Verstörend zufrieden

In seinem neuen Buch überrascht ​Martin Schröder mit kuriosen Erkenntnissen zum Lebensglück.

Wann sind Menschen wirklich zufrieden? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin hat seit Mitte der 1980er Jahre etwa 85000 Deutschen 640000 Fragen zu deren Zufriedenheit, Gesundheit, Arbeit, Freizeit, Beziehungen und Wertvorstellungen gestellt. Das Sozio-oeko­nomische Panel dürfte die größte Datensammlung zur Lebenszufriedenheit in Deutschland sein.

Der Soziologieprofessor Martin Schröder hat den riesigen Datenschatz mit viel Fleiß und Akribie ausgewertet. Sein bereicherndes und fesselndes Buch Wann sind wir wirklich zufrieden? ist ein praktischer Ratgeber auf dem neuesten Forschungsstand. Es glänzt durch wissenschaftliche Professionalität, Scharfsinn, Vielseitigkeit und Humor. Der Autor erklärt in laienverständlicher Sprache, wie er die Forschungsbefunde mit ausgeklügelter Statistik auf Einflüsse zahlreicher Störfaktoren geprüft und die wichtigsten Ursachen der Lebenszufriedenheit identifiziert hat.

So belegt Schröder die herausragende Bedeutung von Gesundheit, Schlaf, Lebensstandard, Geselligkeit und der Persönlichkeit des Partners. Dagegen erweisen sich die Einflüsse von Kindern, Enkeln, der Wohnungsgröße und Länge des Arbeitsweges als erstaunlich gering.

Kuriose Resultate

Viele Resultate sind kurios, seltsam, rätselhaft: So wirkt sich Attraktivität stärker auf die Zufriedenheit beider Geschlechter aus, wenn sie auf dem Urteil von Frauen beruht. Übergewicht macht unzufrieden, doch Abnehmen verschlimmert die Lage. Die gefühlte Freiheit eines Landes ist deutlich wichtiger für dessen mittlere Lebenszufriedenheit als das reale Maß an Demokratie.

Einige Befunde stellen eine Herausforderung für den Feminismus dar. Schröders Forschungen zufolge sind Männer und Frauen in einer Beziehung deutlich zufriedener, wenn der Mann mehr außer Haus arbeitet und die Frau mehr Zeit für Hausarbeit und Kindererziehung aufbringt. Er unterstreicht, dass dieses verstörende Muster für die feministische These spricht, dass patriarchale Geschlechtsidentitäten unser Unterbewusstes weit stärker prägen, als wir wahrhaben wollen.

Immer ein eigenes Urteil bilden

Oft bringen aufschlussreiche Details den größten Erkenntnisgewinn: Erwachsene, die als Schüler bessere Noten hatten, sind selbst ohne höheres Einkommen zufriedener. Drei bis vier Stunden Freizeit pro Wochentag sind optimal für die Zufriedenheit.

Junge Menschen werden zufriedener, wenn sie vom Land in die Stadt ziehen. Bei Senioren ist es umgekehrt.

In einem Anflug von Hochmut schreibt der Autor: „Statt endlos darüber zu philosophieren, was das richtige Leben ist, kann man es erstmals mit Daten berechnen.“ Doch er erklärt auch, warum wir uns bei großen Lebensentscheidungen stets ein eigenes Urteil bilden sollten. „Fragen Sie sich bei allen Ergebnissen, ob Sie meinen, zum Durchschnitt zu passen“, rät er. Tatsächlich belegt das Buch, dass die Wirkung aller Faktoren überaus stark von hochkomplexen Kontexten abhängt.

Schröders imposantes Pionierwerk lässt hoffen, dass uns die Wissenschaft helfen kann, die Lebenskunst der Zufriedenheit besser zu meistern.

Martin Schröder: Wann sind wir wirklich zufrieden? Überraschende Erkenntnisse zu Arbeit, Liebe, Kindern, Geld. C.Bertelsmann, München 2020, 288 S., € 20,–

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