Platon auf dem Display

Im Höhlengleichnis von Platon ist die Natur nur ein Schatten eines quasi Universal-Algorithmus. Diesen gibt es auch im Netz.

Die Illustration zeigt einen großen Baum mit Vögeln und Blumen daneben Sonne und Mond
© Marco Wagner

Meine kleine Tochter, vier Jahre alt, sprang plötzlich wie von einer Tarantel gestochen umher. Sie schrie, sie werde verfolgt, aber da war niemand. Sie deutete auf die Steinplatten des Gehsteigs, und nun sah ich es auch: Hartnäckig war ihr Schatten hinter ihr her. Sie bemerkte ihn zum ersten Mal.

Ich erklärte ihr, was es damit auf sich hat, und dabei wurde mir klar, dass ich selbst immer haarscharf an dem Phänomen vorbeigeschaut hatte. Aber tatsächlich, das Reich der Schatten ist ein selbstverständlicher…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

ein selbstverständlicher Teil des alltäglichen Lebens. Deshalb wird es selten wahrgenommen.

Frühmorgens und später am Tag, wenn die tiefer stehende Sonne die Schatten giraffenartig in die Länge zieht, vor allem aber im prallen Mittagslicht sind die dunklen Gestalten zu beobachten. Sie ziehen mit den Menschen umher und umtanzen sie, fallen übereinander her und stieben wieder auseinander. Die Verursacher ahnen meist nichts von den Dramen, die anders als im richtigen Leben keine bösen Folgen haben.

Eine unsichtbare Lichtquelle

Niemand wird verletzt, alle Zusammenstöße gehen glimpflich aus. Lichtspiele huschen währenddessen über den Boden, die von schaukelnden Blättern im Wind herrühren. Mit dem Sonnenstand verlagern die klarer umrissenen Schatten der stationären Dinge ganz gemächlich ihre Konturen. Messerscharf treten die Umrisse von Gebäuden hervor und verblassen wieder.

Erst im Laufe der Zeit bemerke ich, wie weit die Schatten reichen – und wieder gibt meine Tochter, inzwischen Studentin, den Anstoß dazu. Die Schatten, die sie verfolgen, tauchen jetzt in Platons Höhlengleichnis auf. In einer Vorlesung wird es als bekannt vorausgesetzt, ob ich es ihr erklären könne? Ich erzähle ihr davon, dass Platon im 4. Jahrhundert v. Chr. in seinem Werk Politeia die Menschen mit Höhlenbewohnern verglich, die gebannt auf bewegte Bilder an der Wand starrten und sie für das wahre Leben hielten, da sie ihnen doch klar vor Augen standen. Aber es waren nur Abbilder, schattenhafte Effekte des Feuers, das die unsichtbare Lichtquelle hinter dem Rücken der Unwissenden war.

Die überhimmlische Idee

Es ist das Schicksal von Menschen, sich zu täuschen, wollte Platon damit sagen, und zwar auch außerhalb der Höhle. Auf der ganzen Erde steht uns die Wirklichkeit der Natur vor Augen, die aber ebenfalls nur ein Abglanz ist, Schatten in diesem Sinne. Sie ist nämlich vollständig abhängig vom Licht der Sonne, ohne das kein Grashalm wachsen würde. Und selbst das Sonnenfeuer hielt Platon noch für einen Abglanz, ein Schattenbild der „überhimmlischen Idee“. Die muss er als eine Art von Universal-Algorithmus verstanden haben, der alles im Himmel und auf Erden dirigiert, „Ursache alles Richtigen und Schönen“.

„Puh, sehr theoretisch“, stöhnt die Tochter. „Geht es auch praktischer?“ Klar, sage ich: Wir alle halten Geräte in der Hand, die uns enorm wichtig sind. Deren Displays sind die aktuelle Version der Höhlenwand, über die Schattenbilder laufen. Entscheidend ist die Idee, die die Bilder in Bewegung setzt, der Algorithmus, der sie überhaupt erst erscheinen lässt, von Programmierern mit bestimmten Absichten in Gang gesetzt. Auch das Smartphone selbst war ursprünglich nur eine Idee.

Im Alltag bereiten die Schatten, die etwa beim Gaming auf dem Bildschirm tanzen, viel Freude, aber es wäre wichtig, sich immer wieder zu fragen: Was ist die Idee, die dahintersteckt? Nach welchen Regeln wird hier gespielt? Wer will, dass ich was mache? Um eventuell nach Alternativen zu suchen, denn so wie Regisseure Filme mit anderen Licht-und-Schatten-Spielen produzieren können, sind auch Programme veränderbar.

Datenschatten

Guter Vergleich, meint die Tochter. Was aber ist mit den Datenschatten, die bei allen Bewegungen im Netz entstehen? Diese Schatten sind unsichtbar. All die Daten, die mithilfe von Sensoren, von Cookies, Trackern, Kameras gesammelt und von Algorithmen durchkämmt werden, erlauben viele Rückschlüsse auf den Einzelnen.

Die harmloseste Konsequenz sind zielgenaue Produktempfehlungen auf dem Bildschirm. Weniger harmlos ist das Interesse von Arbeitgebern, Kreditinstituten, Versicherungen, Geheimdiensten, über alle Aspekte der Person Bescheid zu wissen, die für ihr Geschäft wichtig sind. Was verlieren Menschen, wenn sie sich in keine schattige Ecke mehr zurückziehen können?

Die Herrscher der Daten könnten dazu einiges sagen, antworte ich. Sie trachten danach, ihre User vollständig zu durchleuchten, ziehen es selbst jedoch vor, im Verborgenen zu bleiben, wie dies etwa im Film The Circle (2017) nach dem Buch von Dave Eggers zu sehen war. Die Nutzer der Medien müssten stärker darauf pochen: Mein Datenschatten gehört mir!

Eine nostalgische Erinnerung

Nette Idee, sagt die Tochter, aber ob das die übergriffigen Internetkonzerne interessieren würde? Viele Menschen nehmen ihren Datenschatten in Kauf, den sie wissentlich selbst erzeugen. Auch wir führen unser Gespräch bedenkenlos zumindest teilweise per E-Mail und WhatsApp. Was soll daran schlimm sein? Wäre es nicht besser, grundsätzlich zu akzeptieren, dass es eben immer irgendwelche Schatten gibt?

Ich überlege: Ist das so? Tatsächlich kommt bei näherem Hinsehen eine ganze Kunst- und Kulturgeschichte der Schatten ans Licht, die ich ebenso übersehen hatte wie meine Tochter einst die Schatten auf dem Gehsteig. Die platonische Geringschätzung der Schatten hielt Menschen nie davon ab, von ihnen fasziniert zu sein.

Selbst in der Epoche des Streamens suchen Menschen weiterhin Kinos auf, um sich an den Licht-und-Schatten-Spielen an der Wand zu ergötzen, vielleicht eine nostalgische Erinnerung an archaische Zeiten der Geborgenheit, als die Vorfahren im großen Pulk in Höhlen um das flackernde Feuer herum versammelt waren. Am Handschattenspiel versucht sich noch immer jedes Kind. Einer weit zurückreichenden Tradition erfreut sich das Schattentheater in fernöstlichen Kulturen. Ein weltberühmtes westliches Tanztheater wie die Amazing Shadows feiert mit Schattenspielen große Erfolge.

Licht und Schatten

Auch jede Art von Landschaft gewinnt Konturen im Spiel von Licht und Schatten. Eine althergebrachte Redewendung zieht die beiden Phänomene zusammen und spielt mit dem wörtlichen und übertragenen Sinn: Wo Licht ist, ist auch Schatten und umgekehrt. Wird das Licht zu grell, suchen Menschen nach einem schattigen Plätzchen. Wird es dort zu schattig, sehnen sie sich wieder nach dem Licht. Schatten verhelfen dem Licht erst zur Wirkung mit allen Spielarten der Dunkelheit zwischen hellem Grau und tiefem Schwarz.

Gäbe es nur Licht in der Welt, wäre kein Festival of Lights möglich, kein Feuerwerk welcher Art auch immer. Je dunkler es wird, desto wacher werden im Übrigen die Sinne, die dann nicht mehr vom Sehsinn dominiert werden: Ohne Licht hören Menschen besser, schmecken intensiver, riechen präziser, berühren zärtlicher. Auch aus diesem Grund lieben die Liebenden die Nacht.

Zuflucht im Verborgenen

Im Schatten liegen die Geheimnisse verborgen, die ein Mensch nicht preisgeben will, um ungestört in dieser nur ihm bekannten Landschaft wohnen zu können. Die Schattenheimat ist der sicherste Rückzugsort der Welt – sofern die Geheimnisse nicht zur drückenden Last werden, von der er oder sie sich besser befreien würde, sei es durch eine Aussprache, Beichte oder Therapie. Selbst digital, anonymisiert, kann man Geheimnisse loswerden (etwa auf postsecret.com), aber was ist, wenn Hacker die Anonymität aufbrechen und den zugehörigen Namen in alle Welt hinausposaunen?

Auch der, der im Licht um sein Leben fürchtet, sucht sich eine Heimat im Schatten. Daran hielten sich bereits die Ursäugetiere, unsere entfernten, unscheinbaren, nachtaktiven Vorfahren, solange die Dinosaurier den Tag beherrschten. Reste davon kommen heute noch in Menschen zum Vorschein, deren natürliches Habitat die Nacht ist. In der jüngeren Menschheitsgeschichte spielten Schattengesellschaften wie die Freimaurer eine Rolle, die im Geheimen an einer besseren Zukunft arbeiteten, Mozarts Zauberflöte erzählt davon.

Auch heute ziehen Menschen sich in die Schattenexistenz zurück, wenn sie in autoritär regierten Ländern befürchten müssen, verfolgt zu werden. Wie in der Natur lässt sich auch in der Kultur im Schatten das Leben bewahren und ein anderes Leben vorbereiten.

Eine Halbwelt

Ein ungewolltes Schattendasein führen viele, deren bedeutungsvolle Arbeit niemand sieht. In der Schattenwirtschaft wiederum wollen Menschen nicht gesehen werden. Im Darknet tummeln sich Menschen, die sich jeglicher Transparenz entziehen wollen. Im Schatten liegt die „Halbwelt“, nur halb zur Kenntnis genommen von der Welt des Lichts, die sozusagen die Ganzwelt für sich in Anspruch nimmt.

Aber auch das Leben selbst verursacht Schatten in Form von Krankheit, Enttäuschung, Leid und Tod. Moderne Menschen akzeptieren kein unveränderliches Schicksal, keine Schatten in diesem Sinne. Dennoch kann geschehen, was niemand sich ausgesucht hat und niemand nach Belieben zu verändern vermag. In der Oper Die Frau ohne Schatten, die Richard Strauss nach einem Libretto von Hugo von Hofmannsthal komponierte, erscheint die schattenlose Existenz ohne jedes Schicksal sogar gleichbedeutend damit, nicht wirklich Mensch zu sein.

Schatten sind die ständigen Begleiter der Menschen, die, wenn sie „über ihren Schatten springen“, etwas tun, von dem sie dachten, dass sie es nicht können. Bei einem Menschen, der nur noch „ein Schatten seiner selbst“ ist, sind die Umrisse weiterhin erkennbar, sein Licht aber, die Energie seiner Ausstrahlung ist erloschen. Schattenseiten in Beziehungen, wie etwa verborgene Vorlieben, sind nach subjektiver Überzeugung meist beim anderen zu finden.

Seine dunklen Seiten sehen

Aber auch im eigenen Ich ist mit Schattenseiten zu rechnen. Verborgene und verdrängte Anteile der eigenen Persönlichkeit bewusstzumachen, um besser damit umgehen zu können, ist das Anliegen der „Schattenarbeit“ nach Carl Gustav Jung. Statt diese Seiten abzulehnen und zu verleugnen, können sie akzeptiert und möglichst schonend integriert werden („das bin ich“). Ist das unmöglich, drohen die Schatten so übermächtig zu werden, dass sie irgendwann hervorbrechen und einen Menschen ohne sein Wissen und seinen Willen beherrschen.

Wo ist meine Heimat? Nicht im Schattenreich, das mir unheimlich erscheint, und nicht im grellen Licht, das mich blendet. Ich lebe lieber im Hin und Her und folge Epikurs Empfehlung, im Verborgenen zu leben, wie auch Plutarchs Entgegnung, es sei widersinnig, so zu leben, dass nichts davon sichtbar wird. Auf die digitale Welt übertragen heißt das, nur so wenig Daten wie möglich, aber so viel wie nötig zu produzieren. Andere treten entschiedener aus dem Schatten hervor und suchen das Licht, das in digitaler Zeit vor allem in sozialen Medien zu leuchten scheint.

Digitale Abbatare

Dass aber die relative Zurückgezogenheit ein ruhigeres Leben gewährt, bestätigt Benny, der ein B zur Popgruppe ABBA beisteuerte. In einem Gespräch von 2017 bedauerte er nachträglich die Frontfrauen Agnetha und Anni-Frid: „Sie mussten die Songs singen und wurden von den Massen angestarrt. Björn und ich blieben im Schatten.“ Dorthin zogen sich dann beizeiten auch die Frauen zurück. Für ein Comeback auf der Bühne der Welt 2020 wählte die Gruppe die neueste Version der Licht-und-Schatten-Spiele: 3-D-Hologramme mit digitalen „Abbataren“.

Meine Tochter lacht: Wirklich omnipräsent, die Schatten. Besser, sich mit ihnen zu befassen, statt ihnen entfliehen zu wollen. Sie haften am menschlichen Leben wie die Gestalten auf dem Gehsteig. Bedarf das 21. Jahrhundert, kommt mir in den Sinn, vielleicht einer Aufklärung, die Licht in diese Angelegenheit bringt und die Bedeutung der Schatten anerkennt? Die Frage aller Fragen würde sie jedoch auch nicht beantworten können: Sollte der Welt wirklich eine Art von Universal-Algorithmus zugrunde liegen – wer oder was hätte ihn programmiert? Oder anders gesagt: Wie kam es dazu, dass eine Welt aus Licht und Schatten entstand? 

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2020: Ruhe im Kopf