Immer alles sofort

Präkrastination bezeichnet den Drang, alles auf der Stelle zu erledigen. Das klingt erst mal verführerisch, hat aber seine Tücken.

Die Illustration zeigt eine Frau im Büro, die umhereilt, weil sie immer alles sofort erledigen möchte
Lieber sofort handeln, als in Ruhe nachzudenken – Präkrastination verursacht bei Betroffenen deutliches Leid © Leandro Alzate

Über Jahre glaubte Adam Grant, dass man alle wichtigen Dinge früh erledigen sollte. „Meine Doktorarbeit“, schreibt der Psychologieprofessor von der University of Pennsylvania in einer Kolumne in der New York Times, „reichte ich zwei Jahre früher als notwendig ein. Als Student fertigte ich Seminararbeiten Wochen im Voraus an, und meine Abschlussarbeit beendete ich vier Monate vor dem Stichtag. Meine Zimmergenossen witzelten, ich habe eine produktive Art von Zwangsstörung. [In der Tat] haben Psychologen einen…

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Art von Zwangsstörung. [In der Tat] haben Psychologen einen Terminus für mein Leiden geprägt: Präkrastination.“ Damit sei der Drang gemeint, erklärt Grant, eine Aufgabe sofort anzufangen und so schnell wie möglich abzuschließen.

Bislang hat man sich in der Psychologie vornehmlich mit dem gegenteiligen Verhalten, der Prokrastination befasst: Man schiebt eine anstehende Aufgabe immer wieder auf, selbst wenn es eigentlich keinen guten Grund dafür gibt und man sich damit schadet. Als Ursache werden allerhand menschliche Schwächen ins Feld geführt: Versagensangst, Perfektionismus, Ablenkbarkeit, Probleme mit der Selbstregulation, mangelnde Organisation und Prioritätensetzung. Der Schweregrad der „Aufschieberitis“ kann von gelegentlichem dysfunktionalem Verhalten bis zur ernsten Lern- und Arbeitsstörung reichen, und der Leidensdruck kann erheblich sein

Lieber irgendetwas tun als in Ruhe nachzudenken

Doch in den letzten Jahren ist zunehmend auch die Präkrastination, das vor-schnelle Erledigen ins Blickfeld gerückt. David Rosenbaum, Professor für Psychologie an der University of California, ­Riverside, gilt als Urheber des Begriffes und hat das Phänomen als Erster wissenschaftlich untersucht. Er ist selbst jemand, der in manchen Bereichen zum Präkrastinieren neigt, und er warnt vor den möglichen negativen Folgen: „Leute beantworten E-Mails sofort, ohne sorgfältig über ihre Antworten nachzudenken. Oder sie bezahlen Kreditkartenrechnungen früher als nötig und verzichten dadurch auf Zinserträge. Es gibt auch physische Beispiele: Ich habe im Supermarkt Käufer beobachtet, die sofort am Eingang mehrere Kilo Äpfel in ihre Einkaufskörbe luden und diese dann durch den ganzen Laden schleppten, obwohl sie am Ende des Einkaufs wieder an den Äpfeln vorbeikamen und keinerlei Risiko bestand, dass sie bis dahin ausverkauft sein könnten.“

Schnelles Erledigen scheint für viele Menschen sehr verlockend zu sein: Die Tendenz, sich lieber mit irgendetwas zu beschäftigen (und sei es trivial), als sich mal in Ruhe hinzusetzen, scheint weit verbreitet. Auch die sogenannte Inbox-Zero-Politik, bei der E-Mails sofort bearbeitet werden, so dass der Posteingangsordner am Ende des Arbeitstages immer leer ist, zeugt von einem zwanghaften Wunsch, alles sofort abzuarbeiten. Rosenbaum sieht Präkrastination heute als viel weitergehendes Phänomen, als es zunächst absehbar war. So war seine erste, 2014 publizierte Studie einer völlig zufälligen Beobachtung zu verdanken. Der Forscher und sein Team führten einen Vortest für ein anderes Experiment durch: Sie ins­truierten die Probanden, einen Gang entlangzugehen und entweder einen näher bei ihnen stehenden oder einen weiter entfernten Eimer zu greifen („was immer Ihnen einfacher erscheint“) und diesen bis zum Ende des Ganges zu tragen. Die meisten Teilnehmer machten etwas völlig Unerwartetes: Sie entschieden sich für den nahen Eimer, obwohl dies bedeutete, dass sie ihn eine weitere Strecke tragen mussten. „Wir waren völlig erstaunt und dachten zunächst an einen Fehler im Experiment“, erinnert sich Rosenbaum. Aber auch in weiteren Versuchen, in denen der Professor und seine Studenten die verschiedensten Parameter variierten, erwies sich das Phänomen als standhaft. Zwischen 65 und 80 Prozent der Probanden zogen es vor, den nahen Eimer zu greifen, anstatt zu warten, bis sie den weiter entfernten Eimer erreicht hatten, trotz der höheren körperlichen Anstrengung, die damit verbunden war.

Gründe für die Eile

Eine der zentralen Fragen, die die Forscher beantworten müssen: Warum hasten die Leute? Was ist die Ursache ihrer Eile? Folgende Erkenntnisse hat man bislang gewonnen:

Gedächtnis entlasten: Eine Aufgabe zügig anzugehen – sei es eine E-Mail zu beantworten oder Äpfel in den Einkaufskorb zu laden – erleichtert das Arbeitsgedächtnis. „Wir alle haben eine Menge Dinge im Kopf, die wir in Zukunft erledigen müssen“, erläutert Rosenbaum. „An diese Sachen denken zu müssen – man nennt das prospektives Erinnern –, bedeutet eine enorme mentale Last. Wenn wir die loswerden können, indem wir Sachen erledigen, ist das eine Erleichterung.“

Erfolgsgefühl generieren: Eine Aufgabe zu erledigen erzeugt ein Gefühl von Befriedigung, erklärt Rosenbaum: „Deshalb locken uns Sachen, die man schnell abhaken kann, mehr als Dinge, deren Erledigung länger dauert.“ Dies kann zu einer Form des Präkrastinierens führen, die viele Leute kennen: Man füllt seine tägliche To-do-Liste (auch) mit einfachen Aufgaben und arbeitet diese umgehend ab, weil es sogleich das Gefühl erzeugt, etwas geschafft zu haben.

Schnellen Fortschritt erzielen: sich einem Ziel schneller zu nähern, selbst wenn dadurch die Gesamtdauer, die man für die Aufgabe braucht, nicht weniger wird, wie eine gerade veröffentlichte Studie von Lisa R. Fournier (Washington ­State University) belegt. Im Alltag, erläutert die Wissenschaftlerin, kann sich das beispielsweise zeigen, wenn man einen größeren Einkauf von der Garage ins Haus tragen muss: Beim ersten Gang schleppt man so viele Einkaufstaschen wie möglich und beim zweiten Gang nur noch eine einzige Tüte. Vernünftiger wäre es natürlich, die Tüten gleichmäßiger auf die beiden Gänge zu verteilen. Aber indem man es so macht, erklärt die Forscherin, hat man den Eindruck, dass man sich dem Endziel, den gesamten Einkauf ins Haus zu bringen, schneller nähert (ohne die Gesamtzeit tatsächlich zu reduzieren) – und das kann sich gut anfühlen.

Digitale Technologien als Verstärker

Die Tendenz, Aufgaben schnell zu erledigen, um sie erledigt zu haben, scheint Lebewesen in gewissem Maße einprogrammiert zu sein. Zumindest hat sich die Neigung zum Präkrastinieren auch bei Experimenten mit Tauben gezeigt. Beim Menschen, spekuliert Rosenbaum, hat der Vormarsch der digitalen Technologien den Hang zum hastigen Erledigen noch verstärkt: „Die Beschleunigung der Kommunikation hat vielleicht unser Verlangen intensiviert, alles möglichst sofort zu bekommen und zu erreichen.“

Nicht jeder allerdings ist davon überzeugt, dass Präkrastination wirklich ein Problem darstellt. So auch Timothy ­Pychyl, Associate Professor an der Carleton University, Ottawa (Kanada). Der be­kannte Prokrastinationsexperte weist in einem Blog der Psychology Today darauf  hin, dass die Probanden in Rosenbaums Studien nur eine kurze Distanz zu gehen und kleine Gewichte zu tragen hatten. Er bezweifelt, dass sie sich auch für den näheren Eimer entschieden hätten, wenn es sich um schwere Kübel und eine weite Tragestrecke gehandelt hätte. Er vermutet, dass sich die Tendenz zur Präkrastination auf triviale und leicht zu erreichende Ziele beschränkt. Rosenbaum räumt ein, dass das Phänomen bei schwerwiegenden Angelegenheiten wahrscheinlich seltener auftritt: „Die Entscheidung, jemanden zu heiraten, wird man vermutlich nicht innerhalb von ein paar Sekunden treffen.“

Auch Lisa Fournier betrachtet Präkrastination nicht unbedingt als problematisch – und in manchen Situationen hält sie es sogar für ein adaptives Verhalten. Das Arbeitsgedächtnis zu entlasten, indem man eine Aufgabe schneller anfängt, kann nützlich sein, erklärt die Forscherin, weil dann mehr kognitive Energie für andere Arbeiten und unerwartete Herausforderungen zur Verfügung steht. Und seine To-do-Liste so schnell wie möglich anzugehen, indem man einfache Aufgaben zuerst abarbeitet, könne ein Gefühl von Erfolg geben, das einen für den Rest des Tages motivieren mag. Diese Vorteile müsse man allerdings mit den Nachteilen des Präkrastinierens abwägen. Und die können vielfältig sein: das Risiko, dass man nie zu den schwierigen – und eigentlich wichtigen – Aufgaben am Ende der To-do-Liste kommt; die Fehler, die man macht, weil man eine wichtige E-Mail oder gar ein ganzes Arbeitsprojekt eilig beendet, und die später mühsam korrigiert werden müssen; die mangelnde gedankliche Tiefe, wenn man ein Projekt sofort angeht und sich nicht die Zeit nimmt, in Ruhe darüber nachzudenken.

Präkrastination im Beruf

Der österreichische Wirtschaftspsychologe Franz J. Schaudy weist auf ein weiteres Problem hin: die Beeinträchtigung des Privatlebens durch eine zunehmende Präkrastination im Beruf. „Es gibt heute in der Arbeitswelt einen wachsenden Druck“, erläutert der Coach und Berater im Gespräch mit Psychologie Heute, „alles sofort und ohne Aufschub erledigen zu müssen. Diese Forderung setzt sich in den Köpfen der Menschen fest und wird immer häufiger widerspruchslos hingenommen. Aus Angst, den Anforderungen nicht zu entsprechen und dadurch in der Karriere steckenzubleiben oder gar den Job zu verlieren, sind viele Berufstätige dazu bereit, in einer Art vorauseilendem Gehorsam alle Aufgaben möglichst schnell abzuarbeiten und nichts liegenzulassen.“

Die internalisierte Haltung des Alles-so-schnell-wie-möglich-Erledigens reduziere nicht nur die Qualität der Arbeit, warnt der Psychologe, sondern führe auch zu einer nachhaltigen Störung des Lebensgleichgewichts. „Ich sehe einen kausalen Zusammenhang zwischen zunehmender Präkrastination im Beruf und Prokrastination im Privatleben. Während bei der Arbeit alles so schnell wie möglich erledigt wird, bleiben private Angelegenheiten, Tätigkeiten und Wünsche liegen oder werden immer weiter verschoben.“

Schaudy schildert das Beispiel eines Klienten, eines Abteilungsleiters von Mitte 40, der als äußerst pflichtbewusst und verlässlich gilt. Er arbeitet immer alles sehr schnell, fast hyperaktiv ab und ist mit seinen Aufgaben am liebsten ein paar Wochen vor der Deadline fertig. Dem zwanghaften Erledigen im Beruf steht ein ebenso zwanghaftes Nichterledigen im Privaten gegenüber. Er kommt zu Theateraufführungen seiner Tochter und zu Verabredungen mit Freunden zu spät; abends setzt er sich an den häuslichen Schreibtisch, um zu arbeiten, und schiebt das Zu-Bett-Gehen immer weiter auf (bedtime procrastination).

 Vorteilhaftes Aufschieben

Wenn Betroffene in seine Praxis kämen, sei der Leidensdruck meist schon hoch, und es zeigten sich Zeichen von Überlastung, Ängsten und Depressionen. Schaudys Ziel ist dann, gemeinsam mit dem Klienten tiefergehende Einsichts- und Veränderungsprozesse einzuleiten. Die Betroffenen blendeten beispielsweise oft völlig aus, dass, wenn sie abends schnell noch eine berufliche Aufgabe erledigen, private Aktivitäten – mit den Kindern spielen, Freunde besuchen oder ausreichend schlafen – auf der Strecke bleiben. „Sie müssen ihr Berufs- und Privatleben neu ausrichten. Nur so kann sich die Lebensbalance längerfristig wieder einpendeln.“

Bei milderen Formen des Präkrastinierens, also wenn Menschen nur gelegentlich oder bei eher unwichtigen Aufgaben präkrastinieren, mögen solche umfassenden Maßnahmen nicht notwendig sein. Manchmal kann es schon ausreichen, sich die Nachteile des hastigen Erledigens vor Augen zu führen. Adam Grant beispielsweise, der Psychologieprofessor von der University of Pennsylvania, der neue Aufgaben am liebsten sofort und so schnell wie möglich beendete, begann der Versuchung zu widerstehen, mit einem Artikel oder einer Studie sofort anzufangen, sondern schob den Start ein Weilchen auf. Auch gewöhnte er sich an, den ersten Entwurf eines Textes vor der Überarbeitung einige Zeit beiseitezulegen. „Ich entdeckte“, schreibt er, „dass es in jedem kreativen Projekt Momente gibt, die langsameres Denken erfordern. Mein Bedürfnis, früh fertig zu werden, war ein Weg, komplizierte Gedanken, die mich in neue Richtungen wirbeln könnten, abzuwürgen. Ich vermied die Mühen des divergenten Denkens – aber ich ließ mir auch seine Vorteile entgehen.“ In der Tat zeigt eine Studie der Forscherin Jihae Shin (University of Wisconsin), dass Teilnehmer sehr viel originellere neue Geschäftsideen hervorbrachten, wenn sie ein paar Minuten warteten und erst mal eine Runde Patience spielten, anstatt sofort mit der Ideenfindung anzufangen. Aufschieben, so die Schlussfolgerung, fördert divergentes, das heißt nichtlineares, in alle Richtungen ausstrahlendes Denken (vorausgesetzt, es wird nicht extrem und man wartet bis zur allerletzten Minute).

Auch David Rosenbaum hat gelernt, seinen Hang zum Präkrastinieren zu zähmen. So neigte er früher dazu, wie er ­Psychologie Heute erzählt, seine Frau zu vertrösten, wenn sie mit ihm sprechen wollte, während er rasch noch einen Text oder eine E-Mail fertigstellen wollte. Das macht er heute nicht mehr. „Ich habe mir klargemacht, dass ich stoppen und mir die Belange meiner Frau anhören kann. Die Aufgaben werden auch noch da sein, wenn ich mich später um sie kümmere.“

Zum Nach- und Weiterlesen

Lisa Fournier u. a.: Starting or finishing sooner? Sequencing preferences in object transfer tasks. In: Psychological Research. Published online: 23. 4. 2018. DOI: 10.1007/s00426-018-1022-7.

Adam Grant: Why I taught myself to procrastinate. New York Times, 16. 1. 2016

Franz J. Schaudy: Prokrastination – Präkrastination. Eine unheilige Allianz. Referat Interdisziplinäres Symposion „Prokrastination. Psychoanalyse und gesellschaftlicher Kontext“. 26. November 2016 an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU). Online: unter http://www.schaudy.at/.

Edward A. Wasserman, Stephen Brzykcy: Pre-crastination in the pigeon. In: Psychonomic Bulletin & Review, 22/4, 2015, 1130-1134.

David Rosernbaum u.a.: Pre-Crastination: Hastening subgoal completion at the expense of extra physical effort. In: Psychological Science, 25/7, 2014, 1487-1496.

David Burkus: The irresistible allure of pre-crastination. In: Harvard Business Review, 13. August 2014

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2018: Der Ex-Faktor