Meine kleine Tochter, vier Jahre alt, sprang plötzlich wie von einer Tarantel gestochen umher. Sie schrie, sie werde verfolgt, aber da war niemand. Sie deutete auf die Steinplatten des Gehsteigs, und nun sah ich es auch: Hartnäckig war ihr Schatten hinter ihr her. Sie bemerkte ihn zum ersten Mal.
Ich erklärte ihr, was es damit auf sich hat, und dabei wurde mir klar, dass ich selbst immer haarscharf an dem Phänomen vorbeigeschaut hatte. Aber tatsächlich, das Reich der Schatten ist ein selbstverständlicher Teil des alltäglichen Lebens. Deshalb wird es selten wahrgenommen.
Frühmorgens und später am Tag, wenn die tiefer stehende Sonne die Schatten giraffenartig in die Länge zieht, vor allem aber im prallen Mittagslicht sind die dunklen Gestalten zu beobachten. Sie ziehen mit den Menschen umher und umtanzen sie, fallen übereinander her und stieben wieder auseinander. Die Verursacher ahnen meist nichts von den Dramen, die anders als im richtigen Leben keine bösen Folgen haben.
Eine unsichtbare Lichtquelle
Niemand wird verletzt, alle Zusammenstöße gehen glimpflich aus. Lichtspiele huschen währenddessen über den Boden, die von schaukelnden Blättern im Wind herrühren. Mit dem Sonnenstand verlagern die klarer umrissenen Schatten der stationären Dinge ganz gemächlich ihre Konturen. Messerscharf treten die Umrisse von Gebäuden hervor und verblassen wieder.
Erst im Laufe der Zeit bemerke ich, wie weit die Schatten reichen – und wieder gibt meine Tochter, inzwischen Studentin, den Anstoß dazu. Die Schatten, die sie verfolgen, tauchen jetzt in Platons Höhlengleichnis auf. In einer Vorlesung wird es als bekannt vorausgesetzt, ob ich es ihr…
Den kompletten Artikel können Sie bei uns kaufen oder freischalten.