Vom Schmerz, kinderlos zu sein

​Auf ein Kind zu warten, das nicht kommt, verursacht großes Leid. Oft setzen Paare vergebens auf die Reproduktionsmedizin. Ein Plan B kann helfen.

Eine Frau hält einen gestreiften Stoffaffen vor ihr Gesicht aus Schmerz über ihre Kinderlosigkeit
Ungewollte Kinderlosigkeit bedeutet für Betroffene häufig eine große Belastung. © plainpicture

 Professor Wischmann, wir haben über 130 Reproduktionskliniken in Deutschland, und es werden immer mehr. Warum ist der unerfüllte Kinderwunsch so ein großes Thema?

Es ist für Frauen im Alter von 35 bis Ende 30 und ihre Partner, die sich damit auseinandersetzen, ein großes Thema. Etwa jedes dritte Paar ist kinderlos und jedes zwölfte Paar ungewollt kinderlos.

Aber es beschäftigt doch auch Frauen, die älter sind als 40, und Männer möglicherweise sogar bis ins höhere Alter.

Das stimmt, der…

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die älter sind als 40, und Männer möglicherweise sogar bis ins höhere Alter.

Das stimmt, der Kinderwunsch hat sich verschoben. Frauen und ihre Partner fühlen sich jünger, als sie sind. Aber aus biologischer Sicht ist das faktische Alter der Eizellen das entscheidende Kriterium für die Fruchtbarkeit. Ältere Frauen sind aber der Meinung, wenn sie sich die Eizellen mit Ende 30 einfrieren lassen – man nennt das social freezing –, weil sie keinen Partner haben oder ihr Partner keinen Kinderwunsch hat, hätten sie fünf bis zehn Jahre später noch eine gute Chance, schwanger zu werden. Das ist leider eine Illusion.

Aber bei einigen Prominenten wie Caroline Beil und Halle Berry hat es doch geklappt.

Es wird fast nie erwähnt, dass meist eine Eizellspende in Anspruch genommen wurde, die in Deutschland nicht erlaubt ist. Wenn eine Moderatorin mit 50 ihr zweites Kind bekommt, ist es wahrscheinlich, dass sie diese Behandlungstechnik im Ausland genutzt und dafür einige tausend Euro in die Hand genommen hat.

Wann wird ein unerfüllter Kinderwunsch zur Belastung?

Vor 50 Jahren wurde Kinderlosigkeit schicksalhaft angenommen. Inzwischen gibt es durch die Reproduktionsmedizin Möglichkeiten, die Fortpflanzung zu optimieren. 70 Prozent der Paare, die ungewollt kinderlos sind, nehmen die Diagnostik und teils auch Behandlungen in Anspruch. Das führt dazu, dass Paare denken: Die Medizin bietet so viele Möglichkeiten, warum klappt das bei uns nicht? Dadurch wird der Leidensdruck relativ groß.

Ist also die Reproduktionsmedizin schuld?

Sie führt bei vielen Menschen zur falschen Vorstellung, Fortpflanzung sei planbar, so wie die Verhütung auch. Hinzu kommt die Eigendynamik der Reproduktionsmedizin: Paare durchlaufen üblicherweise eine Kette verschiedener Behandlungen. Das fängt an mit der Insemination. Wenn das nicht klappt, kommt die klassische künstliche Befruchtung, dann die ICSI-Befruchtung, bei der das Spermium in die Eizelle injiziert wird. Viele Krankenkassen zahlen drei Behandlungszyklen der künstlichen Befruchtung. Das setzt häufig eine Spirale in Gang, die ­Paare jahrelang beschäftigen kann.

Wo liegen die Probleme genau? Sind es die Belastungen infolge der ständigen Hormonbehandlungen und Eingriffe?

Natürlich sind das keine risikolosen und beschwerdefreien Eingriffe. Und die Behandlungen bedeuten: Termine, Stress, manchmal Schmerzen, immer wieder Hoffen, Bangen. Das zermürbt. Ein Drittel bis die Hälfte der Paare durchläuft nicht die drei Zyklen, die einige Krankenkassen komplett bezahlen würden. Diesen Paaren ist die Achterbahn der Gefühle zu viel. Hinzu kommt, dass manche Paare ins Ausland reisen, um dort Behandlungen in Anspruch zu nehmen, die hier nicht erlaubt sind. Dann kann eine Frau zehn, fünfzehn Jahre mit dem Versuch, ein Baby zu bekommen, verbringen.

Wie äußert sich die Belastung bei den Paaren?

Die Stimmung ist getrübt. Sie sind etwas ängstlicher, weil sie nicht wissen, ob und wann es mit dem Kinderkriegen klappt. Sie sind mutloser. Frauen achten vermehrt auf körperliche Veränderungen, auf jedes Ziehen im Unterleib und sorgen sich darum.

Kann dieses sehnliche Warten auf ein Kind psychisch krank machen?

In sehr seltenen Fällen kann sich eine Depression daraus entwickeln. Dass zunächst eine depressive Reaktion bei beiden Geschlechtern auftritt, ist aber gewöhnlich, fast immer vorübergehend und nicht behandlungsbedürftig. Wenn die Paare sozial isoliert sind und das Thema nur mit sich ausmachen, ist das Risiko der Belastung höher. Es beugt vor, wenn Paare sich Verwandten und guten Freunden mitteilen.

Wen erschüttert ein unerfüllter Kinderwunsch besonders?

Es gibt zwei Gruppen: Frauen und Männer, bei denen bisher alles nach Plan verlief: Wunschberuf, Haus gekauft, und dann wird die Verhütung abgesetzt. Auf einmal klappt das nicht. Diese Paare sind geschockt. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass etwas nicht nach Plan läuft. Dann gibt es das andere Extrem. Diese Personen – meist die Frauen – haben sich immer alles erkämpfen müssen: Berufsausbildung gegen den Willen der Eltern, schwierige Partnerschaft und jetzt das. Für sie ist der unerfüllte Kinderwunsch eine wiederholte Kränkung, ein erneutes Scheitern droht.

Welche Rolle spielen vergangene Fehlgeburten?

Das ist ein ganz wichtiges Thema, weil es immer eine Belastung für beide Partner ist. Die Medizin kann in der Hälfte der Fälle keine Gründe feststellen, weshalb das Kind nicht lebensfähig war. Diese Paare nehmen alles – noch mehr als andere – wie unter dem Mikroskop wahr, wenn sie sich reproduktionsmedizinisch behandeln lassen. Die Frau beobachtet ihren Körper akribisch, wissend, dass jede Blutung das Ende des Behandlungszyklus bedeutet. Und leider ist das Risiko einer Fehlgeburt bei reproduktionsmedizinischer Behandlung etwas erhöht.

Reagieren Männer und Frauen unterschiedlich?

Frauen wissen durch ihren monatlichen Zyklus um die Möglichkeit, schwanger zu werden. Und sie reagieren meist gefühlsmäßiger. Männer leiden genauso unter einer ungewollten Kinderlosigkeit. Aber sie zeigen das oft nicht so, auch um ihre Partnerin zu schützen. Sie möchten gern ein Problem lösen, und das können sie nicht. Sie fühlen sich dann hilflos. Ist der Mann zeugungsunfähig, fühlt er sich nicht selten in seiner Gesamtidentität eingeschränkt. Wenn ein Mann im Freundeskreis erzählt, dass er nicht zeugen kann, muss er sich auch heute noch auf abfällige Bemerkungen einstellen.

Sie bieten psychologische Beratungen bei unerfülltem Kinderwunsch an. Beraten Sie das Paar oder nur die Frauen?

Ich berate in 95 von 100 Fällen Paare. Das können heterosexuelle oder lesbische Paare sein. Paarberatung ist der Goldstandard, weil zur Bewältigung beide Partner nötig sind. Dann können sie sich gegenseitig unterstützen. Es kommen allerdings zunehmend auch Frauen mit Kinderwunsch, die ohne Partner sind.

Wie können Sie helfen?

Erst einmal müssen alle Gefühle und Gedanken auf den Tisch. Es geht darum, diese auszusprechen und als normal anzuerkennen. Wenn eine Frau neidisch ist auf die schwangere Kollegin, sage ich: „Sie können darüber doch auf der Heimfahrt im Auto fluchen.“ Auch Groll gegen den Partner, weil der lange kein Kind wollte, sollte ausgesprochen werden, sonst rumort es im Hinterkopf.

Was durchleben die Paare typischerweise?

Die Paare merken, wie es ihnen eine Menge ausmacht, dass sie auf natürliche Weise noch kein Kind bekommen haben. Und sie erfahren, dass Freunde hilflose Ratschläge geben, wie „entspannt euch mal“. Wenn ich sage: „Das erleben alle so. Das ist ganz normal“, ist das die halbe Miete. Der Leidensdruck nimmt ab.

Aber Sie sagen auch, dass die Reproduktionsmedizin selbst Leid verursacht. Versuchen Sie den Paaren die Behandlung auszureden?

Ich spreche immer auch über Adoption und Pflegschaft und gebe Tipps, wo sich die Paare informieren können. Es gibt dazu immer noch falsche Vorstellungen. Den Pflegeeltern wird nicht plötzlich irgendwann das Kind weggenommen. Im Mittelpunkt steht zunehmend das Kindeswohl.

Die meisten wollen aber unbedingt ein eigenes Kind, oder?

Das ist für viele die erste Option. Dabei ist mir wichtig: Die Erfolgsaussichten der Reproduktionsmedizin müssen realistisch eingeschätzt werden. Viele Zentren werben mit den Schwangerschaftsraten, aber die Lebendgeburtenraten liegen um zehn Prozentpunkte niedriger. Nach drei Zyklen einer künstlichen Befruchtung ist immer noch die Hälfte der Paare ohne Kind. Deshalb ist ein Plan B so wichtig. Viele denken aber, nur wenn sie fest an den Erfolg glauben, klappt es.

Die Einstellung und das seelische Befinden beeinflussen die Chance auf eine Schwangerschaft nicht?

Das stimmt für sportliche Erfolge, aber nicht für die Fortpflanzung. Ob man gestresst, entspannt oder fest entschlossen ist, spielt keine Rolle. Ich betone das, weil viele Paare auch paramedizinische Angebote in Anspruch nehmen. Diese verunsichern sie dann oft sehr.

Inwiefern? Eine Schwangerschaftsmassage schadet doch nicht.

Solche Angebote wirken sich allen Studien zufolge nicht nachweisbar auf die Schwangerschaftswahrscheinlichkeit aus. Wenn man das Geld und die Zeit und den Kopf frei hat, kann man das machen. Problematisch wird es, wenn semiprofessionelle Berater behaupten, es klappe nicht mit dem Kinderkriegen, weil das Paar nicht zusammenpasst. Diese Schuldzuweisung belastet die Beziehung.

Wie gehen Sie mit illegalen Möglichkeiten um, zu einem Kind zu kommen – konkret mit der Leih­mutterschaft oder der Eizellspende im Ausland?

Ich betone, dass das Kind eine Chance haben muss, die biologischen Wurzeln zu kennen, sonst ist das Kindeswohl gefährdet. Diese Chance ist bei der anonymen Eizellspende in Spanien und der Tschechischen Republik nicht gegeben. Die Leihmutterschaft ist ethisch sehr umstritten, weil in sehr vielen Ländern die finanzielle Not der Frauen ausgenutzt wird.

Zurück zu den betroffenen Paaren: Sie sagen, es sei wichtig, einen Plan B zu entwerfen. Wie kann sich ein Paar darauf einlassen, wenn doch alle Sehnsucht einem Baby gilt?

Erst einmal können sich viele das gar nicht vorstellen. Aber ein Plan B ist oft das, was den Paaren rückblickend am meisten geholfen hat, die Krise zu meistern. Insbesondere die Frauen, die die medizinischen Schritte auf sich nehmen, können sich nicht ausmalen, was für eine zermürbende Prozedur das im Einzelfall sein kann. Damit ein Paar nicht in einen Strudel der Reproduktionsmedizin gerät, ist es enorm wichtig, dass es sich von vornherein Grenzen setzt. Ich empfehle, Fahrpläne zu erstellen, in denen steht, zu diesem Datum hören wir mit den Behandlungen auf. Und dann kommt Plan B zum Zug.

Wie kann Plan B beispielsweise aussehen?

Ganz unterschiedlich, vielleicht eine Weltreise zu machen. Häufig werden auch berufliche Veränderungen angegangen, etwa eine Weiterqualifikation. In einem Fall engagierte sich ein kinderloser Mann ein Jahr lang für Ärzte ohne Grenzen. Andere sind in der Jugendarbeit ehrenamtlich tätig oder gehen in der Rolle als Tante oder Onkel auf.

Birgt der Plan B Sprengstoff für die Beziehung?

Partnerschaften, die mit einem unerfüllten Kinderwunsch konfrontiert sind, entwickeln sich zumeist stabiler. Beide haben gemeinsam eine existenzielle Krise bewältigt. Das schweißt zusammen.

Wie integriert man die Kinderlosigkeit längerfristig in sein Leben?

Indem die Aufmerksamkeit nicht mehr auf dem Mangel, auf dem Unerfüllten liegt, sondern eine allmähliche Umorientierung zu den Vorzügen des kinderlosen Lebens stattfindet. Reisen, ehrenamtliches Engagement, intensive Hobbys – viele Interessen können ausgelebt werden, die mit Kindern kaum Raum haben würden. Da die meisten Paare in der Behandlung bis an ihre Grenzen gehen, brauchen sie sich später keine Vorwürfe zu machen, nicht alles probiert zu haben. Das hilft, den Schicksalsschlag der ungewollten Kinderlosigkeit besser annehmen zu können und das Leben neu auszurichten.

Hilft eine Trauerphase?

Eine Trauerphase ist sogar unerlässlich: Die psychische Energie muss ja aus dem „Projekt Kinderwunsch“ wieder abgezogen werden, bevor sie in neue Ziele fließen kann. Im Allgemeinen dauert das eher Jahre als Monate. Sehr hilfreich können dabei Rituale des Abschieds sein, etwa alle Schwangerschaftsratgeber in eine Kiste zu packen, vielleicht einen Trauerbrief beizulegen und dann den Karton in den Keller zu räumen.

Wie wichtig ist Ablenkung gegen den Schmerz, kinderlos zu bleiben?

Ablenkung tut während der reproduktionsmedizinischen Behandlung gut, um die Gefühlsachterbahn ein wenig einzudämmen. Das kann ein Haustier sein oder die Wiederaufnahme eines Hobbys. In der Trauerphase nützt sie allerdings kaum. Hier geht es um Konfrontation mit dem Nicht-Erreichten. Erst danach geht es wieder aufwärts.

Bleibt eine seelische Wunde zurück?

Ich spreche von einer Narbe, und diese kann auch noch einmal schmerzen. Etwa in der Phase, wenn andere Großeltern werden. Auch das ist normal und stellt keinen Grund zur Beunruhigung dar.

Methoden der Fruchtbarkeitsmedizin

Social freezing meint das Entnehmen und Einfrieren von ­Eizellen. Ob das tatsächlich die Chance auf ein Kind bei ­nachlassender Fruchtbarkeit erhöht, ist nicht belegt. Social freezing ist ein kostenpflichtiges Angebot der Reproduktionskliniken.

Die In-vitro-­Fertilisation (IVF) ist die klassische Methode der künstlichen Befruchtung. Die Frau wird hormonell stimuliert, so dass mehrere Eizellen gleichzeitig reifen. Diese entnimmt der Arzt unter örtlicher Betäubung und bringt drei von ihnen mit den Spermien des Mannes in einer Glasschale zusammen. Alle befruchteten Eizellen werden dann in die Gebärmutter der Frau eingepflanzt.

Bei der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) wird eine Samenzelle im Labor mit einer ­feinen Nadel direkt in die Eizelle injiziert. ­Alle übrigen Behandlungsschritte sind identisch zur IVF.

Tewes Wischmann ist außerplanmäßiger Professor der Universität Heidelberg und Psychologischer Psychotherapeut. Er leitet die Arbeitsgruppe „Gynäkologische Psychologie“ und die Kinderwunsch-Sprechstunde am Universitätsklinikum Heidelberg

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille