Der amerikanische Blogger Dave Bruno ersann The 100 thing challenge – die Aufgabe, seine Habe auf 100 Dinge zu reduzieren. Übrig blieben unter anderem Gitarre und ein Surfbrett. Seine freiwillige Askese findet auch in Deutschland Nachahmer, die fleißig bloggend reduzieren. Minimalismus ist Kult, und seine Anhänger haben ihm bereits einen Namen gegeben: LOVOS–lifestyle of voluntary simplicity. Sie nennen sich Minimalisten, Downsizer, Simplifyer, Lifehacker, Organizer, immer geht es darum, sich im ständig…
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Organizer, immer geht es darum, sich im ständig wachsenden Überfluss auf das wirklich Notwendige zu beschränken und freiwillig einen einfacheren Lebensstil zu praktizieren. Ein Meister dieser Disziplin war, lange bevor das Bloggen erfunden wurde, Mahatma Gandhi. Der nämlich besaß, abgesehen von seinem Gewand, nur fünf Dinge: Brille, Taschenuhr, Sandalen, Teller, Schüssel. Weder annehmen noch besitzen, was man nicht wirklich zum Leben braucht, lautete sein Motto.
Nur: Wie viele Dinge sind das eigentlich – 100, 50, oder reichen doch fünf? Was, wenn sich jemand nur inmitten einer üppigen Sammlung von Tausenden Dingen wohlfühlt und bereits der Gedanke an Verzicht Stress auslöst? Wann wissen wir überhaupt, dass es genug ist oder sogar längst viel zu viel an Dingen, Wünschen, Statussymbolen? Und wie schafft man es, in dieser Situation nicht nur die Notbremse zu ziehen, sondern den Rückwärtsgang einzulegen und Überfluss wieder zu reduzieren? Für das seelische Wohlbefinden, darauf deuten Studien hin, ist dieser Versuch auf jeden Fall ein Gewinn. Sie zeigen nämlich, dass wachsender materieller Wohlstand und die immer größere Auswahl an Konsumprodukten die Psyche eher belasten und sogar überfordern, anstatt sie zu bereichern (siehe Kasten Seite 25) .
Das Hamsterrad
Marcel Hunecke ist Professor für Allgemeine und Umweltpsychologie an der FH Dortmund und forscht vor allem über Nachhaltigkeit: „Der Konsumstress addiert sich zu anderen Stressquellen in Arbeit, Freizeit und Familienleben hinzu. Überall müssen wir Entscheidungen treffen, neue Entwicklungen verarbeiten und sind ständig sozialen Vergleichen ausgesetzt. Wer ist erfolgreicher, wohlhabender, attraktiver? Dieses permanente Bewertetwerden und soziale Positionieren wird zum Hamsterrad. Und die Gruppe derjenigen, die sich davon belastet fühlt, wächst eindeutig“, berichtet Hunecke.
Menschen, vor allem in der Mitte der Gesellschaft, wollen zunehmend aus diesem Dauerstress aussteigen. Das geschieht oft krisenhaft in Form von Stresserkrankungen, Burnout und dem Gefühl völliger Überforderung. Aber zunehmend ziehen Betroffene auch die Reißleine, bevor es zum psychischen Zusammenbruch kommt: „Vor allem Personen mit hoher Reflexionsbereitschaft merken meist rechtzeitig, dass sie aus dem Hamsterrad des Immer-Mehr aussteigen müssen, und verzichten freiwillig – mit dem befriedigenden Gefühl, wenigstens in diesem Bereich endlich frei entscheiden zu können“, so Hunecke. Sie entrümpeln den Alltag und fahren ihren Konsum drastisch zurück.
Nicht wenige brauchen dabei Unterstützung. Die Nachfrage nach Aufräum- und Simplify-Coaches boomt seit einigen Jahren. Betroffene suchen Hilfe zum Beispiel bei Anja Ehlers. Die Diplompsychologin arbeitet seit vielen Jahren als Aufräumcoach. Zu dem Thema kam sie über die Beschäftigung mit dem Messiephänomen. Doch auch Nichtmessies fragen immer häufiger psychologische und praktische Unterstützung beim Aufräumen und Entrümpeln nach. „Zunehmend mehr Menschen überblicken die Masse an Dingen, die sie in ihren Wohnungen angesammelt haben, nicht mehr, haben aber das Bedürfnis, sie zu reduzieren und in eine sinnvolle Ordnung zu bringen.“ Die Klientel ist nach Alter, Bildungsstand und sozialem Status bunt gemischt, auch Akademiker sind darunter. Viele bewältigen nach Jahren intensiven Konsums die schiere Masse an Gekauftem nicht mehr. „Das sind keine Messies, aber sie haben vor der Aufgabe kapituliert, ihre Dinge zu ordnen; manche haben völlig den Überblick verloren, wo sie etwas finden können, können sich aber trotzdem nicht von Dingen trennen, aus Angst, den Verzicht später zu bereuen.“
Daily hassles
Dass dieses Zuviel an Dingen Stress auslöst, beobachtet Ehlers immer wieder. Belastend wirken die sogenannten daily hassles, kleine, fast unmerkliche Ärgernisse, Mikrostressoren, die sich täglich wiederholen: „Man findet im Chaos des Zuviel wichtige Unterlagen nicht, sucht ständig seine Schlüssel oder kann ganze Räume nicht mehr nutzen, weil sie komplett vollgestellt sind.“ Nach dem Prozess des Aufräumens und Entrümpelns sind die Betroffenen meist sehr erleichtert. „Der intensive Prozess schult das Bewusstsein dafür, was man wirklich braucht. Es motiviert, im Alltag genauer hinzuschauen, und die meisten freuen sich darauf, künftig von vornherein weniger Dinge anzusammeln und so die neu gewonnene Klarheit und Harmonie genießen zu können“, berichtet Ehlers.
Der Schritt hin zum bewussten Weniger an Besitz, Ansprüchen, Erwartungen und Statussymbolen für mehr Lebensqualität hat allerdings weitere Facetten. Anregungen findet man bei Menschen, die dieses Experiment bereits erfolgreich unternommen haben. Ein Renner auf dem Buchmarkt der letzten Jahre sind Lebensgeschichten von Autorinnen und Autoren, die dem Alltagsüberfluss den Kampf ansagten. Judith Levine, die ein Jahr lang auf Konsum verzichtete, John Lane, der seit Jahren ein einfaches Leben auf dem Land führt, oder eben der 100-Dinge-Blogger Dave Bruno ließen die Öffentlichkeit Anteil haben an ihren Selbstversuchen.
Der österreichische Schauspieler und Autor Roland Düringer setzte sich das Ziel, auf alles zu verzichten, was er in seiner Kindheit in den 1970er Jahren auch nicht besessen hat, das heißt: ein Leben ohne Handy, Kreditkarte, Fernseher, Supermärkte und Computer. So reagierte er auf das Gefühl totaler Überforderung im modernen Konsumalltag, dem er zuvor mit immer schnelleren und teureren Autos und anderen Statusprodukten erlegen war: „Dass auch ich früher immer mehr wollte, führte dazu, dass ich mich nicht mehr wohlfühlte. Ich war einfach überfordert.“ Die rasende Beschleunigung des Alltags, das „Immer-Mehr“ erlebte er als eine „vom Sinn abgekoppelte Entwicklung“. „Die Menge macht den Wert aus. Es gibt unzählige schöne Dinge, die wir uns kaputtmachen, weil wir so viel davon konsumieren, dass es langweilig wird“, moniert Düringer.
Sein neues Leben empfindet er nicht als Verzicht, sondern als Bereicherung: Nicht nur die Befreiung von Statussymbolen wie Auto oder Handy hilft dabei, selbst allgegenwärtige Genussmittel wie Kaffee schränkt er heute radikal ein: „Damit wird dieser Genuss zu etwas Besonderem. Er wird zu einem Geschmackserlebnis der besonderen Art“, erzählt er. Nachahmern rät Düringer allerdings, sich genau zu überlegen, wie und worauf man verzichten möchte, und möglichst keine fertigen Konzepte zu übernehmen: „Es geht nicht darum, dass uns jemand anderes die Regeln aufbrummt, sondern dass wir selbst gründlich entscheiden, wie wir gewisse Dinge benutzen und wie nicht.“ Nur so könne man herausfinden, was einem wirklich wichtig ist.
Eine Frage der Ressourcen
Der Journalist Leo Babauta schlug einen ähnlichen Weg radikaler Reduktion ein: „Unser Körper und unsere Psyche sind für ein langsameres Leben gemacht“, argumentiert er. „Wir leben grenzenlos und können mit dem Stress, der dadurch verursacht wird, alles tun und haben zu wollen, nicht umgehen. Das schwächt uns in so vieler Hinsicht.“ Er rät, sich bei allem Tun selbst Grenzen zu setzen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, geistige, psychische wie materielle Ressourcen bewusst und sparsam zu nutzen. Dazu müsse man sich immer wieder klarmachen, wo Ablenkung, Stressquellen und Verschwendung lauern: Singletasking statt Multitasking, Konzentration auf die Gegenwart statt auf Vergangenheit und Zukunft, das E-Mail-Postfach maximal zweimal am Tag leeren, aufmerksam essen, langsamer Auto fahren, so lauten seine praktischen Tipps. Im Blog „Zen Habits“, das mittlerweile zu den meistgelesenen der Welt zählt, hilft er mit vielen Checklisten beim Vereinfachen, Entrümpeln und Verlangsamen (siehe Seite 22) .
So einfach und spielerisch solche Experimente wirken mögen, so schwierig ist Reduktion im Alltag oft umzusetzen. Hinderlich wirkt beispielsweise, dass wir den Wert unseres Eigentums extrem schätzen, meist mehr, als es seinem tatsächlichen Wert entspricht. Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman etwa beobachtete diesen „Besitztumseffekt“, der besagt, dass wir eine Sache als deutlich wertvoller beurteilen, wenn sie uns gehört. Das macht es – neben anderen Faktoren– vielen so schwer, sich von einmal erworbenen Dingen zu trennen.
Im Sinne nachhaltiger Stressprävention lohnt sich der Versuch dennoch, raten Psychologen: „Man kann den Einzelnen in einer größeren Unabhängigkeit gegenüber materiellen Glücksversprechen fördern. Die psychischen Ressourcen dafür kennen wir, und jeder kann sie für sein eigenes Leben entwickeln, im Rahmen einer Therapie, eines Seminars, Coachings oder ganz privat für sich“, sagt Marcel Hunecke. Aus seiner Sicht führt der Weg in ein entspanntes Weniger über drei bewährte Strategien für psychisches Wohlbefinden: Hedonismus, eine Sinnperspektive und persönliche Ziele. Sie machen stark und aktivieren wichtige Ressourcen gegen die materialistischen Verlockungen der modernen Konsumwelt.
Die immateriellen Dinge
Hedonismus: Anstatt immer mehr kaufen und besitzen zu wollen, kommt es darauf an, mehr Genuss und Sinnenfreuden aus Dingen und Erlebnissen zu ziehen, rät Hunecke. Dabei helfen zum Beispiel Seminare, die die Genussfähigkeit steigern, etwa zum Thema Slow Food. „Solche Trainings tragen dazu bei, dass die Erlebnisintensität die pure Quantität konsumierter Dinge überstrahlt.“ Auch Tim Jackson, Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität von Surrey, der seit Jahren Alternativen zum Leben als Konsument erforscht, rät zu dieser Art von „alternativem Hedonismus“, bei dem Aspekte wie Gemeinsinn, zwischenmenschliche Beziehungen und Lebensqualität im Vordergrund stehen, Arbeitszeit und Konsum reduziert werden. Entsprechend zeigen Studien, dass, wer ausreichend Geld zur Verfügung hat und es unbedingt ausgeben möchte, sich dabei auf immaterielle Dinge konzentrieren sollte: Essen gehen, Theater und Konzerte besuchen, Hobbys ausleben, kurz: alles, was Genuss und schöne Erinnerungen produziert – dieser Konsum macht nachhaltig zufrieden.
Ziele: „Menschen ändern ihr Alltagsverhalten nur dann, wenn sie etwas davon haben“, stellt Hunecke außerdem fest. Da helfe es, sich Ziele zu setzen, bei deren Erreichen man positive Emotionen wie Freude und Stolz als direkten Gewinn erfährt, etwa einen Halbmarathon zu laufen oder einen Kräutergarten anzulegen. „Solche Vorhaben zu verwirklichen trägt aus Sicht der psychologischen Forschung zum Wohlbefinden bei. Eine Person darin zu stärken, eigene Ziele zu erreichen, lässt sie Selbstwirksamkeit erleben und macht über die gewachsene Selbstakzeptanz stark, dem Statuskonsum zu entkommen.“
Sinn: Gerade Ziele mit und für eine solidarische Gemeinschaft eröffnen neue Horizonte. Ob in einer Gruppe, auf spiritueller Ebene oder auf der Suche nach dem eigenen, ganz individuellen Sinn –die Konzentration auf das Erleben von Bedeutung macht immun gegen den in der Konsumgesellschaft häufig erlebten Sinnverlust. Immerhin versucht ja letztlich auch die Konsumindustrie, über ihre Produkte, deren Image und Werbung Sinn zu verkaufen. Der Achtsamkeit komme eine wichtige Scharnierfunktion zu, gibt Hunecke zu bedenken: Die Dinge annehmen zu können, wie sie sind, einen Blick für die guten kleinen Dinge des Alltag zu entwickeln, mit weniger zufrieden zu sein, all das helfe. Loslassen lernen, Konsum auf ein wohltuendes Maß zurückfahren, Dinge wieder selbst machen und sich eigene Ziele setzen – solche Aspekte sind aus psychologischer Sicht entscheidend, um Selbstwirksamkeit zu erleben. All das schafft Widerstandskraft gegen die Konsumverlockungen.
Irgendwo in diesem weiten Netzwerk psychischer Ressourcen kann jeder nach einem geeigneten Einstieg suchen und sich von dort aus systematisch in die anderen Bereiche vorarbeiten –heraus aus den Tretmühlen und Hamsterrädern.
Das Leben vereinfachen
Nehmen Sie sich ein Wochenende Zeit zum Überdenken dieser Fragen:
Was ist wichtig? Gewinnen Sie zuerst etwas Abstand und denken Sie darüber nach: Was möchten Sie wirklich tun? Mit wem möchten Sie Ihre Zeit verbringen? Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit erreichen? Stellen Sie eine Shortlist mit vier oder fünf Tätigkeiten auf, die Sie gerne verrichten.
Überprüfen Sie Ihre Verpflichtungen. Unser Leben ist häufig mit zu vielen Anforderungen vollgestopft. Wir können unmöglich alles schaffen, wozu wir uns verpflichtet fühlen, und selbst wenn es gelänge, könnten wir uns darüber nicht freuen. Das zu erkennen und klare Prioritäten zu setzen ist lebenswichtig.
Entrümpeln Sie den Tagesablauf. Stopfen Sie nicht zu viel in den Tag, bedenken Sie, dass das meiste länger braucht als im „Idealfall“. Statt sieben bis zehn wichtige Punkte zu erledigen, versuchen Sie stattdessen, drei wirklich wichtige zu schaffen (und vielleicht noch drei kleinere, wenn Sie die ersten drei abgeschlossen haben). So entschärfen Sie den Zeitdruck.
Planen Sie etwas Zeit zwischen einzelnen Aufgaben und Terminen ein. Ein verbreiteter Fehler ist der, eine Aufgabe nach der anderen zu planen. So bleibt kein Puffer, wenn etwas länger dauert als geplant (was eher die Regel als die Ausnahme ist). Planen Sie ganz bewusst Pausen ein – sie sind Zeitreserven, die Sie sicher brauchen werden. Und wenn nicht, nutzen Sie die Pausen zur Entspannung.
Jetzt können Sie das Tempo drosseln – und jede Aufgabe gelassen und konzentriert angehen. Was immer Sie tun, ob Sie zur Arbeit fahren, einen Text schreiben, duschen, die Zähne putzen oder das Abendessen kochen: Drosseln Sie das Tempo. Versuchen Sie das zu genießen, was Sie tun. Lernen Sie achtsam zu sein, statt schon an die nächste Sache zu denken. Seien Sie im jetzigen Augenblick da. Das ist nicht einfach, und Sie werden diesen Rat immer wieder vergessen. Üben Sie sich darin, die Achtsamkeit – also das volle Konzentriertsein auf das Hier und Jetzt –immer wieder zurückzuholen.
Nur eine Sache auf einmal. Machen Sie das zu Ihrem Mantra. Machen Sie nur eines auf einmal, und machen Sie es gut.
Reservieren Sie sich Zeit zum Alleinsein. Neben dem Entschleunigen und Entrümpeln des Alltags ist es wichtig, täglich ein Minimum Zeit für sich selbst zu haben –Zeit, in der Sie zu sich kommen können, sich sammeln, nachdenken, träumen oder auch nur dösen und entspannen.
Nichtstun. Manchmal ist es auch gut, einfach nichts zu tun, und zwar ohne die geringsten Schuldgefühle. Fürchten Sie sich nicht davor, gelegentlich faul zu sein.
Streuen Sie kleine Belohnungen in Ihren Alltag ein: Lieblingsmusik beim Nachhausefahren, ein warmes Bad, die ausführliche Lektüre der Humor- oder Sportseiten der Zeitung. Zu wissen, was solche kleinen Freuden für Sie sind, und ein paar davon über den Alltag zu verteilen ist die beste Antistressstrategie.
Quelle: Leo Babauta (Autor von Weniger bringt mehr. Die Kunst, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Im Riemann-Verlag als E-Book erhältlich)
Glück lässt sich nicht steigern
Mehr Besitz führt nicht zu mehr Glück und immer mehr Freizeit nicht zu sinnvollerem Tun. Wenn unsere Grundbedürfnisse erfüllt sind, stagniert die Lebenszufriedenheit
Das sogenannte Easterlin-Paradox, benannt nach einer Studie des US-Forschers Richard Easterlin, besagt, dass steigendes Einkommen nur bis zu einem bestimmten Punkt mehr Lebensglück schafft. Sind die grundlegenden Bedürfnisse erfüllt, stagniert die Glückskurve und geht dann, weiter steigendem Einkommen zum Trotz, sogar leicht zurück. So hat sich etwa in Japan das durchschnittliche Einkommen in den letzten 60 Jahren vervierfacht, das Glücksempfinden der Menschen blieb jedoch konstant. Und auch eine aktuelle Studie des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften Gesis zeigt die klaren Grenzen dieses Glücklichmachers: Die Lebenszufriedenheit durch Konsum erhöht sich nicht linear, sondern nimmt mit steigenden Ausgaben tendenziell wieder ab.
Eine Erklärung für dieses Paradox liefern Forscher um Eugenio Proto von der britischen Universität Warwick. Laut der 2013 veröffentlichten Studie liegt die Ursache für die Glücksstagnation in den Erwartungen, die das steigende Einkommen schafft: „Mit höherem Einkommen wachsen die Erwartungen an noch mehr Wohlstand. Und eine Lücke zwischen diesen Erwartungen und dem tatsächlichen Einkommen nehmen wir negativ wahr. Das mindert die Lebenszufriedenheit und verhindert den weiteren Anstieg des Glückslevels“, erklärt Proto.
Zufriedenheit und Glück lassen sich also durch wachsenden materiellen Reichtum und immer größere Konsumoptionen nicht beliebig erhöhen. Ab dem Punkt, an dem man hat, was man zum Leben braucht, schlägt die Erwartung um in Verdruss und Frustration. Proto beschreibt den Mechanismus als „Wettrennen zwischen steigenden Erwartungen und deren Realisierung“, bei dem die positiven psychischen Effekte von mehr Wohlstand letztlich auf der Strecke bleiben. Eine interessante Nebenerkenntnis der Gesis-Studie war übrigens, dass ein niedriges Konsumniveau, das nicht aus der Not geboren ist, sondern auf freiwilligem Verzicht basiert, die Zufriedenheit nicht negativ beeinflusst.
Die Psychologen Elizabeth Dunn und Jordi Quoidbach sind außerdem der Wirkung einer unbegrenzten Verfügbarkeit von Genussmitteln nachgegangen. Dafür ließen sie Gruppen von Studenten eine Woche lang entweder beliebig viel Schokolade essen oder unterzogen sie einer strikten Schokoladenabstinenz. Als die Abstinenzgruppe nach dieser Woche wieder zum ersten Mal naschen durfte, tat sie dies mit deutlich mehr Freude und Genuss. Die Übermaßgruppe dagegen war kaum noch in der Lage, ein Stück Schokolade zu genießen, und empfand dabei viel weniger Freude – der „hedonistische Gewöhnungseffekt“ dämpfte die Glücksgefühle. Zumindest phasenweiser Verzicht ist also durchaus ein Weg, um die Genussfähigkeit zu steigern.
Und nicht einmal so richtig viel Freizeit vermag uns wirklich glücklich zu machen, wie Studien zeigen. Die Psychologen Chris Manolis und James Roberts untersuchten jüngst an rund 1300 jungen Erwachsenen, wie sich eine stark materialistische, konsumorientierte Lebenseinstellung sowie ein hohes Maß an Freizeit auf Zufriedenheit und Wohlbefinden auswirken. Das Ergebnis: Beides sorgt dafür, dass man sich schlechter fühlt. Interessanterweise schmälert nicht nur zu wenig Freizeit, sondern auch zu viel davon die Lebensqualität. Ein mittleres Maß an freier Zeit dagegen sei optimal, betonen die Forscher.
Mathias Binswanger ist Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz und forscht zu Nachhaltigkeit und Glück. Auch er sieht einen engen Zusammenhang zwischen Überfluss und Überdruss: „Der moderne Mensch spart Zeit – die steckt er in die Bewältigung weiterer Strecken oder in die Auswahl aus einer überfordernden Produktfülle. Eingespannt ins Räderwerk der Wirtschaft, die ihn das Glück von materiellem Konsum systematisch überschätzen lässt, bleibt ihm verborgen: Subjektives Wohlbefinden und nachhaltiges Verhalten gehen Hand in Hand.“ Immer mehr Produkte könnten nicht immer mehr Zufriedenheit produzieren, da die enorme Auswahl sich längst zu einer „Tyrannei“ entwickelt habe. Und nicht zuletzt komme es aufgrund des Gewöhnungseffekts kaum noch zu Steigerungen des Glücksempfindens: „Was selbstverständlich ist, macht nicht mehr glücklich“, konstatiert Binswanger.
Nicht zuletzt aus solchen Gründen, aber vor allem auch mit Blick auf Umweltzerstörung und Ressourcenverbrauch diskutieren Wirtschaftsexperten das Thema Suffizienz in letzter Zeit intensiver. Wie ist Wirtschaft ohne Zwang zu weiterem Wachstum denkbar, und wie lässt sich unter den gegenwärtigen Bedingungen Suffizienz als allgemeines Ziel von Gesellschaften erreichen? Eine schwierige Frage, weiß Binswanger: „Solange nämlich die Wirtschaft grundsätzlich auf Wachstum ausgerichtet ist und ohne Wachstum in Schwierigkeiten gerät, lassen sich die Tretmühlen zwar verlangsamen, aber nicht beseitigen.“
Literatur
Marcel Hunecke: Psychologie der Nachhaltigkeit. Psychische Ressourcen für Postwachstumsgesellschaften. Oekom 2013
Roland Düringer, Clemens G. Arvay: Leb wohl, Schlaraffenland. Die Kunst des Weglassens. Edition a 2013
John Lane: Das einfache Leben. Vom Glück des Wenigen. Aurum 2012
Dave Bruno: The 100 thing challenge. How I got rid of almost everything, remade my life and regained my soul. Harper 2011
Francine Jay: The joy of less. A minimalist living guide. Anja Press 2010
Leo Babauta: The power of less. The fine art of limiting yourself to the essential in Business and in life. Hyperion 2009
Mathias Binswanger: Die Tretmühlen des Glücks. Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun? Herder 2006