„Hier spricht deine Romanfigur!“

Der Autor hat absolute Kontrolle über seine Charaktere, so denkt man. Doch je realer sie sich anfühlen, umso eher entwickeln Sie ein Eigenleben.

Fiktive Personen sind manchmal ziemlich dreist gegenüber ihren Autoren. Sie tauchen ungebeten auf, verlangen die volle Aufmerksamkeit, lassen ihren Schöpfern keine Ruhe. Das legt eine aktuelle Studie aus Großbritannien nahe. Literaturwissenschaftler und Psychologen der Durham University haben mithilfe der Veranstalter des Edinburgh International Book Festivals 181 Autoren nach ihren Erfahrungen mit ihren fiktiven Gestalten befragt. Die Schriftsteller füllten unter anderem auch einen Fragebogen aus, der anzeigen soll, ob eine Person zu Halluzinationen neigt.

Das Resultat: Die Mehrheit der Autoren hört und sieht die selbsterschaffenen Charaktere, mitsamt ihren individuellen Attributen, etwa ihrem Dialekt oder ihren Sommersprossen. Die fiktiven Gestalten entgleiten ihren Erfindern, wirken unabhängig und autonom. „Zunächst sind sie unter meiner Kontrolle – aber an dem Punkt, an dem sie sich völlig real anfühlen, wendet sich das Blatt: Ich muss ihnen folgen und hoffen, sie steuern zu können“, schrieb einer der Schriftsteller. Ein anderer gab an: „Mittlerweile plane ich meine Bücher nur zur Hälfte, weil ich weiß, dass die Gestalten mitten im Schreibprozess die Geschichte übernehmen und mein Plan eh nutzlos wird.“ Mehr als ein Drittel der Autoren berichtete, die Stimmen ihrer Charaktere auch dann noch zu hören, wenn sie sich bereits neuen Büchern zugewandt haben – manchmal sogar in einem Ausmaß, dass sie die Arbeit an der neuen Geschichte erschwerten.

„Das ganze Phänomen lässt sich als ein Ausdruck der inneren Stimme verstehen“, schreiben die Psychologen. Sie betrachten die Interaktionen zwischen den Autoren und ihrer Fiktion als eine Form jener Selbstgespräche, die die meisten von uns stumm in unseren Gedanken führen. Dabei stellen wir uns für gewöhnlich ebenfalls vor, wie andere Personen – ob real oder nicht – reagieren und was sie sagen und tun würden.

Und jene Autoren, die ihre Figuren gar nicht hörten oder sahen? Sie gingen grundsätzlich rationaler an das Schreiben heran: Sie entwarfen und strukturierten ihren Plot vorab – und bedienten sich während des Schreibens deutlich weniger ihrer Fantasie. So mieden sie Probleme mit lautstarken Protagonisten.

John Foxwell u. a.: 'I've learned I need to treat my characters like people': Varieties of agency and interaction in Writers' experiences of their Characters' Voices. Consciousness and Cognition, 79, 2020. DOI: 10.1016/j.concog.2020.102901

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2020: Meine Zeit kommt jetzt
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