Was sehen Sie hier, Rike Schmid?

Ein Bild, zwei Fragen: Jeden Monat zeigen wir prominenten Menschen ein Bild und bitten sie, die Szene zu deuten.

Das Gemälde zeigt ein Mädchen, dass mit einem rosa Kissen seinen Hände und Kopf auf einem Gartenzaun gelegt hat und verträumt in den grünen Blätterwald schaut
Was sehen Sie hier, Rike Schmid? © Andrea Ventura

„Ida ist überglücklich. Heute, an ihrem 15. Geburtstag, haben ihre Eltern endlich zugesagt, dass sie nach der 10. Klasse ein Auslandsjahr in Kanada machen darf. Seit sie eine Dokumentation über das Land und seine Natur gesehen hat, möchte sie unbedingt dorthin. Ida liebt den Wald unweit ihres Elternhauses, das Vogelgezwitscher und die geheimnisvollen dunklen Tannen, das Gekreuch auf dem Waldboden, die feuchten Blätter und das Moos unter ihren nackten Füßen. Und sie will noch viel größere Wälder sehen, so wie die in Kanada.

Nach dem Geburtstagsfrühstück ist sie gleich auf ihr Baumhaus im Garten geklettert und gibt sich ihren Träumen hin. Was für ein aufregendes Erlebnis ihr nun bald bevorsteht! Die Blätter des Ahorns rascheln im Wind, als würden sie ihr gut zuflüstern. Schon immer fühlte sich Ida unter Bäumen wohler als unter Menschen. „He Schwesterlein, guck doch mal!“, ruft Josh vom Rasen aus. Als er auf den Auslöser seiner Kamera drückt, wirft sie ihm nur einen kurzen Blick zu. Diese Reise wird sie verändern, das spürt sie. Und die Kraft, die in ihr wächst, die spürt sie auch. Wie ein Baum, der sich zum Himmel reckt.

Das Foto wird Ida erst viele Jahre später begegnen, als sie bei einem Besuch in der alten Heimat durch Familienalben blättert. Inzwischen ist sie eine gefragte Botanikerin, jagt von Kongress zu Kongress. Doch als sie nun das Bild sieht, schaltet sie ihr Handy aus, spaziert in den Wald und atmet seinen Duft und seine Stille ein.“

Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?

„Schon als Kind suchte ich häufig die Nähe zu Natur. Wenn mir alles zu viel wurde, packte ich ein Käsebrot und eine Wolldecke ein und verkündete: Ich wandere aus, Mama. Dann ging es zum Feld am Ende unserer Straße. Dort habe ich mich auf die Decke gelegt, in die Wolken geschaut, dem Zirpen in den Gräsern zugehört und mich wieder verbunden gefühlt mit mir und der Welt. Bis heute sind solch stille Momente mein Kraftzentrum.“

Rike Schmid, diplomierte ­Soziologin, ist Schauspielerin und Autorin. Demnächst wird sie in dem Film Die Schule der magischen ­Tiere zu sehen sein, der im Oktober in die Kinos kommt.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2021: Zeit finden
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