Der Tristesse entgehen

Die Zeit scheint stillzustehen, wir sind gelangweilt, reagieren genervt. Warum ist das so? Und was können wir dagegen unternehmen?

Die Illustration zeigt einen Mann der sich aus Langeweile mit einem Stift einen Kopf zeichnet
Kritzeln – ein Zeichen von Langeweile. Ein Gefühl, das nicht nur bei Unterforderung ausgelöst wird. © Joni Mayer

Im Stau nach Feierabend. In der Schlange zur Supermarktkasse. In drögen Konferenzen. Sogar beim Fernsehen. Jeden Tag langweilen wir uns: Manchmal nur Minuten, manchmal ganze Stunden. Die Anzeichen sind immer ähnlich: Der Blick schweift ab, die Gedanken wandern, mit dem Stift entstehen Kritzeleien auf einem Blatt. Die Zeit vergeht einfach nicht. Doch wieso erleben wir dieses dumpfe Gefühl überhaupt? Was sind das für Momente, in denen wir gern woanders wären, was anderes täten, uns einfach nur angeödet fühlen? Und was kann man dagegen tun?

Die Psychologin Erin Westgate und Timothy Wilson sind dem Phänomen in mehreren Studien an der Universität ­Virginia empirisch nachgegangen und haben die Forschung gesichtet. Sie sagen: Menschen langweilen sich, wenn sie sich entweder unfähig fühlen oder unwillig sind, sich einer Aufgabe zuzuwenden. Und: Nicht nur zu wenig Anspruch oder Aufregung, auch zu viel davon kann zu Langeweile führen.

Kollidierende Linien

Die Forscher analysierten unter anderem die Befunde aus 14 Untersuchungen, die sich jüngst den möglichen Gründen für Langeweile angenähert haben. Mehr als 1300 Erwachsene lösten online oder in Laboren Aufgaben, die zum Dahinschnarchen waren. Dabei wurde deutlich: Umso weniger sich die Probanden konzentrieren konnten, aber auch umso weniger bedeutsam ihnen die Aufgabe schien, desto langweiliger fanden sie diese. In einem eigenen Experiment mit 216 Studenten überprüften die Forscher diesen Befund. Die Teilnehmer sahen auf einem Bildschirm jeweils zwei Linien und sollten 600-mal durch einen Tastendruck angeben, ob diese kollidieren könnten oder nicht.

Die einen sahen dabei aber nur sehr selten Linien, die kollidieren würden, und dann auch sehr deutliche Fälle. Sie hatten es sehr leicht. Die anderen sahen oft Linien, bei denen weniger klar war, ob sie kollidieren könnten. Gleichzeitig machten die Forscher die Teilnahme an der Studie für einen Teil der Probanden erstrebenswerter, indem sie versprachen, eine Spende für einen wohltätigen Zweck zu tätigen, wenn die Studenten mehr als die Hälfte aller 600 Fälle korrekt lösten. Ihr Ergebnis: Den einen mangelte es an Aufmerksamkeit, weil die Aufgabe zu leicht war. Den anderen fehlte es an Engagement für die Aufgabe – das Linienbewerten erschien ihnen zu unwichtig.

Sogar das Nachdenken über selbstgewählte Themen kann öde sein

Westgate und Wilson wiesen außerdem nach, dass Menschen nicht nur in zu anspruchslosen Situationen, sondern auch bei Überforderung mit Langeweile reagieren. 130 Studenten durchliefen eine mittelschwere Version des Linientests sowie einen weitere, ähnliche Aufgabe. Davon waren die Studenten am ehesten angeödet, wenn sie die Aufgabe zu simpel fanden – aber auch wenn sie ihnen zu schwer erschien.

Die Psychologen stellten außerdem in einer eigenen Studie fest: Sogar das Nachdenken über selbstgewählte und erfreuliche Themen kann man langweilig finden. Ihre Probanden waren zunächst gebeten worden, acht Themen zu notieren, über die sie gerne nachdenken würden. Anschließend wurden sie für sechs Minuten allein gelassen, damit sie dies tun konnten. Einer Gruppe nahmen die Versuchsleiter vorher die Themenliste weg. Diese Teilnehmer berichteten später, das Alleindenken sei langweilig gewesen. Offenbar, dies schlussfolgern die Forscher, war die Aufgabe für diese Teilnehmer zu anspruchsvoll gewesen. Die anderen Probanden dagegen, die ihre Listen behalten hatten, wurden dadurch an ihre Themen erinnert – sie gaben nach den sechs Minuten an, das Sinnieren habe ihnen Spaß gemacht. Für sie stimmte das Anspruchsniveau offenbar.

Nichts zu tun zu haben tut auch mal gut

Langeweile, so die Studienautoren, werde oft als bedrückende Empfindung unterschätzt. Gelangweilte Menschen tun sogar selbstzerstörerische Dinge, um der Tristesse zu entgehen. In früheren Experimenten gaben sich neun von zehn Probanden freiwillig Stromstöße, wenn sie eine Stunde lang ein eintöniges, sich immer wiederholendes Video schauen mussten. Einfach, um sich mit etwas zu beschäftigen. Im Alltag hielten Alkohol, Drogen oder Glücksspiele als solche Maßnahmen her, so Westgate und Wilson; aus vielen Studien sei bekannt, dass eine unterfordernde Arbeit eher dazu verleitet, zum Alkohol zu greifen, um die Langeweile zu dämpfen.

Die Psychologen schreiben: „Langeweile ist ähnlich wie körperlicher Schmerz ein Symptom dafür, dass etwas nicht ganz in Ordnung ist.“ Dieses Symptom lasse sich verstehen und entschlüsseln – und so könne man am besten herausfinden, wie der Zustand beendet werden könnte. Langweilige Tätigkeiten, die sich gerade nicht ändern lassen, könnte man neu bewerten, schlagen die Forscher vor: „Der Stau entschleunigt mich“ oder „Nichts zu tun zu haben tut auch mal gut“. Schlichtweg etwas anderes zu tun, das nicht langweilt, liege natürlich am nächsten. Die Forscher warnen allerdings davor, sich dann nur unterhaltsamen Dingen wie Spielen zuzuwenden. Sie empfehlen, stattdessen auch mal den Geist anzuregen.

Erin C. Westgate, Timothy D. Wilson: Boring thoughts and bored minds: The MAC model of boredom and cognitive engagement. Psychological Review, advanced online publication, 2018. DOI: 10.1037/rev0000097

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2018: Der Ex-Faktor
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