„Ich könnte platzen vor Wut!“

Wer heftigen Ärger dauerhaft unterdrückt, gerät in Stress und belastet die Psyche. Auch ständig auszurasten ist keine Lösung. Wohin also mit der Wut?

Beim Autofahren kochen bei einigen die Emotionen über. Doch was ist der richtige Umgang? © martin-dm/Getty Images

Mai 2014. Nach Aufzeichnung der RTL-Show Let’s dance: Lilly Becker, Ehefrau von Boris Becker, randaliert nach ihrem Rausschmiss aus der Show, beschimpft erst eine Konkurrentin, dann eine Reporterin und tritt schließlich in der Damentoilette auf eine Tür ein, bis diese krachend aus dem Rahmen springt. Ein Klatschmagazin berichtet genüsslich über den Vorfall und bringt Lilly Beckers wutverzerrtes Gesicht gleich auf der Titelseite. Es sei, ganz im Vertrauen, nicht das erste Mal gewesen, dass die…

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Gesicht gleich auf der Titelseite. Es sei, ganz im Vertrauen, nicht das erste Mal gewesen, dass die Prominentengattin ausrastete, verrät das Blatt seinen Leserinnen.

November 2010. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble gibt eine Pressekonferenz über die aktuelle Steuerschätzung. Sein Sprecher muss vor der versammelten Presse verkünden, dass er es noch nicht geschafft habe, die Zahlen an die Journalisten zu verteilen. Bis heute kann man auf YouTube verfolgen, wie angesichts dieser Nachricht in seinem Chef die Wut hochkocht. Hat sich Schäuble anfangs noch recht gut unter Kontrolle und lächelt sogar, lässt er seinem Ärger nach wenigen Sekunden freien Lauf. Er weist seinen Sprecher vor laufenden Kameras scharf zurecht, klappt seine Akte zusammen und verlässt wütend die Veranstaltung.

Das neudeutsche Phänomen des „Wutbürgers“, der auf die Barrikaden steigt, sobald ihm etwas nicht passt, oder auch massenhafte Ausraster normalerweise friedliebender Autofahrer hinter dem Steuer – sie alle scheinen zu belegen, dass emotionale Ausschläge hierzulande an der Tagesordnung sind. Doch die Beispiele täuschen darüber hinweg, dass im privaten wie beruflichen Alltag auch sehr viel Ärger unterdrückt, verdrängt und verleugnet wird. Wütend zu sein und es öffentlich zu zeigen, sich dabei gar nicht mehr im Griff zu haben ist nämlich verpönt – und in den meisten Kulturen weltweit tabuisiert, ganz besonders in Asien. Wutanfälle gelten als Zeichen von Charakterschwäche und mangelnder Selbstkontrolle. Bei Kindern noch belächelt, stempeln sie Erwachsene zum Choleriker.

Die Wut und der Körper

So empfinden die meisten Menschen ein Gefühl von Peinlichkeit und Scham, nachdem sie die Contenance verloren haben. Und es bleibt leider auch gesundheitlich nicht folgenlos, wenn wir über längere Zeit hinweg nicht in der Lage sind, heftige negative Emotionen in sozial akzeptierte Bahnen zu lenken. Aber: Wut zählt nun einmal zum normalen emotionalen Repertoire jedes Menschen. Man wird sie nicht einfach los, nur weil sie unbeliebt ist. Schon Sigmund Freud warnte davor, den angeborenen Aggressionstrieb dauerhaft zu unterdrücken, denn das führe unweigerlich zu seelischen Störungen.

Dass da etwas in uns hochkocht, passiert relativ schnell. Ein Rüffel vom Chef hier, eine bissige Bemerkung der Schwiegermutter dort oder eine kleine Provokation des Partners, da wo es besonders wehtut: Der Alltag bietet tausendundeine Gelegenheit, uns auf die Palme zu bringen. Manchmal reichen schon Kleinigkeiten, um uns aus der Haut fahren zu lassen. Eine im Wohnzimmer herumliegende Socke kann das Fass zum Überlaufen bringen. Was letztlich Ärger bis hin zum Tobsuchtsanfall auslöst, ist sehr individuell. Der Effekt allerdings ist immer ähnlich: Aufschäumende Wut verleitet zu Überreaktionen, die oft postwendend noch mehr Ärger produzieren– und den Stresspegel weiter steigen lassen.

Mediziner wissen inzwischen recht genau, was in einem solchen Moment des aufbrodelnden Ärgers im Körper passiert: Wie jede Form von negativem Stress setzt Wut eine Kaskade physiologischer Reaktionen auf hormoneller wie neuronaler Ebene in Gang: Die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol werden vermehrt ausgeschüttet, Herzschlag und Blutdruck steigen, um Energie für eine Reaktion auf ein Ärgernis zu mobilisieren. Und der Blick auf das körperliche Stresssystem zeigt auch, warum es paradoxerweise nicht hilft, der Wut jetzt einfach freien Lauf zu lassen: Auch wenn wir explodieren, herumbrüllen oder Porzellan zertrümmern – die „Stressachse“ bleibt aktiv. Toben ist kein Wutableiter.

Wer permanent ausrastet, geht wegen der dauerhaft gesteigerten Produktion von Stresshormonen gesundheitliche Risiken ein. So drohen ein erhöhter Cholesterinspiegel, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zum Infarkt. Ernsthafte Gefahr droht allerdings nur dann, wenn weitere Ursachen hinzukommen, ein Wutanfall ab und zu reicht nicht aus.

„Erst im Dauerzustand wird heftige Wut zum wichtigen Faktor. Denn das führt zu einem sogenannten Hyperarousal mit einem überaktiven Sympathikus: Man ist schneller erregbar, Regeneration und Entspannung funktionieren weniger gut. Das kann längerfristig starke Muskelverspannungen, Kopfschmerz, sogar Migräne oder einen Bandscheibenvorfall auslösen. Und selbst wenn man diese heftige Emotion nicht zeigt, bleibt sie doch bestehen“, warnt Sven Barnow, Professor für Klinische Psychologie an der Universität Heidelberg. Ein Schwerpunkt seines Interesses als Forscher und Psychotherapeut liegt seit vielen Jahren auf der Regulation von Emotionen (siehe Heft 2/2014: Keine Angst vor Gefühlen!).

Niedergelassene Therapeuten, klinische Psychologen und Psychiater sind häufig mit solchen Folgen von Wut konfrontiert und erleben, welche Wege sie sich bahnen kann. Dieser Mechanismus beeinträchtigt nämlich nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Gesundheit. „Wenn irgendeine Emotion relevant ist für die Entstehung von depressiven Störungen, Ängsten, Zwängen oder Burnout, dann Ärger und Wut, die nicht mehr reguliert werden können“, sagt Barnow. Vor allem depressive Patienten unterdrücken nicht nur den Ärger selbst, sondern auch seinen Ausdruck. Das heißt, selbst wenn sie Ärger empfinden, zeigen sie ihn oft nicht.

Von Cholerikern und Frustrierten

„Es ist ja nur eine Metapher, dass man Wut herunterschlucken könne und sie dann tatsächlich verschwunden sei“, gibt auch Claas-Hinrich Lammers zu bedenken. Er ist Ärztlicher Direktor der Asklepios-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Hamburg-Nord und beobachtet ebenfalls, wie schwer sich viele Patienten im Umgang mit ihrer Wut tun. Da seien zum einen die cholerischen Typen, die permanent ausrasten und nicht in der Lage sind, ihre Wut zu kanalisieren. Vor allem Borderlinepatienten oder solche mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die leicht in Wut geraten und zu heftigen Wutanfällen neigen, müssen in der Therapie über Techniken der Stimmungskontrolle mühsam lernen, ihre Anfälle zu regulieren (siehe Heft 10/2014: Ein Leben im seelischen Extrem).

„Am anderen Ende des Spektrums stehen Patienten mit chronischer Bedürfnisfrustration. Sie erleben sehr viel unterschwelligen Ärger, der aber nicht zum Ausdruck gebracht wird“, erzählt Lammers. Bei ihnen müsse man eher an einer positiven Sicht des Ärgers arbeiten, ihnen klarmachen, dass Wut ein Ausgangspunkt sein kann für Handlungen, die langfristig die Lebenssituation verbessern. In diesen Fällen versuchen Therapeuten, erst einmal einen gesunden Ärger auf das eigene Unvermögen, Probleme zu lösen, hervorzurufen. Gemeinsam sei den meisten Wutsituationen nämlich, dass der oder die Betroffene das Gefühl hat, eine soziale Situation nicht lösen zu können (siehe Seite26: Dem Ärger auf den Grund gehen). Oft kämen eine leichte Frustrierbarkeit und zu hohe Ansprüche an sich selbst und die Umwelt hinzu. Zudem seien Menschen von Natur aus sehr unterschiedlich in ihrer emotionalen Erregbarkeit und manche eben schneller „auf 180“ als andere.

Wut immer sofort rauszulassen fühlt sich zwar im ersten Moment gut an, es entspannt und gibt ein Machtgefühl gegenüber der Person, die die Wucht des Wutausbruchs ertragen muss. Und manchmal hilft ein Ausbruch sogar, den eigenen Willen durchzusetzen oder das Gegenüber einzuschüchtern. Doch langfristig steige mit diesem Verhalten die Anzahl der Wutanfälle auf ein belastendes Maß an, warnt Lammers: „Wenn man den Dampf sofort ablässt, kommt paradoxerweise oft noch mehr Wut hoch.“ Bleibt das Stresssystem dauerhaft hochgefahren und damit die Herzfrequenz über längere Zeit zu hoch, belastet das Körper und Psyche. Auch Sven Barnow erlebt das im therapeutischen Alltag immer wieder: „Die Wut sofort enthemmt rauszulassen ist nicht unbedingt besser, denn ein cholerisches Verhalten, die massive, ungebremste Erregung ist für die Gesundheit mindestens ebenso schädlich wie die permanente Ärgerunterdrückung. Der moderate Ausdruck, das richtige Maß ist entscheidend, und das kann man durchaus lernen.“

Unterdrückte Wut

Frauen neigen nach Barnows Erfahrungen übrigens stärker zur Wutunterdrückung als Männer. Es sei durchaus kein Klischee, dass sie heftigen Zorn eher verbergen als männliche Wüteriche, die Ärger und Aggressionen stärker nach außen tragen. Frauen dagegen richten Aggressionen eher nach innen gegen sich selbst oder drücken sie subtiler aus. Zudem neigen seiner Erfahrung nach introvertierte und selbstunsichere Persönlichkeiten stärker zur Wutunterdrückung.

Überraschenderweise zeigen Studien, dass in asiatischen Kulturen, wo negative Emotionen wie Wut noch stärker tabuisiert werden als im Westen, die Menschen deutlich weniger darunter leiden, berichtet Barnow. Und er hat auch eine Erklärung parat: „Dort steht mehr die Gemeinschaft im Vordergrund, weniger das Individuum wie bei uns. Das scheint die negativen Folgen von unterdrückter Wut auf den Einzelnen abzuschwächen. Und es zeigt letztlich auch: Der Kontext einer Emotion ist immer entscheidend!“

Es macht eben nicht zwangsläufig psychisch krank, wenn man hin und wieder seinen Ärger unterdrückt. Der Mechanismus sei wesentlich komplexer und hänge von weiteren Faktoren wie genetischer Veranlagung, sozialer Umwelt und individuellen Erfahrungen ab, stellt Lammers klar fest. Die These, dass „heruntergeschluckte“ Wut zwangsläufig etwa Depressionen auslöse, hält der Psychiater für zu simpel und wissenschaftlich nicht haltbar.

Allerdings stünden dauerhaft belastende emotionale Probleme bei vielen psychischen Erkrankungen durchaus im Mittelpunkt. Dysfunktionale Bewältigungsstrategien wie Vermeiden oder Bekämpfen von Emotionen könnten letztlich zu einem manifesten psychischen Leiden führen. Leugnen und Ignorieren helfe ohnehin nicht weiter, da die Vermeidung einer problematischen Emotion zu ihrer anhaltenden Aktivierung führe. Dann ist der Sympathikus, der Alarm- und Mobilmachungsstrang des autonomen Nervensystems, dauerhaft im Vollbetrieb – mit der Folge, dass Entspannung und positive Emotionen sich nur schwer einstellen. Zudem komme es zu einem „Rebound-Effekt“, erklärt der Psychiater: Beim nächsten Wutanlass reagiert der Körper sofort mit der eingeschliffenen Stressreaktion.

Legen sich Wut, Zorn und Ärger nicht mehr von allein und können sie auch nicht mehr bewusst aus eigener Kraft heraus heruntergeregelt werden, sollte man das Problem therapeutisch angehen, um die neurobiologischen und psychischen Folgeerscheinungen zu vermeiden, raten Experten.

Wo also ansetzen? Wie gut der Einzelne in der Lage ist, Wut, Zorn und Ärger zu regulieren, hängt stark von kognitiven Prozessen in der Großhirnrinde ab, betont Lammers. Verfügt man außerdem über positive Ressourcen wie Ablenkung oder Entspannung, klappe das in der Regel gut. Bei vielen Menschen allerdings, die oft wütend werden und dann nicht in der Lage sind, das selbst wieder zu drosseln, sei in bestimmten kortikalen Arealen eine Unterfunktion zu beobachten. Das heißt, die Wut wird vom Kortex kaum kontrolliert, besänftigt, in geordnete Bahnen gelenkt. Sie bricht ungesteuert aus wie ein Vulkan.

Wut weder unterdrücken noch ungehemmt ausleben, sondern regulieren: Das sei aus neurobiologischer wie auch aus psychologischer Sicht der Königsweg im Umgang mit diesem heftigen Gefühl. „Es geht nicht darum, in jeder ärgerlichen Situation sofort Dampf abzulassen, und auch nicht darum, sich Ärger niemals anmerken zu lassen, sondern einen Ausdruck zu finden, der sozial kompetent ist“, sagt Lammers.

Ein Rahmen für den Ärger

Ärger zu empfinden sei absolut in Ordnung, das macht der Psychotherapeut seinen Patienten immer wieder deutlich. Aber man müsse dem einen Rahmen geben, der auch für jene Menschen ertragbar sei, die direkt davon betroffen sind – Familienmitglieder, Kollegen, Angestellte. Dafür gebe es im Alltag viele Wege: SMS schreiben, argumentieren, entspannen, beruhigen.

Patienten mit ernsthaften emotionalen Problemen lernen außerdem, ihre Emotionen wahrzunehmen, zu erleben und auszuhalten. Dafür üben sie Akzeptanztechniken, innere Achtsamkeit und emotionales Kompetenztraining sowie neue Verhaltensweisen in Ärger produzierenden Situationen. Bei extremen emotionalen Problemen kommen mehrere therapeutische Ansätze zum Einsatz –, im Idealfall in Kombination miteinander – unter anderem die kognitive Verhaltenstherapie, die emotionsfokussierte und die dialektisch-behaviorale Therapie.

Sven Barnow stellt in seinem Buch Gefühle im Griff! unter anderem ein achtwöchiges Trainingsprogramm zur Verbesserung der Gefühlsregulation vor. Dort wird in einem ersten Schritt die Emotionserkennung trainiert, was erfahrungsgemäß bereits dazu beitragen kann, den Stress einer hochwallenden Wutemotion abzupuffern. „Ärger erkennen und benennen zu können hilft schon ungemein“, versichert der Psychologe. Im zweiten Schritt werden dann Techniken eingeübt, um Ärger zu regulieren, ohne ausfallend zu werden. Häufiges In-Rage-Geraten habe außerdem in vielen Fällen mit biografischen Aspekten zu tun, deshalb müsse in der Therapie auch die Lebensgeschichte des Patienten herausgearbeitet werden. „Das aktuelle Wutverhalten ist nicht zuletzt der Endpunkt einer meist langen Lerngeschichte.“

Für den Alltag schlägt der Forscher kurze Atemübungen vor. „Sie beruhigen und regenerieren. Sich fünf bis zehn Minuten lang aus einer ärgerlichen Situation zurückzuziehen, die Körperprozesse wahzurnehmen, die in einem ablaufen, die ärgerliche Situation nicht zu bewerten, das hilft schon.“ Letztlich schützt übrigens bereits die Überzeugung, die eigenen Gefühle im Griff zu haben. Das zeigte vor einigen Jahren ein Forscherteam in Philadelphia um Susan Goldman: Versuchsteilnehmer, die von sich sagen konnten, dass sie ihr Gefühlsleben in der Regel gut wahrnähmen und managten, zeigten über einen längeren Beobachtungszeitraum hinweg weniger Stresssymptome wie Schlaflosigkeit oder hohen Blutdruck.

Und quasi als private Langzeittherapie empfiehlt Barnow, mit sich selbst freundlicher umzugehen, netter zu sich selbst zu sein, sich mehr zu akzeptieren, den inneren Kritiker abzustellen und allzu viele Grübeleien zu vermeiden. „Gerade Grübeleien sind bei Wut problematisch, weil man den ganzen einmal erfahrenen Ärger wieder und wieder durchlebt. Das führt meist zu keinen Lösungen, sondern verlängert das Stresserleben.“

Es gilt also offenbar, was bereits Aristoteles, wahrscheinlich begleitet von einem schweren Stoßseufzer, in seiner Nikomachischen Ethik schrieb: „Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.“ Die Arbeit an diesem Ziel lohnt aber auf jeden Fall.

„Wut ist ein wichtiger Motor für Veränderungen“

Die Psychiaterin Heidi Kastner leitet die forensische Abteilung der Landesnervenklinik in Linz. Außerdem arbeitet sie als gefragte Gerichtsgutachterin in strafrechtlichen Verfahren und erlebt dabei immer wieder die destruktiven Seiten von unterdrückter Wut. In ihrem neuen Buch Wut – Plädoyer für ein verpöntes Gefühl warnt sie vor den Folgen für die Psyche des Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt. Im Gespräch mit Psychologie Heute erklärt Kastner ihre Sicht auf diese heikle Emotion.

PSYCHOLOGIE HEUTEFrau Kastner, was hat Sie motiviert, ausgerechnet ein Buch über unterdrückte Wut zu schreiben?

HEIDI KASTNERÄrger! Ich ärgere mich darüber, wie sehr diese Emotion in unserer Gesellschaft tabuisiert und an den Rand gedrängt wird. Sie wird negiert. Wir leben in einem engen Korsett von Gefühlsäußerungen. Man darf nicht wütend sein, weil ja alles angeblich immer besser wird. Uns wird suggeriert, dass negative Emotionen gar nicht mehr vorhanden seien, und wir stempeln wütende Menschen zu ungehobelten Primitivlingen ab. Diese Empfindsamkeit gegenüber dem starken Gefühl Wut produziert eine emotionale Überforderung. Aber wir haben nun einmal negative Emotionen, sie sind Teil der Conditio humana, und es braucht einen Rahmen, in dem sie ausgelebt werden können.

PHUnd wenn das nicht geschieht?

KASTNERUnterdrückte Wut sucht sich immer andere Ventile, wie psychosomatische Erkrankungen, chronisches Gekränktsein oder Zynismus. Und im schlimmsten Fall droht die emotionale Entladung in massiven Affektdelikten, also unkontrollierten Wutausbrüchen, bei denen wie im Rausch Sachen oder andere Personen geschädigt werden. Das reicht bis hin zum Totschlag im Affekt. Die Angeklagten sagen dann später vor Gericht oft: „Keine Ahnung, warum ich das gemacht habe.“ Aber es hat sich in den meisten Fällen über Jahre hinweg zusammengebraut und kommt nur scheinbar wie aus heiterem Himmel.

PHWie lässt sich dem therapeutisch begegnen?

KASTNERMan muss die Menschen wieder dahin führen, dass sie ihre negativen Emotionen überhaupt bewusst wahrnehmen, und man muss ihnen vermitteln, dass Wut auch lebbar sein kann. Dafür müssen wir die Wut wieder mehr ins Alltagsleben integrieren. Therapeuten sollten ihren Patienten vermitteln, dass Wut uns Wichtiges über uns selbst mitteilt.

PHWie kann diese Form von „konstruktiver“ Wut aussehen?

KASTNERWut ist etwas sehr Lebendiges. Wer sie ständig unterdrückt, verhindert Veränderungen, denn sie ist oft ein Hinweis auf Dinge, die in unserem Leben schieflaufen. Man kann sie nutzen, um dringende Veränderungen anzugehen. Wer etwa permanent über seinen Chef in Rage gerät, kann diese Wut nutzen und sich einen anderen Job suchen, anstatt in der ungesunden Situation zu verharren und immer wieder nur seine Emotionen wegzuschieben.

PHDie Tabuisierung von Wut schützt ja andererseits die Gesellschaft vor Aggressionen. Wo verläuft da die Grenze?

KASTNERNatürlich braucht es Grenzen, bis wohin man seine Wut ausleben darf, niemand darf durch einen Wutanfall geschädigt werden. Aber es ist ja andererseits auch noch niemand gestorben, nur weil er mal angebrüllt wurde.

Literatur

  • Heidi Kastner: Wut. Plädoyer für ein verpöntes Gefühl. Kremayr & Scheriau, Wien 2014

  • Udo Baer, Gabriele Frick-Baer: Der kleine Ärger und die große Wut. Beltz, Weinheim 2014

  • Sven Barnow: Gefühle im Griff! Wozu man Emotionen braucht und wie man sie reguliert. Springer, Heidelberg 2013

  • Claas-Hinrich Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie: Grundlagen, Strategien und Techniken. Schattauer, Stuttgart 2011

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2014: Ärger!