Trügerische Kontinuität

Nach dem 30. Lebensjahr ändern wir uns nicht mehr. Christina Berndts Buch bestreitet das vehement und ermutigt, uns Veränderungen zuzutrauen.

Christina Berndt nimmt es mit einem großen Thema auf: dem Selbst und der Frage, „wie wir werden, wer wir sein wollen“, die in diesen Tagen aktueller denn je sein dürfte. Die Autorin behandelt dabei aber keine philosophischen Texte, sondern die Forschungsergebnisse der zeitgenössischen Persönlichkeits- und Sozialpsychologie. Während es lange Konsens schien, dass für die Persönlichkeit eines Menschen spätestens jenseits des 30. Lebensjahrs kaum mehr Entwicklungsspielräume bestehen, zeichnet die aktuelle Forschung ein anderes Bild: Menschen wandeln sich im Verlauf ihres Lebens beständig und stärker, als ihnen das selbst bewusst ist.

Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit der Frage, ob es so etwas wie ein wahres und beständiges Selbst überhaupt gibt. Vieles, was uns an uns selbst als unveränderliche Eigenheit erscheint, beruhe auf einer Konstruktion, die unser Gehirn herstellt. Unsere Erinnerungen werden so ausgewählt und interpretiert, dass sie stets zu unserem aktuellen Selbstbild passen. So fällt uns nicht auf, wie sehr wir uns in Wahrheit verändert haben: In Bezug auf unser Selbst unterliegen wir einer Illusion von Konstanz.

Sozialpsychologische Untersuchungen zeigen zudem, dass viele der scheinbar stabilen Persönlichkeitseigenschaften tatsächlich abhängig vom sozialen Kontext sind: Je nachdem, in welcher sozialen Situation wir uns befinden – etwa im Beruf oder in der Familie –, wandelt sich auch unsere Persönlichkeit. Die Unterschiede sind hier mitunter so groß, als würde man mehrere Personen miteinander vergleichen.

Variantenreiche Ermutigung

Den zweiten Teil des Buches kann man durchaus als eine variantenreiche Ermutigung verstehen, sich Veränderungen des Selbst zuzutrauen. Vorgestellt wird eine Reihe oftmals überraschender Faktoren, die unsere Persönlichkeit beeinflussen können, von der Ernährung bis zu unserem Schlafrhythmus. Entscheidend seien aber letztlich die sozialen Resonanzsysteme, in denen wir uns bewegen: Das Ich setzt sich aus seinen zwischenmenschlichen Beziehungen zusammen. Deshalb verändern wir uns, wenn sich unsere soziale Welt wandelt, und dies im Alter genauso wie in jüngeren Jahren. Hier liegt auch ein Ansatzpunkt für Veränderung, getreu dem Prinzip: Do something different – verändere deine Umgebung, dann verändert sich auch dein Selbst.

Insgesamt kommt dem Buch das Verdienst zu, eine hilfreiche Orientierung in der Vielzahl aktueller Forschungsbefunde auf diesem Feld zu schaffen. Es ist verständlich geschrieben, mit einer Tendenz zum Reportagestil: Es werden immer wieder Wissenschaftler und ihre Ansichten zitiert, was dem Buch Lebendigkeit und Farbe verleiht, auch wenn man in der Vielzahl der Namen manchmal etwas den Überblick verliert. Der Nachteil dieses Panoramastils: An einigen Stellen wünschte man sich eine Vertiefung und weitergehende Einordnung der Forschungsbefunde.

Die Frage „Wie werden wir, wer wir sein wollen?“ kann natürlich auch dieses Buch nicht beantworten. Und das ist gut so, denn – das ist wohl ganz im Sinne der Autorin – diesen Weg muss letztlich jeder für sich selbst finden. Und wer das möchte, wird in diesem Buch einige Anregungen finden.

Christina Berndt: Individuation. Wie wir werden, wer wir sein wollen. Der Weg zu einem erfüllten Ich. Dtv, München 2019, 266 S., € 16,90

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2020: An Krisen wachsen
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