Gesunde Schönfärberei

Eine rosarote Brille hilft uns, unsere Talente und unsere Liebsten zu überschätzen, taucht die Vergangenheit in ein positives Licht. Ein Makel?

Stellen Sie sich vor, Sie wollen in ein altes, verwinkeltes Haus ein modernes Bad einbauen lassen, und das möglichst schnell. Sie laden hintereinander zwei Handwerksmeister zur Besichtigung ein und fragen jeden der beiden, wie lange er für die Durchführung braucht. Der eine wägt sorgfältig die vielfältigen Hürden ab und schätzt vorsichtig: vier Wochen. Der andere stellt in Aussicht, das komplizierte Renovierungsprojekt innerhalb von zwei Wochen zu beenden, ein offenkundig illusorisches Versprechen. Welchen…

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innerhalb von zwei Wochen zu beenden, ein offenkundig illusorisches Versprechen. Welchen Handwerker wählen Sie?

Wer sich für den zweiten Kandidaten entscheidet, wird möglicherweise schneller zu einem neuen Badezimmer kommen, wenn man der Studie von zwei amerikanischen Forschern glaubt. Danach kann einem in schwierigen Situationen ein bisschen Wunschdenken einen produktiven Schub verleihen. In der Untersuchung waren die optimistischsten Teilnehmer zwar die am wenigsten akkuraten – sie brauchten für die Aufgabe (einen anspruchsvollen Test zum verbalen, mathematischen und logischen Denken ausfüllen) deutlich länger, als sie prognostiziert hatten. Gleichzeitig gelangten sie aber schneller zum Ziel als Probanden, die ihren Zeitbedarf zutreffender eingeschätzt hatten.

Selbstbetrug hat einen negativen Beigeschmack. Man denkt an Drogenabhängige, die behaupten, jederzeit aufhören zu können; an kriminelle Manager, die im Gefängnis landen, weil sie sich für unantastbar hielten, oder an Opfer häuslicher Gewalt, die sich ihre Situation schönreden. In der Tat ging man in Psychologie und Psychiatrie lange Zeit davon aus, dass psychische Gesundheit einen engen Bezug zur Realität verlangt. Man glaubte, um erfolgreich und zufrieden durchs Leben zu gehen, müsse ein Mensch in der Lage sein, sich selbst nüchtern zu sehen.

In den letzten Jahren aber haben Psychologen, Verhaltensökonomen und Neurowissenschaftler eine Reihe von Vorzügen der „rosaroten Brille“ entdeckt. In vielen Situationen, so belegen Studien, kann ein Schuss Schönfärberei durchaus vorteilhaft sein. Nicht nur das: Man weiß heute, dass jeder sich manchmal selbst belügt, unterstreicht Caroline Keating von der Colgate-Universität im Bundesstaat New York, die seit mehr als zwanzig Jahren zu diesem Thema forscht. „Der Mensch scheint mit einem Hang zum Selbstbetrug geboren zu sein.“

Die menschliche Fähigkeit, sich positive Illusionen zu machen, ist in der Tat phänomenal. Wir glauben, überdurchschnittlich gute Autofahrer zu sein, selbst wenn unsere Unfallbilanz dagegen spricht. Wir halten uns auch für besser aussehend, als wir tatsächlich sind. Wenn Leute aus einer Reihe von Fotos das Bild auswählen sollen, das sie am genauesten trifft, greifen die meisten zur attraktivsten Aufnahme, auch wenn diese künstlich aufgehübscht ist. Wir verklären unsere Vergangenheit und reden uns die Zukunft schön. Die Menschen in unserer Umgebung sehen wir ebenfalls in einem vorteilhaften Licht. Nicht nur unsere Liebsten, selbst zufällige Bekannte beziehen wir in unsere geschönte Weltsicht ein und sehen sie positiver als Leute, die nicht mit uns verbunden sind.

Diese Neigung halten Wissenschaftler wie Keating für sinnvoll, weil sie uns hilft, Herausforderungen und Veränderungen zu bewältigen. Wahrnehmung, erläutert die Psychologin, sei kein objektiver Prozess. Wir füllen Lücken auf, denken uns Sachen aus. Aber die Art und Weise, wie wir dies tun, ist nicht zufällig, sondern so, dass wir selbst gut dabei wegkommen. „Diese besondere Art der Wahrnehmung verbessert unsere Leistungsfähigkeit“, so Keating, „insbesondere in stressigen Situationen. Würden wir uns realistischer sehen, könnten wir nicht so viel erreichen.“

Der amerikanische Sachbuchautor und Journalist Joseph Hallinan beschreibt Selbstbetrug als eine Art psychologisches Immunsystem: „Er hilft zum Beispiel lähmende Depressionen abzuwehren.“ Der evolutionäre Auftrag sei, zu überleben und sich durchzusetzen. Selbsttäuschung könne entsprechendes Verhalten unterstützen, weil sie Hoffnung und ein Gefühl der Kontrolle verleiht. „Diese Eigenschaften sind so lebenswichtig, dass viele Forscher Selbstbetrug heute als Facette – und nicht als Fehler – unserer evolutionären Entwicklung ansehen“, erklärt Hallinan.

Wie wirkungsvoll Selbstbetrug ist, zeigt das Beispiel Schulnoten. Eine Reihe von Untersuchungen belegt, dass Menschen dazu neigen, ihre schulischen Leistungen im Rückblick schönzudenken. Man erinnert sich an jede Eins und Zwei, die man jemals hatte, aber Vieren und Fünfen scheinen wie von Geisterhand aus dem Gedächtnis zu verschwinden. In einer Studie konnten Probanden ihre Höchstnoten zu 98 Prozent richtig abrufen, schlechte Noten dagegen nur zu 29 Prozent. Das Resultat: ein deutlich geschöntes Bild der eigenen Fähigkeiten.

Auf den ersten Blick könnte man diese Selbsttäuschung für kontraproduktiv halten. Wer sich für besser hält, als er ist, lässt es möglicherweise an Einsatz vermissen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein, ganz im Gegenteil. Britische und amerikanische Forscher befragten Studenten, wie sie bislang in Schule und Universität abgeschnitten hatten, und verfolgten dann, wie sich ihre Noten in den nächsten Monaten entwickelten. Jene Studenten, die ihr bisheriges Abschneiden hochgespielt hatten, konnten ihre Leistungen bis zum Ende des Semesters deutlich verbessern. Die Erhebung physiologischer Daten zeigte: Die positive Legendenbildung verhalf den Übertreibern zu innerer Ruhe. Während der Interviews über ihre bisherigen Noten synchronisierten sich ihre Atmung und Herzfrequenz, ein Zeichen für emotionale Ausgeglichenheit. Auch neutralen Beobachtern erschienen sie in sich ruhender als die realistischen Kommilitonen. Die eigenen Leistungen zu verklären, schlossen die Forscher, stärkt Zuversicht und Motivation, was wiederum hilft, mit den Herausforderungen des Studiums umzugehen.

Die „versteckten Reize des Selbstbetrugs“, wie Keating es formuliert, können in sehr unterschiedlichen Situationen auftreten. Sie selbst hat eine ganze Reihe davon erforscht. In einer Studie zeigte sich, dass Studentinnen, die auf dem Campus Führungsaufgaben übernommen hatten, stärker zum Selbstbetrug neigten als weniger exponierte Kommilitoninnen. In einer anderen nahmen sich junge Frauen als schlanker wahr, wenn sie an eine romantische Verabredung dachten. Wenn Frauen in Beruf oder Liebe erfolgreich sein wollen, so Keating, tun sie gut daran, eventuell auftauchende negative Gedanken beiseite zu schieben. Kleine Selbstlügen können dabei helfen.

Ähnliches gilt auch im Sport. Selbstbetrug scheint nicht nur von Schmerzen abzulenken, was in Training und Wettbewerb entscheidend sein kann, sondern erlaubt Athleten offenbar auch, Gedanken an ein mögliches Versagen zu blocken. In einem raffinierten Experiment untersuchten Keating und eine Kollegin Studenten, die dem Schwimmteam ihrer Universität angehörten. Mithilfe eines Stereoskops ließen sie vor dem rechten und linken Auge eines Sportlers jeweils ein unterschiedliches Wort auftauchen. Ein Paar bestand aus einem negativen und einem neutralen Begriff (zum Beispiel: fear – hear, lose – nose), und es wurden mehrere Runden durchgeführt. Die entscheidende Frage: Welches der beiden Wörter nimmt ein Proband wahr? Es stellte sich heraus, dass die Sportler, die zu nationalen Wettbewerben zugelassen waren, mehr dazu neigten, die neutralen Wörter zu sehen und die negativen auszublenden, als Schwimmer, die nicht so erfolgreich waren. Die Studie könne nichts über Kausalität aussagen, räumt Keating ein: „Aber die Ergebnisse sind mit der These vereinbar, dass Selbstbetrug Motivation und Leistung in kompetitiven Situationen erhöht.“

Allerdings ist es keineswegs so, dass Selbstillusionen immer förderlich sind. Hallinan vermutet, dass Situationen, in denen Selbstbetrug schadet, sogar zahlreicher sind als Situationen, in denen er nützt. In seinem Buch schildert er beispielsweise die Gefahren in Machtpositionen. So neigen Leute an der Spitze dazu, systematisch zu überschätzen, wie sehr ihre Untergebenen sie respektieren und unterstützen. Auf dem Weg in die Chefetage scheinen sie zu vergessen, wie man subtile Signale anderer liest. In einem Experiment konnten Vorgesetzte, die einen Witz erzählten, nicht unterscheiden, ob die Zuhörer echt oder aufgesetzt lachten. Weil Macht die Sensitivität gegenüber anderen abstumpfen lässt, sei es nicht erstaunlich, meint Hallinan, dass sie oft zu ignorantem, rüpelhaftem und dummem Verhalten führt. Mit fatalen Folgen, wie die zahlreichen Beispiele von gescheiterten Topmanagern und Politikern zeigen.

Wenn es um die körperliche Gesundheit geht, kann Irrationalität sogar tödlich sein, man denke nur an Raucher, die sich vormachen, sie hätten eine Konstitution wie Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, der – obwohl starker Raucher – inzwischen 96 Jahre alt ist. Erstaunlicherweise sind auch Gesundheitsprofis vor solchen gefährlichen Selbstlügen nicht gefeit. Ärzte und Pfleger, so zeigen Studien, waschen ihre Hände im Schnitt nur halb so oft, wie es notwendig wäre. Der Grund: Sie glauben, Bakterien und Viren könnten ihnen weniger anhaben als anderen Leuten!

Und doch gibt es Situationen, in denen Illusionen über körperliche Stärke geradezu lebensverlängernd wirken. In einer Studie mit Aidskranken, die nur eine geringe Lebenserwartung hatten, zeigten Patienten, die ihr Leiden ignorierten und sich weigerten, einem potenziell nahen Tod ins Auge zu sehen, einen besseren Krankheitsverlauf als jene mit weniger illusionären Einstellungen. Wer realistisch war und seine Erkrankung akzeptierte, starb im Schnitt neun Monate früher als die übermäßig optimistischen Kranken. Vergleichbare Muster fanden sich bei HIV- und Brustkrebspatienten.

Selbstüberschätzung hilft offenbar, mit dem enormen psychischen Druck während einer lebensbedrohlichen Krankheit umzugehen, was den Körper entlastet. Wie dies funktioniert, zeigt eine Studie mit gesunden Menschen: Bei Probanden, die zu Selbstaufwertung neigten, stiegen während Stresstests (unter Zeitdruck rückwärts zählen, vor einer Kamera über schwierige Themen sprechen) Herzrate und Blutdruck deutlich weniger an, und sie erholten sich schneller als Teilnehmer mit einem realistischeren Selbstbild.

Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen können positive Illusionen erstaunlich hilfreich sein. Es ist nicht nur ein Klischee, dass viele Eltern ihre Kinder für die hübschesten und intelligentesten halten. Unrealistisch positive Einschätzungen sind unter Müttern und Vätern weit verbreitet, insbesondere unter jenen, die sich selbst für überdurchschnittlich halten. In einer Studie mit Eltern von Zwei- bis Fünfjährigen gaben 90 Prozent an, ihr Nachwuchs habe mehr positive Eigenschaften als ein durchschnittliches Kind; 80 Prozent attestierten ihm weniger negative Attribute. Aussagen wie „Mein Kind ist nahezu perfekt“ hörten die Wissenschaftler häufig. Das mag weltfremd sein, dennoch – oder gerade deshalb – tut es dem Familienleben gut. So zeigte sich eine interessante Dynamik: Je positiver die Eltern sich selbst sahen, desto mehr idealisierten sie ihr Kind. Wer ein geschöntes Bild von Sohn oder Tochter hatte, war wiederum zufriedener mit seiner Beziehung zum Kind –was der elterlichen Selbsteinschätzung weiteren Auftrieb verlieh. Ein positiver Teufelskreis.

Den scheint es auch zu geben, wenn man den Gatten oder die Gattin ein wenig verklärt. Die Forscherin Sandra Murray von der Universität Buffalo und Kollegen verfolgten 220 frischverheiratete Paare über drei Jahre. Die Gefühle von Erfüllung ließen über diesen Zeitraum insgesamt erkennbar nach. Eine unvermeidliche Entwicklung nach den ersten euphorischen Wochen, könnte man meinen. Doch das Eheglück nahm nicht überall gleichermaßen ab. So schien die Idealisierung des Partners aufkommende Unzufriedenheit abfedern zu können. Jene Probanden, die ihre Liebsten zu Beginn am meisten schöngefärbt hatten, erlebten sogar keinerlei Abstieg von Wolke sieben. Mehr noch: Die Zufriedenheit färbte auf die in den Himmel Gehobenen ab. Wen der oder die Liebste idealisierte, war mit der Beziehung zufriedener als jene, die mit nüchternen Partnern zusammenlebten.

Selbstbetrug ist also eine Ressource. Forscherin Keating ermuntert, sich nicht zu scheuen, die rosarote Brille aufzusetzen. Negative Gedanken wegzudrängen könne einem in bestimmten Situationen helfen, mehr zu leisten. Allerdings warnt sie: „Wenn man sich dauerhaft und in wichtigen Fragen selbst belügt, kann das großen Ärger bringen.“ Hallinan sieht das lockerer. Ebenso wie der Körper reguliere sich die Psyche selbst, ohne dass man sich ständig hinterfragt. „Man braucht nicht immer und überall realistisch zu sein. Wenn man sich belügt, wie intelligent, attraktiv oder reich man ist, muss das nichts Schlechtes sein.“ Als faktenorientierter und überkritischer Journalist habe ihn diese Erkenntnis selbst überrascht, sagt er: „Aber der Glaube, überlegen zu sein, macht oft tatsächlich überlegen.“

Literatur

  • J. Hallinan: Kidding ourselves. The hidden power of self-deception. Crown Publishing, New York 2014

  • J. Starek, C. Keating: Self-deception and its relationship to success in competition. Basic and Applied Social Psychology, 12, 2/1991, 145–155

  • S. Murray u. .: Tempting fate or inviting happiness? Unrealistic idealization prevents the decline of marital satisfaction. Psychological Science, 22, 5/2011, 619–626

  • S. Taylor u. .: Are self-enhancing cognitions associated with healthy or unhealthy biological profiles? Journal of Personality and Social Psychology, 85, 4/2003, 605–615

  • S. Taylor, J. Brown: Illusion and well-being: A social psychological perspective on mental health. Psychological Bulletin, 103, 2/1988, 193–210

Formen des Selbstbetrugs

Der Begriff „positive Illusionen“ geht auf die Sozialpsychologin Shelley Taylor zurück. In einem vielzitierten Artikel von 1988 beschrieben die mittlerweile emeritierte Professorin von der Universität Kalifornien (Los Angeles) und ihr Kollege Jonathan Brown drei verbreitete Formen von Selbstbetrug, bei denen Menschen sich und ihre Situation geschönt sehen:

Unrealistisch positive Selbsteinschätzung: Die meisten Leute schreiben sich eher positive als negative Eigenschaften zu. Sie halten sich für besser und leistungsfähiger als der Durchschnitt (above average effect) und erinnern ihre Erfolge leichter als ihre Misserfolge. Fähigkeiten, in denen sie nicht brillieren, spielen sie als unwichtig herunter und nehmen Fortschritte wahr, wo keine sind.

Kontrollillusion: Hierunter versteht man den Glauben, mehr Einfluss über eine Situation zu haben, als es der Realität entspricht. So meinen viele, sie schnitten bei einem Spiel besser ab, wenn sie selbst würfeln, anstatt jemand anderes für sich würfeln zu lassen, obwohl das eine Ergebnis genauso zufällig ist wie das andere.

Übertriebener Optimismus: Menschen neigen dazu, übermäßig zuversichtlich in ihre Zukunft zu blicken. So glauben sie, ihre Chance, positive Erfahrungen zu machen (den ersten Job zu mögen, ein gutes Gehalt zu erzielen, ein begabtes Kind zu haben), sei höher als bei anderen. Und andersherum halten sie es für weniger wahrscheinlich, dass ihnen etwas Unangenehmes passiert, sei es Opfer einer Straftat zu werden, in finanzielle Probleme zu geraten oder depressiv zu werden.

Diese Illusionen, argumentierten Taylor und Brown, sind nicht etwa ein Zeichen für mentale Probleme, sondern im Gegenteil charakteristisch für eine funktionierende Psyche. Als Indiz führten sie Studien an, nach denen Depressive und Menschen mit Selbstwertproblemen einen weniger positiv gefärbten Blick haben. Dies lasse Zweifel an der Vorstellung aufkommen, Realismus und mentale Gesundheit gingen zwingend Hand in Hand. Auch andere Belege sprächen dafür, dass positive Illusionen – sofern sie nicht in exzessivem Maß auftreten–förderlich sind. Sie erhöhten die Lebenszufriedenheit, erleichterten es, sich um andere zu kümmern, und förderten Kreativität und Produktivität im Beruf. Auch wenn diese Argumentation nicht unwidersprochen blieb, gilt die Veröffentlichung von Taylor und Brown bis heute als wegweisend und regte zahlreiche Studien über Selbstbetrug und seine Vor- und Nachteile an.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2015: Nichtstun