„Kassensitze sind zum Luxusgut geworden.“

Junge Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können sich die Zulassung zur Abrechnung mit gesetzlichen Krankenkassen oft nicht leisten.

Die Illustration zeigt die Psychotherapeutin Elene Rudolph.
Die Psychotherapeutin Elene Rudolph stört, dass Kassensitze zum Luxusgut geworden sind. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Der Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten ist in einer angespannten Situation: Seit Jahren gibt es nicht genügend Kassensitze. Kassensitz bedeutet, dass man die Erlaubnis hat, als Therapeutin seine Leistungen mit den Krankenversicherungen und gesetzlichen Kassen abzurechnen und so die dringend benötigten Therapieplätze anzubieten. Weil zugleich der Bedarf immer weiter wächst, sind viele Psychotherapeutinnen frustriert: Diejenigen, die die begehrte Zulassung haben, müssen Patienten abweisen, diejenigen, die keine haben, können sich sie nicht leisten.

Nur ein Zehntel der benötigten neuen Kassensitze

Woran liegt das? Mit dem 1999 in Kraft getretenen Psychotherapeutengesetz wurde die Heilberufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten geschaffen. Seither nehmen Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mit eigenem Kassensitz an der vertragsärztlichen Versorgung teil und können ihre Leistungen mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen.

Die Anzahl der Kassensitze ist für alle approbierten Psychotherapeutinnen (und alle Ärzte) pro Region oder Stadt begrenzt. Über die Höhe des Verhältnisses von Psychotherapeut je Einwohner entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Bedarfsplanungs-Richtlinie. Auf dieser Grundlage vergeben dann regional Vertreterinnen und Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigungen sowie der Krankenkassen in so genannten Zulassungsausschüssen Kassensitze für Psychotherapeutinnen und Ärzte.

Jede und jeder der damals praktizierenden Psychotherapeuten erhielt kostenfrei die Erlaubnis, mit den Kassen abzurechnen. Seitdem ist die Anzahl der Erlaubnisse nicht mehr maßgeblich erhöht worden. Neue Berechnungen zeigen, dass aktuell für eine ausreichende Versorgung die Anzahl der Kassensitze um 7000 erhöht werden müsste. Im letzten Jahr bewilligte die Kassenärztliche Bundesvereinigung 776 neue Kassensitze – ein Tropfen auf den heißen Stein.

Derweil sind junge Psychotherapeutinnen darauf angewiesen, dass Kassen­sitze von älteren Kollegen abgegeben werden. Vor allem in beliebten Großstädten, aber zunehmend auch darüber hinaus wird dies immer teurer. Außerdem können die jüngeren Kolleginnen und Kollegen dafür meistens nicht die Praxisräume oder Patientinnen übernehmen, wie das etwa bei Internisten oder Hausärzten der Fall ist.

Ohne die Zulassung aber können wir Patienten, denen eine Psychotherapie verordnet wurde und die es sich vielleicht nicht leisten können, diese selbst zu bezahlen, nichts anbieten.

Von der Politik nicht ernst genommen?

Aus dieser Situation heraus starteten drei Kollegen und Kolleginnen und ich eine Petition, die sich für eine faire Kassensitzvergabe ausspricht; mittlerweile haben sie schon 113000 Menschen unterzeichnet. Trotz dieser hohen Resonanz blieben die Reaktionen des Gemeinsamen Bundesausschusses, der Kassenärztlichen Vereinigung und der Politik eher verhalten. Natürlich ist die Finanzierung einer psychotherapeutischen Behandlung für die Krankenkassen auch eine Belastung.

Langfristig ergibt es wirtschaftlich aber wenig Sinn, Kosten einzusparen, indem man Patienten eine Behandlung verwehrt. Psychische Erkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit. Die Kosten durch die Auszahlung von Krankengeld und durch stationäre Klinikaufenthalte, die aufgrund von Verschlimmerung oder der Chronifizierung unbehandelter psychischer Erkrankungen entstehen, fallen dann wieder auf die Krankenkassen zurück.

Wenn es also neben der ethischen Verantwortlichkeit auch wirtschaftlich vorteilhaft ist, psychische Erkrankungen rechtzeitig zu behandeln, drängt sich die Vermutung auf, dass sie von der Politik immer noch nicht ernst genug genommen werden.

Elena Rudolph ist Psychotherapeutin und arbeitet in Köln in einer Praxisgemeinschaft.

Anmerkung der Redaktion: 

In einer früheren Version des Artikels war zu lesen, dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung 1999 die Versorgung psychisch kranker Menschen neu geregelt und die Anzahl der Sitze pro Region oder Stadt begrenzt hat. Das ist so nicht korrekt.

Im Jahr 1999 wurde nicht die Versorgung psychisch kranker Menschen neu geregelt, sondern trat das Psychotherapeutengesetz in Kraft. Dadurch wurden die Heilberufe des Psychologischen Psychotherapeuten sowie des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten geschaffen. Seitdem nehmen diese beiden Berufsgruppen an der vertragsärztlichen Versorgung teil und rechnen ihre Leistungen bei den gesetzlichen Krankenversicherungen ab. Die Anzahl der Kassensitze ist für alle approbierten Psychotherapeutinnen und -therapeutinnen – wie auch für Ärztinnen und Ärzte – pro Region und Stadt begrenzt.

Die Vergabe von Kassensitzen ist im Sozialgesetzbuch geregelt. Über die Vergabe eines Kassensitzes entscheiden neben regionalen Vertreterinnen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auch Vertreter der Krankenkassen.

Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2023: Selbstmitgefühl
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