Wie reagieren Sie, wenn Ihre Kollegin Ihnen anbietet, etwas für Sie zu erledigen? Freuen Sie sich? Lächeln Sie und sagen: „Das ist aber nett von dir, das entlastet mich sehr. Vielen Dank!“, und genießen das gute Gefühl, dass jemand Ihre Arbeitslast bemerkt und Ihnen den Tag aufhellt? Oder wehren Sie freundlich, aber bestimmt ab: „Danke, nicht nötig, ich schaff das schon.“ Werden Sie vielleicht sogar misstrauisch? „Die denkt wohl, ich krieg das nicht allein geregelt. Will sie etwa den Urlaub mit mir…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
tauschen?“
Wenn Sie bei Unterstützungsangeboten routiniert abwinken, fühlen Sie sich vielleicht auch unbehaglich, wenn Sie ein größeres Geschenk bekommen – Sie denken: „Das habe ich nicht verdient. Das kann ich nicht annehmen.“ Wahrscheinlich sind Sie dann auch gut darin, Komplimente über Ihr Aussehen an sich abprallen zu lassen, statt sich einfach darüber zu freuen.
Wenn wir Fürsorge ablehnen
Der amerikanische Psychotherapeut John Amodeo findet es erschreckend, dass wir im Laufe unseres Lebens so viele Strategien entwickeln, Fürsorge von anderen abzuwehren. „Ich arbeite seit 40 Jahren als Therapeut, und es macht mich traurig zu sehen, wie viele meiner Patienten die Freundlichkeit, die ihnen täglich angeboten wird, nicht annehmen können.“
Viele haben, vermutet er, die christliche Überzeugung verinnerlicht, Geben sei seliger als Nehmen. Dieses ethische Prinzip bewahrt uns davor, allzu egoistisch zu werden und stets nur auf unseren eigenen Vorteil zu schielen. Doch die Kehrseite birgt ebenfalls Risiken: „Tiefsitzende Blockaden beim Nehmen und Empfangen machen es uns schwer, das Gute und die Hilfsangebote von anderen zu genießen, und hindern uns daran, Verbundenheit und Nähe zu erfahren“, schreibt Amodeo in einem Blog auf Psychology Today. Darin nennt er fünf Gründe, die uns davon abhalten, Hilfsangebote, Geschenke und Gefälligkeiten anzunehmen.
1. Abwehr von Intimität und Nähe
Wenn wir ein Geschenk oder ein Hilfsangebot annehmen, öffnen wir uns und machen uns verletzlich. Wir zeigen, dass wir Unterstützung brauchen und berührt sind, wenn wir sie erhalten. Um etwas anzunehmen, müssen wir uns öffnen und empfänglich werden. Das fällt vielen schwer. Wenn wir etwas von jemandem bekommen – sei es Hilfe beim Umzug, ein besonders schönes Geschenk, eine Empfehlung als Türöffner bei einem neuen Arbeitgeber –, entsteht eine tiefere Verbindung. Aus Angst, dass der Mensch, dem wir uns gerade nahe fühlen, uns irgendwann zurückweisen oder verlassen könnte, verzichten wir lieber auf das Angebot.
Meist sind es unbewusste Glaubenssätze, die es uns schwermachen, uns für Unterstützung zu öffnen: „Wer von klein auf gelernt hat, die Zähne zusammenzubeißen, wird es als Schwäche empfinden, um Hilfe zu bitten“, sagt Katharina Tempel, Autorin des Buches Gib dir die Liebe, die du verdienst. „Menschen, die in schwierigen Situationen die Erfahrung machen mussten, dass niemand für sie da war, können zu der Überzeugung kommen, alles allein schaffen zu müssen, und lehnen deshalb Unterstützung ab“, so die Berliner Psychologin.
John Amodeo hat beobachtet, dass viele seiner Patientinnen und Patienten, die sich damit schwertun, um Hilfe zu bitten, als Kinder oder Jugendliche erlebt haben, dass ihre Wünsche zurückgewiesen oder sogar lächerlich gemacht wurden: „Wenn wir den Eindruck gewonnen haben, dass es gefährlich ist, um etwas zu bitten, schützen wir uns und zeigen nicht mehr, was wir brauchen oder uns wünschen. Das Tragische daran: Wir schützen uns vielleicht erfolgreich vor Enttäuschung, aber wir zahlen einen hohen Preis dafür. Wir fühlen uns abgeschnitten und isoliert von anderen. Doch wir brauchen Verbundenheit und verhindern sie durch unsere Abwehrmuster.“
2. Angst vor Kontrollverlust
Angebote von anderen abzulehnen ermöglicht uns, die Kontrolle zu behalten. Deshalb fühlen wir uns oft wohler in der Rolle des Gebenden. So behalten wir das Heft in der Hand und können uns gut fühlen, weil wir großzügig sind und einer ethischen Norm entsprechen. Geben hat einen guten Ruf, damit können wir auch unser Selbstbild aufpolieren, uns edel, hilfreich und gut fühlen. Etwas anzunehmen bedeutet, loszulassen, empfänglich und offen zu werden. Wir wissen nicht, was dann mit uns passiert.
Vielleicht brechen wir vor Rührung in Tränen aus, weil jemand etwas für uns tut, womit wir nicht gerechnet hatten. Diese Blöße wollen wir uns nicht geben. Also bleiben wir lieber auf der scheinbar sicheren Seite und antworten reflexartig „Nicht nötig“ oder „Nein danke“, um so schnell wie möglich das unangenehme Gefühl der Beschämung loszuwerden.
Die gesellschaftlichen Ideale, denen wir folgen, unterstützen diese Abwehrmechanismen: „Sei einzigartig.“ „Sei stark.“ „Sei unabhängig.“ So lauten die Imperative unserer westlichen Kultur. Tatsächlich sind wir aber aufeinander angewiesen. Niemand ist Robinson Crusoe. „Viele glauben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, wenn sie sich verletzlich fühlen, allein nicht mehr weiterwissen, an eine Grenze kommen“, meint John Amodeo. Sie prallen an eine Mauer aus Scham und entwickeln Vermeidungsstrategien.
3. Sorge, dass an jedes Geschenk eine Bedingung geknüpft ist
Manche Menschen fühlen sich bei einem Gefallen unwohl, weil sie als Kind die Erfahrung gemacht haben, dass Komplimente immer an Bedingungen geknüpft waren. Wenn die Eltern nur nett waren, wenn man gute Noten nach Hause brachte oder beim Gokartrennen siegte, kann sich die Überzeugung entwickeln: Ich bin nur liebenswert und bekomme nur etwas, wenn ich erfolgreich bin.
„Etwas zu bekommen hat dann immer einen seltsamen Beigeschmack und bleibt verbunden mit einem inneren Druck“, erklärt John Amodeo. Wenn Kinder zu narzisstischen Projekten ihrer Eltern werden, wenn sie erreichen sollen, was der Vater oder die Mutter nicht geschafft hat, kann ein Misstrauen gegenüber Komplimenten entstehen. Man setzt sie dann gleich mit „ausgenutzt werden“.
4. Die Überzeugung, empfangen sei egoistisch
Auch wenn wir in einem Zeitalter leben, in dem jeder aufgerufen zu sein scheint, Erfolge, Statussymbole und beeindruckende Fotos in sozialen Medien zu teilen, gilt gleichzeitig die Maxime, zurückhaltend zu bleiben und nicht zu viel Raum einzunehmen. Ein verinnerlichtes Bescheidenheitsgebot kann uns ebenfalls Schwierigkeiten bereiten, etwas anzunehmen. Wir sind dann peinlich berührt, weil wir in den Augen der anderen als egoistisch dastehen könnten. Um uns über Hilfsangebote und andere Freundlichkeiten freuen zu können, benötigen wir das Gefühl, in Ordnung zu sein, so wie wir sind, und die innere Erlaubnis, Freundlichkeit und Fürsorge verdient zu haben.
Dabei spielt Scham eine entscheidende Rolle. „Wenn unsere zentralen Bedürfnisse als Kind nicht ausreichend erfüllt werden, entwickeln wir Scham und entsprechende Überlebensstrategien“, schreiben die Psychotherapeutin Angelika Doerne und der Traumatherapeut Laurence Heller in ihrem Buch Befreiung von Scham und Schuld. Doerne und Heller unterscheiden fünf verschiedene Überlebensstile, zu denen jeweils mit Scham besetzte Überzeugungen gehören.
Wenn die Eltern sich nicht einfühlen konnten und unser Bedürfnis nach Eigenständigkeit in der Kindheit nicht ausreichend erfüllt wurde, können beispielsweise die Überzeugungen entstehen: „Ich habe es nicht verdient, dass meine Wünsche unterstützt werden.“ „Andere Menschen gehen vor und sind wichtiger als ich.“ „Ich kann viel tragen und aushalten.“ „Für andere nehme ich mich gerne zurück.“ Diese Überzeugungen machen es schwer bis unmöglich, sich bedürftig zu zeigen, und bringen uns dazu, unbewusst die emotionale Unterstützung abzuwehren, nach der wir uns sehnen.
Ausbruch aus dem Teufelskreis
„Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl neigen dazu, keine Hilfe in Anspruch zu nehmen“, beobachtet Psychologin Katharina Tempel. „Weil sie sich selbst und ihre Fähigkeiten stets für unzureichend halten, versuchen sie, ihre Grenzen nach außen zu verbergen.“ So kann ein Teufelskreis entstehen.
Tempel erlebt in ihrer Praxis immer wieder, wie groß für viele die Hürde ist, sich Hilfe zu holen. „Sie sind erschöpft, verzweifelt, manche trauen sich vor lauter Ängsten kaum noch aus dem Haus. Wenn sie dann endlich den ersten Schritt tun, einen Termin vereinbaren und merken, wie gut es tut, über die Probleme zu reden, lösen sich oft auch Vorbehalte auf, sich Freunden gegenüber zu offenbaren und um Unterstützung zu bitten.“
5. Der Druck, etwas zurückgeben zu müssen
Eine weitere innere Hürde kann ein selbstauferlegter Druck sein, jeden Gefallen sofort erwidern zu müssen, oder die Sorge, ein Gefallen könne ein Manipulationsversuch sein. Wer als Kind abgewertet, beschämt, manipuliert oder kontrolliert wurde, wird misstrauisch und will sich auf keinen Fall schwach zeigen, aus der Angst heraus, verletzt zu werden. Auch gutgemeinte Angebote können dann an der Schutzmauer abprallen. Wieso empfiehlt mich die Bekannte ihrer Chefin? Was muss ich im Gegenzug dafür geben? Warum will mein Nachbar mir die Einkaufstasche hochtragen? Will er mich anmachen?
John Amodeo rät, nicht zu viel nachzudenken, sondern in Betracht zu ziehen, dass jemand uns schlicht mag und etwas Nettes für uns tun möchte. „Wir müssen Stärke ganz neu definieren“, so Amodeo. Wahre Stärke bestehe darin, sich verletzlich zu zeigen, offen zu sein statt rigide und abgegrenzt. Es brauche Mut, durchlässig zu werden. Nur so können wir spüren, dass es guttut, etwas anzunehmen.
Schüchternheit als Türöffner
Doch wie befreien wir uns von unseren Abwehrmustern? Der erste Schritt ist die Entscheidung, das innere Programm zu verändern und in kleinen Etappen etwas Neues auszuprobieren. Zum Beispiel „Das ist aber nett, ja gerne“ sagen, wenn jemand anbietet, für uns einzukaufen. Beim nächsten Kompliment tief durchatmen, lächeln und sagen: „Das fühlt sich so gut an, danke.“ Den Kollegen bitten, eine Aufgabe zu übernehmen.
„Vielleicht fühlen wir uns anfangs etwas schüchtern, wenn wir jemanden um einen Gefallen bitten. Doch an Schüchternheit ist nichts verkehrt. Sie kann ein Türöffner sein für Nähe und Verbindung. Ich rate meinen Patienten: Trauen Sie sich, auf schüchterne Weise um etwas zu bitten“, rät Amodeo. Er empfiehlt, mit einer kleinen Bitte zu beginnen und einfach zu fragen. „Wenn wir kein Risiko eingehen, können wir nicht positiv überrascht werden. Vielleicht fühlen andere sich geehrt oder sind froh, uns endlich einen Gefallen zu tun.“
Es macht allerdings einen Unterschied, ob wir privat oder im Beruf nach Unterstützung fragen. Die Freundinnen und Bekannte um Hilfe zu bitten ist weniger riskant. Wir dürfen Schwächen zeigen, müssen nicht befürchten, dass unser Selbstbild beschädigt wird, und können uns darauf verlassen, dass die beste Freundin ehrlich sagt, wenn es ihr zu viel ist, beim Umzug zu helfen.
Ausbalancieren
Wie tragfähig berufliche Beziehungen sind und was sich Kollegen und Vorgesetzten zumuten lässt, ist schon schwieriger einzuschätzen. Da ist zum Beispiel der junge Anwalt, der den Job in seiner Traumkanzlei bekommen hat und mit seinem ersten Mandat überfordert ist. Soll er zugeben, was er alles nicht weiß? Wie kommt es bei seiner Chefin an, wenn er zu viele Fragen stellt?
Im Beruf um Hilfe zu bitten ist ein Balanceakt. Einerseits ist es wichtig, sich nicht vorschnell den Stempel „nicht kompetent genug“ oder „schnell überfordert“ aufdrücken zu lassen. Andererseits muss, wer aus falschem Stolz zu spät um Unterstützung bittet, sich wahrscheinlich anhören: „Warum haben Sie uns nicht früher gesagt, dass diese Aufgabe eine Nummer zu groß ist? Wir hätten Ihnen jemand an die Seite gestellt.“
Um Hilfe zu bitten werde in einer Welt, in der jeder perfekt sein muss, schnell zu einem Eingeständnis, dass man nicht mehr mithalten kann, schreibt der Kommunikationsberater Jochen Mai in seinem Blog Karrierebibel. Doch diese Haltung könne auf Dauer anstrengend werden. „Machen Sie sich klar, dass es ein Zeichen von Selbstbewusstsein und einem klaren Selbstbild ist, wenn Sie um Hilfe bitten“, rät Jochen Mai.
Wer neu auf einer Stelle ist und in einem hochkonkurrenten Umfeld arbeitet, tut gut daran, erst mal ein Gefühl für die Unternehmenskultur zu entwickeln, und wendet sich mit Fragen zunächst besser an Kolleginnen und Kollegen auf derselben Hierarchieebene, um Sicherheit zu gewinnen.
Eine Frage der Unternehmenskultur
Der Organisationspsychologe Adam Grant hält es für wichtig, Unternehmenskulturen aufzubauen, in denen man gerne um Hilfe bittet und es normal ist, Fragen zu stellen. Die Organisationen und Unternehmen, in denen die Mitarbeiter ihr berufliches Wissen häufig teilen und sich gegenseitig helfen, schneiden laut Grant bei Kundenzufriedenheit, Gewinnen und Mitarbeiterbindung besser ab.
Grant befragte 30000 Menschen aus verschiedenen Kulturen und Branchen zu Geben und Nehmen und destillierte drei Typen heraus: Geber, Nehmer und Tauscher. Die meisten Menschen sind genau in der Mitte. Das heißt, sie versuchen, Geben und Nehmen im Gleichgewicht zu halten. Erfolgreiche Geber, die gerne etwas für andere tun, ohne sich dabei über die Maßen zu verausgaben, haben auch Nehmerqualitäten, fand Grant heraus. Sie geben nicht nur, sondern sind auch bereit zu empfangen.
Beide Seiten profitieren
Geben und Nehmen auszubalancieren ist wichtig für unser seelisches Wohlbefinden und für lebendige Beziehungen. Wenn wir die Freundlichkeiten von anderen abwehren, machen wir uns nicht klar, dass wir damit auch die anderen vor den Kopf stoßen.
„Welchen Wert habe ich in einer Freundschaft, wenn ich nie etwas für den anderen tun kann? Dann kann ich offensichtlich nichts bewirken in seinem Leben. Das fühlt sich nicht gut an“, so John Amodeo. Es ist also nicht nur für uns selbst gut, wenn wir lernen, empfänglicher zu werden, sondern auch für die Menschen in unserem nahen Umfeld. Höchste Zeit, ein neues Gebot zu entwickeln: Geben ist selig, Nehmen auch.
„Wie ich lernte, Hilfe anzunehmen“
Ich habe früh gelernt, dass ich mich um alles allein kümmern muss. Mich hat niemand ermutigt, geschweige denn mir Hilfe angeboten. Egal was ich vorhatte, meine Eltern haben immer nur die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. „Was, du willst ausziehen und studieren? Wie willst du das denn schaffen?“ Ich wollte ihnen und mir beweisen, dass ich es doch schaffe. Ich bin vom Land in die Großstadt gezogen, wo ich niemanden kannte, habe mir eine Wohnung organisiert, das Abitur nachgemacht, einen Studienplatz ergattert. Ich habe mich durchgekämpft. Mir ist viel gelungen, darauf bin ich stolz, aber ich habe auch einen hohen Preis dafür bezahlt. Ich habe von mir erwartet, alles allein zu schaffen. Wenn mir jemand Hilfe anbot, habe ich dankend abgelehnt. „Nicht nötig, ich komme schon klar.“ Dieses Programm lief vollautomatisch in mir ab. „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner.“ Das war meine tiefste Überzeugung.
Als ich meinen Mann kennenlernte, erfuhr ich zum ersten Mal, wie entlas-tend es ist, nicht alles allein zu machen. Er machte mir Mut, unterstützte mich bei meinen Plänen, half mir, mich durch schwierige Papiere durchzuwühlen. Das tat so gut. Endlich konnte ich mal Kontrolle abgeben, mich fallenlassen. Dann wurde er schwer krank. Wieder musste ich alles allein regeln. Anfangs war ich völlig überfordert und gleichzeitig unfähig, um Hilfe zu bitten. Ich wollte niemandem zur Last fallen und wusste nicht, wen ich um Rat fragen sollte. Doch es ging nicht mehr. Meine „Ich brauche nichts und komme allein klar“-Fassade brach zusammen.
Eine Freundin empfahl mir, zum Krisendienst zu gehen, wo man in psychischen Krisen Notfallhilfe bekommt. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es eine solche Einrichtung in vielen Städten gibt. Beim ersten Mal fühlte ich mich wie eine Versagerin. Aber dann fand ich es unglaublich entlastend. Ich konnte immer ohne Voranmeldung hingehen und mir den Stress von der Seele reden. Diese Erfahrung hat mich gestärkt. Nach und nach wurde ich mutiger. Ich bat meine Vorgesetzte, mich aus einem Projekt, das mich zu viel Kraft kostete, abzuziehen. Vor dem Gespräch hatte ich schlaflose Nächte. Sie war sofort einverstanden und bot noch mehr Unterstützung an. Ich fragte Freundinnen: „Können wir heute Abend zusammen kochen, ich fühle mich so allein?“ So ein Satz wäre mir vorher nicht über die Lippen gekommen. Zu meinem Erstaunen waren manche sogar froh über meine Bitte. Eine sagte: „Endlich kann ich mal was für dich tun.“
Eine andere, von der ich es nie gedacht hätte, erzählte mir, dass sie sich auch oft einsam fühlt. Daraus sind regelmäßige Kochabende entstanden. Als mein Nachbar mich fragte, warum ich so schlecht aussehe und ob er etwas für mich tun könne, nahm ich all meinen Mut zusammen und bat ihn, mir die schweren Blumentöpfe vom Balkon ins Treppenhaus zu tragen. Er reparierte dann auch gleich noch den Abfluss und half mir mit einem Fragebogen der Rentenversicherung. Ich bin froh, dass ich meine Angst, um Hilfe zu bitten, überwunden habe. Es entsteht so viel mehr Nähe, wenn ich anderen erlaube, etwas für mich zu tun. Und ich habe erkannt, wer wirklich für mich da ist und wer nicht.
Sabine Bruch, 58 (Name von der Redaktion geändert)
Nehmerqualitäten stärken
Kleines Forschungsexperiment
Wenn Ihnen das nächste Mal jemand etwas Nettes anbietet, nehmen Sie sich einen Moment Zeit. Spüren Sie nach, wie es sich anfühlt. Was passiert in Ihrem Körper? Fließt Ihr Atem entspannt und frei? Ist Ihr Bauch weich und entspannt oder zieht sich etwas in Ihnen zusammen? Tauchen vielleicht Gedanken auf oder Botschaften aus der Kindheit wie „Das hast du nicht verdient“? Registrieren Sie alle Reaktionen, ohne sie zu bewerten. Experimentieren Sie damit, innerlich etwas mehr Raum zu schaffen und großzügiger zu sein. Versuchen Sie, etwas weicher und entspannter zu werden.
Schreibimpuls
Stellen Sie sich den Timer auf 20 Minuten. Schreiben Sie, ohne nachzudenken und am besten mit der Hand, spontan drauflos: „Geschenke annehmen,…“ Was fällt Ihnen dazu ein? Achten Sie weder auf Grammatik noch auf Rechtschreibung. Setzen Sie den Stift nicht ab, schreiben Sie möglichst ohne Pause, bis der Timer ertönt.
Eine negative Botschaft erkunden
Wählen Sie eine Botschaft aus, die Sie unbewusst von Ihren Eltern übernommen haben und die Sie daran hindert, Hilfe anzunehmen. Welche Gefühle tauchen auf? Wie reagiert Ihr Körper? Wie hat Ihnen diese Überzeugung als Kind geholfen? Welchen Preis zahlen Sie nun dafür? Wie fühlt es sich an, diese Botschaft loszulassen? Stellen Sie sich vor, Sie sind frei davon. Was nehmen Sie in Ihrem Körper wahr? Wie würden Sie Ihr Leben leben? Was würden Sie sich jetzt erlauben?
Literatur
Blog von John Amodeo
Laurence Heller, Angelika Doerne: Befreiung von Scham und Schuld. Kösel, München 2020
Adam Grant: Geben und Nehmen. Droemer, München 2016
Katharina Tempel: Gib dir die Liebe, die du verdienst. Gräfe und Unzer, München 2019