Sich der Welt öffnen

Intensiv leben, Risiken eingehen: Die Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle plädiert in ihrem Buch „Lob des Risikos“ für das Ungewisse.

Anne Dufourmantelle liebte das Verborgene, die Stille, das Geheimnis. 2015, noch zu ihren Lebzeiten, erschien in Frankreich ihr Buch Défense du secret, die Verteidigung des Geheimnisses, in dem sie auch auf die Funktion des Analytikers zu sprechen kommt. Psychoanalytiker zu werden bedeute, sich auf die Seite des Geheimnisses zu begeben. Gegen die Tendenz unserer Zeit, alles offenzulegen, plädierte sie für Intimität – und für das Risiko. Denn nur wer ein Risiko eingehe, stoße in unbekannte Räume vor, setze das Sein aufs Spiel.

Im Sommer 2017 setzte die 53-jährige Psychoanalytikerin diesen Gedanken bis zur letzten Konsequenz um: Bei dem Versuch, zwei Kinder vor dem Ertrinken zu retten, riskierte sie ihr Leben – und verlor. Vor diesem Hintergrund gewinnen ihre Gedanken eine besondere Intensität. 2011 bereits erschien ihr Buch Éloge du risque, das nun bei uns als Lob des Risikos vorgelegt wird.

Im Zentrum steht die These, dass nur der lebendig ist, der intensiv lebt und deshalb etwas riskiert. Die Autorin grenzt sich scharf ab von einem albernen Verständnis des Risikos in Form eines Nervenkitzels und von einer Gesellschaft, die dem Vorsorgeprinzip huldigt und gleichzeitig Zukunftsangst schürt. Das Gegenteil des Vorsorgeprinzips sei, „das Risiko, die Verantwortung für einen anderen auf sich zu nehmen“. Sein Leben zu riskieren bedeute auch, sich einem „Sterben zu Lebzeiten“ zu verweigern, das durch viele Formen des Verzichts und eine schleichende Depression gekennzeichnet sei. „In der Intensität des Gelebten (aber) liegt ein unendlicher Zugewinn an Zeit.“

Offen für alles Kommende

In 50 kurzen Kapiteln, Essays, Gedankensplittern, Meditationen, sozialkritischen Analysen und meist knappen, in die Texte verwobenen psychoanalytischen Fallstudien umkreist die Autorin ihr Thema. Jeder Text ist in sich abgeschlossen. So werden etwa die Risiken der Liebe, der Leidenschaft, der Knechtschaft oder der Freiheit und Einsamkeit beleuchtet. Oft kommt sie zu überraschenden Einsichten, etwa wenn sie über Traurigkeit reflektiert. Traurigkeit sei weder Verzweiflung noch Gleichgültigkeit, sie lasse uns zwischen zwei Welten schweben. „Sie gleicht einem eleganten Spaziergang am Abgrund der Katastrophe, wie ein Kind, das an einer Felsklippe entlangläuft, ohne die Gefahr zu ahnen.“

Traurigkeit zu riskieren sei etwas anderes, als in Melancholie zu versinken. Traurigkeit gleiche eher der Müdigkeit, „dieser Krankheit unserer Zeit“. Wir sollten verstehen, dass die Traurigkeit eine heimliche Doppelgängerin der Glückseligkeit sei, weil sie ermögliche, dass wir „offen werden für alles Kommende“.

Anne Dufourmantelle hinterließ ein umfangreiches Werk. Sie riskierte mehrere Berufswechsel, war auch als Philosophin, Journalistin, Literatin und Verlegerin erfolgreich. Sie hat „uns geholfen, zu leben und über die heutige Welt nachzudenken“, so die französische Kulturministerin Françoise Nyssen nach ihrem tragischen Tod. Ihr Buch bestätigt diese Einschätzung. Weshalb diese Autorin hierzulande kaum wahrgenommen wurde und wird, bleibt unverständlich.

Anne Dufourmantelle: Lob des Risikos. Ein ­Plädoyer für das Ungewisse. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau, Berlin 2018, 315 S., € 20,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2019: Zwischen Liebe und Pflichtgefühl
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