinge getan hatte, die ihr wichtig waren. Hatte sie beispielsweise Angst vor den Prüfungen gehabt? Ja, große Angst – weniger vor schlechten Noten als davor, sich lächerlich zu machen. Und war sie hingegangen? Ja, war sie.

Jetzt saßen wir beim Zahnarzt, sie auf dem Behandlungsstuhl, ich zwei Meter von ihr entfernt, und der Zahnarzt hatte bereits mit Engelszungen auf sie eingeredet, ihr das Instrument gezeigt, mit dessen Hilfe er ihren Mundraum untersuchen wollte, und hoch und heilig versprochen, nichts anderes zu tun, ohne es vorher mit ihr abzusprechen. „Ich sage es Ihnen noch einmal: Ich will nur erst mal schauen. Sie brauchen keine Angst zu haben.“

Würde Frau S. nun den Mund aufmachen? Ehrlich gesagt hatte ich einige Zweifel, ob sie trotz ihrer panischen Angst die Behandlung zulassen würde. Ich hatte Zweifel und dennoch war ich mitgegangen, um sie in dieser schwierigen Situation zu unterstützen.

Anschauliches Beispiel

Und nun saß sie da und ihr Mund war wie zubetoniert. Der Zahnarzt wusste nicht weiter und blickte hilfesuchend zu mir herüber. Auch sie blickte mich mit großen Augen an. „Frau S.“, begann ich, „Sie haben gehört, dass Sie keine Angst zu haben brauchen.“ Sie nickte. „Sie haben trotzdem Angst, oder?“ Wieder nickte sie. „Können Sie Angst haben und – ­natürlich sprach ich das ‚und‘ mit allergrößtem Nachdruck – jetzt den Mund öffnen, damit Ihr Zahnarzt mit der Untersuchung beginnen kann?“

Die nächsten fünf Sekunden zogen sich endlos in die Länge. Dann nickte Frau S. – und öffnete den Mund. Einen kleinen Moment brauchte der Zahnarzt, um sich zu vergegenwärtigen, was passiert war, dann nutzte er seine Chance und begann mit der Untersuchung.

Keineswegs war danach alles gut. Frau S. war unmittelbar nach dem Zahn­arztbesuch zwar erleichtert und auch ein wenig stolz auf sich, brauchte aber noch viel Zeit und Unterstützung, um die Behandlung weiterzuführen und an ihren anderen Zielen zu arbeiten. Dennoch blieb ihr die gemeisterte Zahnarztsituation als anschauliches Beispiel dafür in Erinnerung, dass sie nur dann weiterkam, wenn sie bereit war, sich ihrer Angst zu stellen – und auch dafür, wie nützlich es sein kann, ein kleines Wort durch ein anderes zu ersetzen.

Matthias Wengenroth, Diplompsychologe, arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Solingen. Er ist Autor unter anderem von Therapie-Tools: Akzeptanz- und Commitmenttherapie (Beltz 2017) und Gib dich nicht auf, lass dich wieder ein! (Hogrefe 2019).

Gibt es Fragen zum Bereich Psychotherapie, die Sie uns gerne stellen möchten? Welche Themen ­interessieren Sie besonders? Schreiben Sie uns an: psychotherapie@psychologie-heute.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2022: Was treibt mich an?